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Amerika - die Zukunft

Peter Carey begibt sich mit seinem neuen Buch auf die Spuren von Alexis de Tocqueville. Er schickt darin den französischen Adligen Olivier und dessen Diener Parrot in die Neue Welt und lässt die beiden neben vielem anderen das klassische Herr-und-Knecht-Verhältnis erleben.

Von Sacha Verna | 11.01.2011
    Sacha Verna: Sie haben Ihren neuen Roman "Parrot und Olivier in Amerika" eine "Improvisation" auf Alexis de Tocquevilles monumentale Studie "Demokratie in Amerika" genannt. Der französische Aristokrat beschrieb darin die Verhältnisse, die er während einer neunmonatigen Reise zwischen 1830 und 1831 in den damals noch kaum vereinigten Staaten vorfand. Wann haben Sie Tocqueville zum ersten Mal gelesen?

    Peter Carey: Ich kann mich nicht genau erinnern, aber es war erst vor Kurzem, sagen wir, irgendwann in den letzten vier Jahren. Ich las ihn, weil ich so oft Zitate von ihm gelesen hatte. Es waren stets Zitate gewesen, in denen sich Tocqueville positiv über Amerika äußerte. Ich hatte immer schon der Verdacht, dass Tocqueville, obwohl er davon begeistert war, ein weitaus differenzierteres Bild des Landes und der Leute zeichnete, die er hier kennenlernte. Und tatsächlich: Viele Eigenschaften der amerikanischen Demokratie, die mich heute beängstigen, hat er bereits vorausgesehen.

    Verna: Was zum Beispiel?

    Carey: Ich denke besonders an das, was wir salopp die Verdummung der Kultur nennen können, und auch an das, was er als die "Tyrannei der Mehrheit" bezeichnete. Anders gesagt und verkürzt gesagt: Sie können Alexis de Tocqueville lesen und George Bush und Sarah Palin darin sehen. Und Sie könnten seine Bedenken sehen, was Kunst und Kultur betrifft, und darin das kulturelle Umfeld erkennen, in dem wir heute in den Vereinigten Staaten leben.

    Verna: "Parrot und Olivier in Amerika" ist aber alles andere als ein plumper Amerika-Verriss im Stickwesten- und Schnallenschuhkostüm. Sie schicken darin den Tocqueville nachempfundenen französischen Adligen Olivier und dessen Diener Parrot in die Neue Welt und lassen die beiden neben vielem anderen das klassische Herr-und-Knecht-Verhältnis erleben. Olivier sieht in Amerika die Zukunft und das Ende seiner Klasse. Parrot sieht darin die Zukunft und die Freiheit.

    Carey: Ich begann an ein Buch zu denken, das eine Art Streitgespräch darstellte, in dem keine der Figuren, die Olivier und Parrot werden würden, ganz recht hat. Es sollte zu keinem klaren Schluss kommen, sondern aus dem Für und Wider bestehen, das diese beiden Figuren ausdrücken.

    Verna: Sie sind gebürtiger Australier und leben seit 20 Jahren in New York. Dies Ihr erster Roman, der von Amerika handelt. Was hat Sie so lange davon abgehalten, Amerika zum literarischen Schauplatz zu machen?

    Carey: Ich dachte jahrelang, ich könnte das einfach nicht, das sei Betrügerei. Ich habe einmal versucht, einen amerikanischen Roman zu schreiben und nach zwei Monaten aufgegeben. Dass es mir mit "Parrot und Olivier" jetzt möglich war, hat verschiedene Gründe. Einer davon ist "Klasse". Ein zentrales Thema dieses Romans ist Klasse. Und davon verstehe ich etwas. Ich stamme aus einem australischen Arbeiterstädtchen, wurde aber auf ein feines englisches Internat geschickt. Dort habe ich früh eine Menge über Klassenunterschiede gelernt. Außerdem sind Parrot und Olivier beide Ausländer – wie ich. Also dachte ich, wie ein Ausländer über Amerika schreiben, das kann ich.

    Verna: Dies ist nicht Ihr erster historischer Roman. Was macht die Vergangenheit in Ihren Augen literarisch zu einer so attraktiven Folie für die Gegenwart?

    Carey: Denken Sie an all die Leute in Manhattan, die sich in diesem Augenblick zu ihrem Zwei-Uhr-Termin bei ihrem Psychiater einfinden. Stellen Sie sich vor, wie sie sich auf die Couch legen oder hinsetzen und über ihre Kindheit reden, weil sie sich davon Aufschlüsse über ihren gegenwärtigen Zustand versprechen. Mir erscheint diese Methode durchaus sinnvoll, auch für die Gesellschaft als Ganzes - dass man versucht, mithilfe der Vergangenheit die Gegenwart zu verstehen. Wenn ich Geschichtsbücher lese, erkenne ich darin stets die Gegenwart und finde das faszinierend. Außerdem macht es mir Spaß, mit historischen Fakten zu spielen. All das gefällt mir und es fühlt sich ein bisschen gefährlich an.

    Verna: Es gibt Schriftsteller, die scheinen dasselbe Buch wieder und wieder zu schreiben – was nichts Schlechtes sein muss. Sie hingegen haben in jedem Ihrer bisher elf Romane eine vollkommen neue Welt erschaffen und sind von Ort zu Ort, von Epoche zu Epoche, von Gattung zu Gattung gehüpft. Was macht Sie zu einem solchen Hans-Dampf-in-allen-Gassen?

    Carey: Man tut nur, was man kann. Tatsache ist, dass die meisten meiner Bücher weder mit etwas beginnen, das mir passiert ist, noch mit jemandem, den ich kenne, sondern mit einer Idee. Die fange ich an auseinanderzudröseln und zu erforschen und zu verändern. Wenn ich mit einem Buch fertig bin, habe ich kaum je gleich eine neue Idee. Ich bin bloß dankbar, wenn ich eine habe! Dann fange ich wieder von vorne an, und ich glaube, ich würde mich langweilen, wenn ich mich dabei wiederholen würde. Ein Teil meiner Schreibarbeit ist sehr rational und gut organisiert: Es gibt einen Zusammenhang, der mich von A nach B, C und D führt. Aber eigentlich sitze ich den ganzen Tag da und denke: Was wäre, wenn dies, was wäre, wenn das. Deshalb sind meine Notizbücher mit Tausenden von Gedanken gefüllt, die ich vielleicht nie verwenden werde. Ich spiele ständig mit Möglichkeiten. Wenn ich mich zu einem neuen Roman hinsetze, treffe ich keine konkrete Entscheidung für ein bestimmtes Thema oder Motiv. Ich beginne einfach mit etwas, das ist zwangsläufig immer etwas anderes. Ich vertraue allen Teilen meines Gehirns.

    Peter Carey: Parrot und Olivier in Amerika. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 500 Seiten. 24.95 Euro/42.90 Franken.