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André Kubiczek: "Skizze eines Sommers"
Die Eleganz der Melancholie

Die Melancholie ist etwas, für das man schwer die richtigen Worte findet, wenn sie einen packt. So ungreifbar aber auch bekannt ist dieses Gefühl, irgendwo zwischen Schwermut und Leichtigkeit. André Kubiczek schreibt so einfühlsam darüber, dass er mit "Skizze eines Sommers" zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht.

Von Felix-Emeric Tota | 14.10.2016
    Der Autor André Kubiczek lehnt an einer hellgrauen Wand.
    Der Autor André Kubiczek lehnt an einer hellgrauen Wand. (picture-alliance / dpa / Arne Dedert)
    "Aus unserer Geröllschublade in der Küche holte ich zwei Kerzen, die wir dort aufbewahrten, nicht wegen der Gemütlichkeit, sondern falls der Strom mal ausfiel. Denn offiziell hatten wir keine Zeit für Schönheit und Kontemplation. Wir mussten gut sein in der Schule und auf der Arbeit, dann wurden wir nämlich ins Internat verfrachtet oder durften zu Konferenzen reisen in die Schweiz."
    Es sind die letzten Sommerferien für René, einen sechzehnjährigen Jungen, der eine Vorliebe für die Farbe Schwarz hat und der den Anschein macht, als würde Holden Caulfield Songs von Morrissey pfeifen. René hat ein einzelnes Segelohr und lackiert sich die Schuhe mit Reparaturlack, damit sie die richtige Farbe haben. Sein Vater ist über die Ferien auf einer Konferenz in Genf. Er hat ihm 1000 Ost-Mark und eine Wohnung für sich allein hinterlassen. Es könnte also alles gut sein, in diesem Sommer 1985 in Potsdam, diesem letzten Sommer mit seinen Freunden, dem letzten Sommer vor dem Internat. Doch René packt die Melancholie.
    "Machte sich in der Literatur ganz gut oder im Notizbuch, war aber im normalen Alltag eher hinderlich, dieser sogenannte Gemütszustand."
    In dubiosen Cafés rumhängen
    Wir begleiten ihn auf der Suche nach den richtigen Worten und dem richtigen Mädchen. Diese Suche führt durch das angenehm ostalgiebefreite aber auch urlaubsverlassene Potsdam, die ostdeutsche Jugendkultur der 80er Jahre und den Zwischenzustand in dem sich René befindet. Seine Mutter ist verstorben und verdrängt, sein Vater weit weg. So wie alles andere auch, das ihn berühren könnte. René hätte jetzt die Möglichkeit erwachsen zu werden, doch seine Einsamkeit und die Sehnsucht nach etwas Unbenennbarem hindern ihn daran. Halt geben ihm nur seine Freunde und die Flucht in die Abgrenzung. René und seine Freunde, sie rauchen bis sie husten, sie schreiben halbgares mit ihren kurzen Bleistiften in ihre Notizbücher, während sie in dubiosen Cafés rumhängen und Bücher lesen. Bücher…
    "…die gerade dabei waren, unsere bisherigen, kleinen und mehr als ordinären Leben total auf den Kopf zu stellen. Und ich meine: im guten Sinne auf den Kopf stellen. Vielleicht sogar andersrum: sie vom Kopf zurück auf die Füße zu stellen."
    Ihre Rebellion ist der Dandyismus, der Weltschmerz, die toupierte Haupthaarsituation und das Aufnehmen von Mixtapes. Denn in alldem finden sie etwas, was ihnen noch etwas bedeutet: ein Lebensgefühl. Das der Post-Punk- und New-Wave-Bewegung, das der desillusionierten 80er Jahre.
    "'Okay, Leute, wir müssen dann mal los', sagte Dirk, als David Bowie gerade Heroes sang. Kurz zuvor hatten wir Queen überstanden und waren alle ziemlich groggy von der Übertragung. Man konnte nur hoffen, dass der Hunger auf der Welt möglichst schnell vor Live Aid kapitulierte, damit das im nächsten Jahr nicht so weiterging.
    Und damit alle Menschen genug zu essen hatten, klar."
    Ein ganz besonderer Band von Baudelaire
    In ihrer Einsamkeit fühlen sie sich nur von Menschen verstanden, die weit weg sind. Musiker aus dem Westen oder bereits lange verstorbene Schriftsteller, die genau die richtigen Ausdrücke für ihre Gefühle haben. Besonders fasziniert ist René von der Sprache und den Gedanken Baudelaires, der mit seinen Prosagedichten weite Stimmungspanoramen einer ultimativen Melancholie beschreibt. In diesen Tiefen findet und erkennt sich auch René. An seinem Geburtstag findet René in einer Volksbuchhandlung, wie durch ein Wunder, einen ganz besonderen Baudelaire-Band aus dem Westen. In ihm enthalten: Der Fremdling.
    "Ich rauchte auf Lunge, und ich trank in kleinen Schlucken, nur lesen konnte ich nicht mehr. Immer wenn ich ein anderes Gedicht als das über die Wolken und den Fremden begann, schweiften meine Gedanken sofort zu Fritzis großer Schwester ab, zu unserer Begegnung am Nachmittag. Ich überlegte, was ich richtig gemacht hatte und was falsch, und ich führte mir ihr imaginäre Dialoge über Gott und die Welt, über Milchreis und Hefeklöße, über die Sisters of Mercy und The Mission, deren lahme Nachfolger. Sogar über den kanariengelben Trenchcoat meines Vaters unterhielten wir uns in meiner Vorstellung. Und wenn sie zuhört, pustete sie sich manchmal selbstvergessen die lange Strähne aus dem Gesicht."
    Renés Rückzug auf die eigene Person, auf die eigene Subjektivität, und seine Unerklärbarkeit führt dazu, dass er sich die Welt so zu recht biegt, bis sie wieder seiner Realität entspricht. Er glaubt sich irgendwann in Bianca verliebt zu haben, dabei soll sie bloß die Sehnsucht füllen, die das verreiste Mädchen aus der Nachbarschaft hinterlässt. Das Mädchen ohne Namen, Fritzis großes Schwester.
    Eine ganz bestimmte Zeit
    "Und dann dachte ich, Mensch, René, du bist so ein verdammter Opportunist. Kapier doch: Bianca ist wie Mario in weiblich, immer direkt und immer geradeaus, und Fritzis Schwester ist wahrscheinlich ein bisschen so, wie du selber bist. Wenn du jetzt Bianca Fritzis Schwester vorziehst, dann bestrafst du dich selber.
    Das ist Verrat.
    An ihr.
    Und an dir, mein Freund.
    Und an diesen ganzen Typen aus den Smiths-Songs."
    Über die Melancholie zu schreiben, ist ein Manöver, bei dem sich Autoren ungemein verheben können. Schnell werden Texte prätentiös und unerträglich sentimental. Weil sie zu viel vermitteln wollen und aus Verlegenheit auf vom Pathos geblähte Worthülsen greifen. Unter den schweren Gefühlen und Klischees erdrücken die Figuren leicht, werden flach und eindimensional. André Kubiczek hingegen versteht es in "Skizze eines Sommers", mit Leichtigkeit, Humor und Eleganz großartige Szenen zu schreiben, die genau das zweidimensionale der Melancholie herausstellen. Kubiczek entwirft Bilder einer Jugend, eines Gefühls, einer ganz bestimmten Zeit in seinem Roman. Bilder zum Greifen. Und Bilder, durchzogen von einem wundervollen Farbrauschen. Die Traurigkeit der Melancholie mit so viel Schönheit zu erzählen, das können wirklich nur wenige. Und André Kubiczek ist einer, der es dazu auch noch etwas besser kann.
    André Kubiczek: "Skizze eines Sommers"
    Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 19,95 Euro