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Amok in Erfurt

Was am 26. April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium geschah, war für Deutschland bis dahin unvorstellbar. Binnen weniger Minuten richtete der ein halbes Jahr zuvor von der Schule verwiesene Abiturient Robert Steinhäuser kaltblütig sechzehn Menschen hin. Sein lange vorbereiteter, vor allem gegen Lehrer gerichteter Rachezug wurde zum größten Massaker der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Udo Scheer | 19.01.2004
    Doch was an diesem "Schwarzen Freitag" über die scheinbar so beschauliche Thüringer Landeshauptstadt Erfurt hereinbrach, war "kein vom Himmel gefallenes Unheil", wie der damalige Thüringer Ministerpräsident Bernhard Vogel in erster, hilfloser Betroffenheit meinte. Was in Erfurt, verstärkt durch die besondere soziale Verunsicherung in einem neuen Bundesland hervorbrach, ist prinzipiell ebenso für Hamburg, Köln oder München denkbar. Ines Geipels Bilanz ernüchtert:
    Es gibt gesellschaftliche Zeitphänomene, die etwas Allgemeines haben: Unbestimmtheit der Zeit, Vereinzelung, Fragmentarisierung, und es gibt dann diesen konkreten Raum, den politischen Raum in Thüringen. Im Grunde ist das eine Art nachholende Demokratie. [Es gibt jetzt eine interessante Studie der Jenaer Universität, die ganz klar sagt, dass das Demokratieverständnis der Thüringer rückläufig ist, 20 Prozent wünschen sich die Diktatur zurück, es gibt einen großen Ruck, was Rechtsextremismus betrifft, was Nationalismus betrifft.] Es gibt Risse im Verfassungsfundament, die man ernst nehmen muss, und das stellt natürlich Fragen an die Politik. Ich glaube, dass niemandem geholfen ist, wenn ein solch gigantisches und verheerendes Ereignis wie das Gutenberg-Massaker im politischen Sinne gedeckelt wird. Ich glaube, wenn so ein extremes Ereignis wie Gutenberg und die Tat von Robert Steinhäuser als etwas Exterritoriäres behandelt wird und man im gleichen Atemzug möchte, dass Erfurt sozusagen die kleine, nette Stadt im Herzen von Thüringen bleibt, wird das nicht funktionieren.
    Angelegt als Faction-Buch, koppelt Ines Geipel dokumentarisches Material mit dem Blickwinkel und mit Emotionen von Elsa, einer ehemaligen Schülerin des Gutenberg-Gymnasiums. Die unterbricht ihr Schauspielstudium, reist nach Erfurt, will möglichst viel erfahren, um das Geschehene zu bergreifen. Durch diesen Kunstgriff bekommt der Leser Zeit und Raum, um mit der Atmosphäre vertraut zu werden.
    Die Methode stößt allerdings auch an Grenzen. Mehrfach gerät Elsa zur Folie für die Recherchen der Autorin. So ist es der authentischen Darstellung eher abträglich, wenn es Elsa ist, die den Anwalt der Angehörigen von Opfern aufsucht, um etwas über deren Situation zu erfahren, oder wenn Elsa sich durch die Ministerien telefoniert, um aus dem Massaker gezogene Konsequenzen zu erfragen.

    Andererseits gelingen eindrucksvolle, betroffen machende Passagen, etwa wenn Elsa die Stimmung in einem Jugendtreff aufnimmt, von dem aus eine mehrwöchige Schülerrevolte zur Erneuerung der Schule organisiert wurde. Ernüchterung dominiert. Die Schüler wollen jetzt bloß nicht allein, bloß nicht bei den Eltern sein. Sie steigern sich in ihren Frust regelrecht hinein: Wie viele Lehrer, wie viele Politiker können sie noch ertragen. Sie erzählen von geprobtem Schulkrieg mit Unterrichtschmeißen und Essensschlachten. Sie verdrängen ihr Gefühl, nichts ausrichten zu können, überflüssig zu sein, flüchten in Kiffen und Alkohol, in den Kick virtueller Gewalt. Diese Atmosphäre macht deutlich: Was im Fall Steinhäuser eskalierte, ist keine Einzelerscheinung. "Amok in Erfurt" rekonstruiert nicht nur die Vorgeschichte und den Hergang der Bluttat. Die Autorin fragt nach Ursachen, fragt, was läuft falsch im System Familie und Schule. Warum wird mitunter eine Gegnerschaft zwischen Schülern und Lehrern geradezu befördert? Zugleich lehnt sie pauschale Schuldzuweisungen ab:
    Ich habe es deshalb so schwer, das zu bestätigen, weil ich auch mit vielen Lehrern gesprochen und wahrgenommen habe, mit wie viel Freude auch sie nach 1989 dachten, sie könnten eine neue Schule machen, wie viel Lebensenergie sie da hineingegeben haben. Dass heute nicht nur Schüler, sondern auch sehr viele dieser Lehrer frustriert sind, das finde ich bedenklich. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass am Tag des Massakers in der Gutenberg-Schule fast in jeder Klasse eine Leistungskontrolle geschrieben wurde. Nur das als Fakt. Diese Schule funktioniert über Leistungsabfragen, sozusagen über das technische Wissen, und ich denke, das ist auch so eine Tradition in Deutschland. Funktionale Intelligenz lässt sich wahrscheinlich relativ gut und unproblematisch trainieren. Aber wenn Schüler – und das versuchen sie ja – viel in der Welt unterwegs sind, kommen sie zurück vor allem mit dem Gefühl, wir wollen einen ungestörten Raum des Miteinanders haben, wo wir gemeinsam auch über einen längeren Zeitraum erfahren, was wir als individuelle, als einzelne Personen sein könnten, welche Ideen von Leben, von Kreativität wir haben. Ich nehme diesen originären Lebensimpuls der Jungen sehr ernst und spüre zugleich, dass sie damit nicht durchkommen, in dieser momentanen politischen Verfasstheit.
    Soziologische Erkenntnisse besagen: Nach Nahrung und Wohnung ist Anerkennung das drittwichtigste Grundbedürfnis des Menschen. Schulsysteme in Kanada, Skandinavien und anderswo tragen dem Rechnung - mit Erfolg - wie auch PISA zeigt. Doch so lange reformierte Schule in Deutschland die Ausnahme bleibt und Massenschule oft auf reines Durchpauken des Lehrstoffes, auf Anpassung und Funktionieren hinausläuft, provoziert sie auch enthemmte Racheakte bis hin zu Mordtaten - wie vor Erfurt bereits in Meißen und einem Bayerischen Internat geschehen.
    Ines Geipel rekonstruiert den gezielt vorbereiteten Hinrichtungsgang anhand von Ermittlungsunterlagen und Zeugenaussagen. Gerade weil sie das Voyeuristische dabei herausnimmt, ist das Geschehen in seiner nüchternen Drastik kaum zu ertragen. Steinhäuser zieht, 10.58 Uhr im Sekretariat beginnend, schwarz vermummt durch das Schulgebäude. Er richtet Lehrer vor den Augen ihrer Schüler durch Nahschüsse hin. Als 11.04 Uhr Notrufe bei der Polizei eingehen, dauert es nur vier Minuten bis zum Eintreffen erster Streifenwagen. SEK und Notarzt werden angefordert. Einen sich nähernden Polizisten erschießt er aus dem Fenster. Die übrigen Einsatzkräfte zögern - auch als Steinhäuser die Kunsterzieherin Birgit Dettke, die Schüler in Sicherheit bringt, über den Schulhof verfolgt und sie schwer verletzt. Ein Polizist liegt 25 Meter entfernt in Deckung, greift nicht ein. Wieder im Schulgebäude, agiert Steinhäuser angesichts verbarrikadierter Klassenräume zunehmend planlos. Plötzlich steht er vor seinem alten Kunstlehrer Rainer Heise, der nach verirrten Schülern sucht. Der spricht ihn an: "Du, Robert?" Steinhäuser zeigt sich erschöpft: "Für heute reicht´s!" Das Unglaubliche geschieht. Unter dem Vorwand, reden zu wollen, schiebt ihn der Lehrer in den Vorbereitungsraum und verschließt ihn von außen. Als er den Schlüssel gegen 11.18 Uhr an Polizisten übergibt und erklärt, er habe den Täter eingesperrt, realisieren die zunächst nicht, was er da mitteilt.
    11.25 Uhr übernimmt der Erfurter Polizeidirektor Rainer Grube die Einsatzleitung und verfügt nach Hinweisen auf einen mutmaßlichen zweiten Täter, dass niemand die Schule betreten dürfe, bevor das Gebäude nicht durch das SEK gesichert sei. Das kommt aus dem 80 km entfernten Nordhausen und beginnt 12.04 Uhr Raum für Raum mit der Sicherung. Die ist nach zweieinhalb Stunden abgeschlossen. Eine bereits im Haus befindliche Notärztin erhält die Anweisung, sich im Sekretariat einzuschließen. Bis sie die Erlaubnis erhält, erste Hilfe zu leisten, sterben zwei Lehrer und zwei Schüler, obwohl Schüler per Handy melden, wie diese verbluten. Später wird für die Notärztin Redeverbot angeordnet.
    Es gibt Lehrer, die ganz wunderbar reagiert haben. Rainer Heise mit so einer Klarheit. Birgit Dettke hat ihre Hilfeleistung für die Schüler mit dem Leben bezahlt. Ich verstehe ja Ängste, Irrreaktionen, auch Fehlreaktionen, aber in dem Moment, wenn ich lese, dass Birgit Dettke über eine Stunde auf dem Schulhof liegt, medizinisch vollkommen unversorgt, und dann wird an ihrem toten Körper, ich habe das Rohmaterial gesehen, eine ganz hilflose Reanimation versucht, da wird man sprachlos.
    Die international bewährte Methode des "schnellen Zugriffs" wird in Erfurt nicht praktiziert. Später wird ein SEK-Mann erklären, dass es ein ziemliches Chaos in der Einsatzleitung gab. Über Lehrer Heise, der mit seiner Zivilcourage manchem sein eigenes Versagen vor Augen führt, kursiert plötzlich das Gerücht: Steinhäuser sei von ihm gelenkt worden. Er erhält Morddrohungen. Der einsatzleitende Polizeidirektor Erfurts und die Rettungsärztin werden hingegen ausgezeichnet.
    Ich sage jetzt nicht, das hätten sie alles besser machen müssen. Aber wenn es denn so war, dass es derart eklatante Fehlentscheidungen gegeben hat, dann muss man heute alles nur erdenklich Mögliche tun, dass es bei einer nächsten Katastrophe nicht wieder zu einem solchen Desaster kommt, sondern dass Hilfe umgehend an die Verletzten, die Betroffenen, kommt. Ich habe mich ein Jahr nach dem Massaker durchtelefoniert, was sich denn nun tatsächlich in den jeweiligen Ministerien verändert habe. Aber das Bewusstsein, dass dieses Ereignis im Gutenberg-Gymnasium kardinale Fragen an ihre Arbeit stellt, hat mir eindeutig gefehlt.
    Amok in Erfurt ist ein kompromissloses, schwer zu ertragendes Buch. Es stellt unbequeme Fragen, fordert zur Diskussion über unsere Verantwortung und zeigt sehr kritisch auf Deformationen unserer Gesellschaft. In bester Tradition gesellschaftskritischer Autoren fragt Ines Geipel einmal mehr und brandaktuell: Warum darf es offiziell keine Fehler gegeben haben?
    Ines Geipel
    Für heute reicht's. Amok in Erfurt
    Rowohlt Berlin, 256 S., EUR 16, 90