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"Anatevka" an der Komischen Oper Berlin
"Eine Metapher für die ganze Menschheitsgeschichte"

Zum 70. Geburtstag der Komischen Oper in Berlin inszeniert Barrie Kosky das Musical "Anatevka" des US-amerikanischen Komponisten Jerry Bock. Kosky ist es gelungen, das Musical als eine mitreißende, ur-jüdische Geschichte lebendig werden zu lassen.

Von Julia Spinola | 04.12.2017
    Der Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky, steht am 14.07.2017 in Bayreuth (Bayern) vor dem Festspielhaus. Der Australier führt bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen Regie in einer Neuinszenierung der Richard-Wagner-Oper "Die Meistersinger von Nürnberg".
    Der Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky, vor dem Festspielhaus in Bayreuth (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Der Fiedler sitzt nicht auf dem Dach, sondern er saust mit einem coolen Roller über die Bühne. Aus seinem drahtlosen Kopfhörer dröhnen laute Bässe, bis er seine Geige aus dem Schrank holt und anfängt zu spielen. Seine Melodie weckt die Geister der Vergangenheit. Aus dem Schrank tönt ein gesungenes Echo: Urgroßvater Tevje der Milchmann hat sich hier zwischen den alten Pelzmänteln versteckt. Und er kommt nicht allein, sondern stürmt plötzlich mit dem gesamten osteuropäischen Schtetl die Bühne.
    Musik: Chor und Tevje "Tradition"
    "Man sieht nicht auf der Bühne die Nicht-Juden, man sieht die Juden. Das ist, was so grandios ist. Und eigentlich die Themen von dem Stück haben nichts zu tun mit Antisemitismus. Das ist nicht das Hauptthema. Das Hauptthema sind jüdische Themen von Tradition, Familie, Heimat, Exil."
    "Ein Zwiegespräch mit Tevje und ein Zwiegespräch mit Gott"
    Aus dem einen Schrank der Anfangsszene wird auf Rufus Didwiszus‘ Bühne bald ein ganzer Trödelladen. Denn nicht nur der kleine Fiedler, sondern jeder Jude schleppt auf seinem inneren Dachboden neben der eigenen Familiengeschichte auch die Jahrtausende alte Tradition des gesamten Volkes mit sich. Das ist der Preis des Exils. Und so lässt Kosky in seiner zwar wohltuend unsentimentalen, aber liebevoll detailreichen Verlebendigung des Schtetl-Lebens alle Figuren aus diesen Schränken auftreten. Man wohnt im Schrank, man schläft im Schrank, man kocht, diskutiert und feiert zwischen den Schränken - und man findet bei allen Turbulenzen immer auch einen Platz für den großen Topf mit Hühnersuppe, jenem jüdischen Penicillin, das nicht nur am Schabbat Wunder wirkt.
    Musik: "Schabbat Gebet"
    "Es ist mir nicht fremd mit Gott zu reden, aber natürlich hat sich das in den letzten sechs Wochen noch verstärkt. Ist ein schönes Gefühl. Aber das ist ja auch ein Zwiegespräch mit Tevje und ein Zwiegespräch mit Gott, das ist so irgendwie alles. Das macht natürlich die Familie wahnsinnig zuhause, aber es geht nicht anders."
    Höhen und Tiefen mit Witz und viel Herz
    Der Schauspieler Max Hopp hat sich auf phänomenale Weise in die archetypische Figur des Tevje darstellerisch zu Eigen gemacht. Er durchlebt ihre Höhen und Tiefen mit Witz und viel Herz, stellt sie höchst charakteristisch dar, bewahrt sie aber zugleich vor jeder Überzeichnung. Wie dieser Tevje mit Gott spricht, wie er mit seinem lahmen Gaul und mit der Armut hadert, wie er das Traditionsgesetz und die nicht-konformen Herzenswünsche seiner heiratswilligen Töchter gegeneinander abwägt und wie er seine resolute Frau Golde mit Märchengeschichten dazu bringt, seine unorthodoxen Entscheidungen zu unterstützen – all das berührt unmittelbar. Denn Hopp nimmt die Figur bei allem Darstellungswitz so ernst, dass auch der Zuschauer es tut.
    "Man hat das Gefühl, es ist ein Riesen-Gefälle, weil es ja nicht nur eine Musical-Figur ist, sondern eben auch eine weltliterarische Figur, die nicht nur als Einzelfigur etwas in sich trägt, sondern mit dem gesamten Judentum mit der Geschichte, mit der Diaspora, mit der Tradition nicht spielt, aber die in sich trägt. Er versinnbildlicht das Judentum an sich. Und dem irgendwie gerecht zu werden, und dem Klischee zu entfliehen und einer vermeintlich jüdischen Melodie – nach dem Motto: was ist das überhaupt – nicht zu verfallen, sondern äußerst lebendig zu sein: herzenswarm und offen, anrührend und streng, lustig, humorvoll und traurig: das ist schwierig, sehr schwierig."
    Musik: "Wenn ich einmal reich wär"
    Schwung, Witz und viel Schmelz in der Musik
    Das Orchester der Komischen Oper wirft sich unter Koen Schoots mit Schwung, Witz und mit viel Schmelz in die Musik. Großartig sind auch die stilisiert russische und chassidische Traditionen aufgreifenden Tanzchoreografien von Otto Pichler, die weit über das Dekorative hinausgehen. Sängerisch und darstellerisch ist die Premiere ist bis in die kleinste Nebenrolle hinein glänzend besetzt. Dagmar Manzel bringt als Tevjes Ehefrau Golde resoluten Berliner Witz mit ins Geschehen. Gemeinsam sind sie beide ein auf der Bühne der Komischen Oper schon legendäres Dream-Team.
    Musik: "Ist es Liebe?"
    In der Pogromszene am Ende des ersten Teils gelingt ein Bild, das unter die Haut geht. Statt die Brutalität der russischen Schläger ins Zentrum zu stellen, fokussiert Kosky die Szene auf die Angst. Eng zusammengerückt steht die gesamte Schtetl-Gemeinschaft im Zentrum der Bühne – starr vor Entsetzen. Kosky ist es gelungen, "Anatevka" als eine mitreißende, ur-jüdische Geschichte lebendig werden zu lassen, deren Themen zugleich so universell sind, dass sie das Publikum unmittelbar angehen. Es geht um Identität und Fremdheit, um Heimat und Flucht, und in alledem auch um die grundlegende Einsicht, dass Traditionen nur erhalten werden können, wenn man sie erneuert.
    "Was ist grandios mit diesem Stück, und warum es so ein Erfolg geworden ist über 50 Jahre, ist, dass eigentlich die jüdische Geschichte ist eine Metapher für die ganze Menschheitsgeschichte."