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Amerikanischer Traum aus chinesischer Perspektive

Eigentlich nur in den USA zwecks Studium, findet sich Nan Wu für immer im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wieder. Sein Protest in den USA gegen das Massaker auf dem Platz den Himmlischen Friedens resultiert in der Ungültigmachung seines Passes durch China. Doch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten muss Nan feststellen: auch hier herrscht, wenn auch eine andere, Gewalt.

Besprochen von Martin Zähringer | 28.05.2009
    Der Held in Ha Jins neuem Roman "Ein freies Leben" hat einiges mit ihm selbst gemein, aber doch nicht alles. Nan Wu, ein junger Politikwissenschaftler aus China, bereitet sich in den USA seit einiger Zeit auf seine Dissertation vor. Er kommt jedoch nicht recht weiter, weil er Geld verdienen muss und lieber Gedichte schreibt. Dann geschieht in Peking das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, und im Aufruhr der Gefühle plädiert Nan auf dem Campus für die Entführung von Kindern chinesischer Kader, die sich an den amerikanischen Universitäten tummeln. Das wird sein Leben radikal ändern, denn bald darauf kommt sein Pass nicht mehr mit dem begehrten Visum von der Botschaft zurück, sondern mit dem Stempel "ungültig". Nan Wu wird also in Amerika bleiben müssen. Bei vielen Ähnlichkeiten mit dem Leben seines Autors liegt hier jedoch kein autobiografischer Roman vor:

    "Auf der Makroebene ist das nicht meine Geschichte, ich hatte mehr Glück im Leben als Nan, ich bin nie nach China zurückgegangen, ich habe meine Dissertation beendet – das ist also nicht meine Lebensgeschichte. Aber auf der Mikroebene gibt es schon viele Ähnlichkeiten, denn ich schrieb ja über die amerikanische Erfahrung, da gibt es eine Menge aktuelle Bezüge zur realen Welt, und in diesen Details musste ich sehr aufmerksam sein. Deshalb schrieb ich sehr nah an Dingen, die ich kannte."

    In der großen Form handelt es sich um einen modernen Einwandererroman. China Town ist jedoch nicht mehr das Thema, denn diese neue Generation chinesischer Einwanderer schlägt sich mehr oder weniger integriert, vor allem isoliert, durch das Leben in der neuen Welt. Für Nan Wu, seine Frau Pingping und den Sohn Taotao fängt es ganz unten an, in den Sphären der Wachschutz- und Küchenarbeit mit 4- oder 5-Dollar-Jobs. Dank zäher Arbeit und weitgehendem Lustverzicht führt es schon nach wenigen Jahren zum Besitz eines eigenen Restaurants, das sogar Kapital für ein Haus mit Seeblick abwirft. Das ist der Grundstoff des amerikanischen Traums. Man könnte angesichts von Nan Wus fatalistischer Ergebung in die Tretmühle der Arbeit auf die Idee kommen, dass der Autor hier eine Art chinesisch-konfuzianischen Menschentyp der Mitte auf dem amerikanischen Spielfeld der Extreme erprobt, doch diese Idee erscheint dem Professor für englische Literatur Ha Jin etwas zu exotisch:

    "Aber es gibt da eine andere literarische Tradition, wir nennen sie im Englischen die Literatur des kleinen Mannes, das beginnt bei Gogol. Es geht nicht um einen Helden, im Gegenteil, und in diesem Sinn ist Nan ein kleiner Mann, eher Durchschnitt, eine sehr gewöhnliche Person. Aber das ist die eigentliche Herausforderung beim Romanschreiben, denn man muss das Interesse des Lesers dauerhaft wach halten."

    Das gelingt durchaus. Aber nicht, weil Nan Wu seine Rolle so gut ausfüllt, sondern weil ihm die populäre Version des amerikanischen Traumes gar nicht passt. Ganz so gewöhnlich ist er nämlich nicht. Er ist ein komplexer Typ, eine Künstlernatur, er versucht von Anfang an auszubrechen, sucht immer wieder Anschluss an Dichter- und Künstlerkreise, leidet zudem an einer unerfüllten Jugendliebe und lernt unermüdlich die englische Sprache. Das Thema Sprache ist tragend in diesem Roman: Das Erkennen von ausgesprochenen und unausgesprochenen Bedeutungen führt immer wieder zu witzigen bis dramatischen Missverständnissen. Etwa wenn Nan den rassistischen Blick eines Verkäufers als Neid auf seine Vaterschaft interpretiert, als er mit seinem strammen Jungen einkauft, oder wenn er zu den falschen Leuten freundlich ist und von einem ausgeflippten und gewaltbereiten Pärchen mit Baseballschlägern verfolgt wird. Diese bedrohliche Szene erscheint kurz nachdem Nan und Pingping entschieden hatten, in Amerika zu bleiben, um ihren kleinen Sohn aus dem Strudel der Gewalt in China herauszuholen. Da stellt sich die Frage, ob Familie Wu dem Zirkel der Gewalt nun wirklich entronnen ist:

    "Die Szene im Supermarkt, bei der Nan als Sexobjekt betrachtet wurde, behandelt eine Art willkürlicher Gewalt, aber das ist nicht die historische Gewalt, um die es ihm geht. Nan war so empört über das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, aber er war sich auch darüber bewusst, dass es sich dort um eine unendliche Form von Gewalt handelt, einen Zirkel, und er wollte seinen Sohn aus diesem Zirkel herausholen. Gewiss gibt es in den USA viel Gewalt, manche Orte können sehr gefährlich sein, aber das ist nicht politisch, das wird nicht von der Regierung oder der Armee herbeigeführt. Dieser Form der Gewalt kann man individuell begegnen, der anderen entkommt man nur, wenn man das Land verlässt."

    China verlassen, die Heimat vergessen, das ist ein längerer Prozess, der den Kampf ums Überleben thematisch überlagert. Politische Skrupel hat Nan Wu dabei nicht, denn wenn der Staat nicht für seine Unversehrtheit sorgen könne, fühle er sich ihm gegenüber auch nicht verpflichtet. Auch moralische und psychologische Fesseln löst er radikal. Ein Brief des Vaters macht dies deutlich:

    In letzter Zeit habe ich des Öfteren Artikel über die chinesischen Dissidenten in den Vereinigten Staaten gelesen. Ohne Zweifel sind das verschlagene Leute, die Du meiden solltest. Denk immer daran, dass du Chinese bist. Auch wenn du zerstört am Boden liegst, bleibt jede Faser von Dir chinesisch. Hast du mich verstanden?

    Nein, Nan hat nicht mehr verstanden. Er ist zwar nicht politisch aktiv, aber mit der Macht der nationalen Identität erlischt auch der ehrfurchtsvolle Respekt vor dem Vater. Traditionelle Rollenmodelle gelten im neuen Leben nichts. Nan Wu will alles hinter sich lassen und nicht so enden wie eines seiner Vorbilder im Exil, der dissidente Lyriker und Gelehrte Mr Liu, der krebskrank und materiell ruiniert, den Weg zurück nach Peking geht.

    Genau darin lag Mr Lius Tragödie – es gelang ihm nicht, sich innerlich von dem Staatsapparat zu lösen, der ihn nach Belieben kontrollierte und quälte. Ohne diesen in der Heimat herausgebildeten Rahmen hätte sein Dasein Bedeutung und Grundlage verloren. Vermutlich deshalb verklärten so viele von nostalgischen Gefühlen geplagte Exilanten Leiden und Patriotismus. Ihr Körper befand sich hier in Amerika, aber wegen des Jochs, das ihnen die Vergangenheit auferlegt hatte, schafften sie es nicht, sich an das Leben im neuen Land anzupassen.

    Nan Wu hat es geschafft, aber das neue Joch, das ihm Amerika auferlegt, wirft er am Ende auch noch ab. Der kleine Mann in der Küche überwindet seine Angst vor der englischen Sprache und verwirklicht einen neuen Traum – er wird Dichter und lebt wieder vom Wachschutz. Der Autor Ha Jin selbst hat vor dem Wagnis des Schreibens in fremder Sprache nicht so lange gezögert und kennt inzwischen seine Möglichkeiten. Seine Kunst der Beschreibung bewegt sich zuweilen etwas zu nah und detailreich an den Dingen des Alltags und zieht so manches in die Länge. Aber man lernt dieses Amerika eben durch chinesische Augen kennen, die ihre neue Umwelt von Boston über New York bis nach Woodland, Georgia gründlich studieren und sozusagen sprachlich abrastern. Es bleibt am Ende – zumindest für Nan Wu - offen, ob diese neue Welt in allen Hinsichten wirklich tragbar ist. Für die alte aber, so wie sie ist, hat der Autor Ha Jin klare Worte:

    "Ich glaube China befindet sich heute an einem Scheideweg, China kann entweder demokratisch werden oder so wie Singapur. Also ich denke, wer China wirklich liebt, muss es auf seinem Weg zur Demokratie befördern, ein neues politisches System würde dem chinesischen Volk wirklich helfen. Für mich ist die einzige Lösung die Demokratie für China, es gibt keinen anderen Weg, das ist der einzige Weg."

    Ha Jin: Ein freies Leben. Roman. Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser und Susanne Hornfeck. Ullstein 2009, 638 Seiten. 24,90 Euro