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An der Schwelle von Skulptur, Installation und Performance

Abstrakte Kunst auf der einen - figürliche Kunst auf der anderen Seite: Das ist spätestens seit den 50er-Jahren eine schwierige, manchmal heikle und sogar politische Abgrenzung. Eine Ausstellung ausdrücklich über figürliche Plastik seit den 60er-Jahren zu machen - das ist so gesehen eine ziemlich mutige Entscheidung, zumal wenn diese Ausstellung an einem der führenden Häuser für Gegenwartskunst in Deutschland gezeigt wird.

Von Carsten Probst | 03.06.2013
    Die Fragen beginnen schon mit dem titelgebenden Werk der Ausstellung: "Body Pressure" von 1974 ist eine der zentralen Arbeiten von Bruce Nauman an der Schwelle von Skulptur, Installation und Performance. Was man zunächst sieht, ist nichts als ein inkarnatfarbenes Blatt Papier an der weißen Wand und ein akkurat aufgehäufter Stapel mit weiteren solchen Blättern auf einer Transportpalette am Boden. Drei nahezu quadratische Formen in einer ansonsten leeren Raumecke: abstrakter, reduzierter geht es kaum. Tritt man näher, erkennt man auf dem Papier eine Handlungsanweisung des Künstlers an den Betrachter: "Presse so viel der vorderen Oberfläche deines Körpers (Handflächen nach innen oder nach außen, rechte oder linke Wange) so fest wie möglich gegen die Wand. Drücke sehr fest und konzentriere dich."

    Und dann: "Bilde eine Vorstellung von dir selbst. Nimm an, du seist gerade vorwärts getreten, wie du auf der anderen Seite der Wand sehr feste gegen die Wand zurückdrückst. Presse sehr fest und konzentriere dich auf das vorgestellte Bild, das sehr fest drückt." So geht es noch eine Weile weiter. Lässt man sich darauf ein und vollführt diese Übung tatsächlich, geschieht etwas Merkwürdiges: Man hat das Gefühl, der eigene Körper wird gemeinsam mit der Wand zu einem Akt, von dem man nie weiß, ob man ihn wirklich der Anweisung gemäß ausführt oder nicht. Der eigene Körper wird abstrakt, ein Ding. Ist das am Ende nun figürliche Kunst, weil der menschliche Körper einbezogen wird, oder ist es abstrakte Kunst, weil sich das Gefühl für das Eigene des menschlichen Körpers dabei auflöst? So wirklich kommt man mit keinem dieser alten Begriffe mehr weiter, und man sieht im Übrigen sehr schnell, dass das für alle anderen Arbeiten in dieser Ausstellung ebenso gilt.

    Friederike Pezold beispielsweise ist mit einem Turm aus vier Monitoren in dieser Ausstellung vertreten, auf denen jeweils eine Körperregion zu sehen ist: Augenpartie, Mund, Brüste und Schambereich. Alle vier Bereiche bewegen sich unabhängig voneinander. Die Videos sind schwarz-weiß, die Körperpartien jeweils geschminkt oder mit Stoff bedeckt, sodass sie jeweils geometrische Formen bilden. "Die neue leibhaftige Zeichensprache nach den Gesetzen von Anatomie, Geometrie und Kinetik" nennt die gebürtige Wienerin folgerichtig auch ihre Arbeit aus der Mitte der siebziger Jahre, mit der sie gerade in der Tradition abstrakter Körperfotografie der Avantgarde steht und zugleich gegen die sexistische Zerlegung des weiblichen Körpers in den Medien revoltiert.

    Gerade daran, wie schwer es fällt, raumbezogene Kunst seit den 60er-Jahren überhaupt noch in ein traditionelles Ordnungsschema zu pressen, zeigt sich, wie vielfältig sich die Kunst seit dieser Zeit entwickelt hat. Friederike Pezold steht mit ihrer Arbeit immerhin für die Einsicht der Kuratorinnen Henriette Huldisch und Lisa Marei Schmidt, dass gerade Künstlerinnen einen ganz wesentlichen Teil zur Erweiterung des Skulpturengenres, das zuvor wie kein anderes eine Männerdomäne war, beigetragen haben.

    Marina Abramovic, Valie Export, Rosemarie Trockel sind zwar auch nur drei weitere prominente Protagonistinnen unter hier insgesamt 23 Künstlern, die den klassischen Skulpturenbegriff durch Video und installativer Performance durchbrechen, aber dass sie in einer solchen Rückschau überhaupt auftauchen, ist auch im 21. Jahrhundert noch keineswegs selbstverständlich. Interessant ist der traditionelle Genre-Begriff der Skulptur seit den 60er-Jahren nur noch dann, wenn er sich mit anderen Genres mischt, wie etwa auch bei Thomas Schüttes "Kraftwerk" von 2004, in dem kleine grob figurative Formen in ein riesiges, modellhaftes Environment eines Atomkraftwerks eingesperrt sind. Da man sich für die Ausstellung auf die eigenen Sammlungen des Hamburger Bahnhofs, vor allem die Flick-Collection beschränkt hat, bleibt der Überblick über eine eigentlich hochinteressante Entwicklung lückenhaft.