Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Andreas H. Drescher: "Kohlenhund"
Geschichtsstunde an Großvaters Sterbebett

Um in der Großstadt zu promovieren, hat Protagonist Michael Velten sein saarländisches Dorf verlassen. Doch das Sterben des Großvaters holt ihn zurück: Andreas H. Drescher reißt in seinem Romandebüt "Kohlenhund" biografische Abgründe auf und holt Kriegsgeschichte in die Gegenwart.

Von Christoph Vormweg | 31.08.2018
    Der Schriftsteller Andreas H. Drescher und sein Roman "Der Kohlenhund"
    Der Schriftsteller Andreas H. Drescher und sein Roman "Der Kohlenhund" (Cover Edition Abel / Portrait Werner Richner)
    Die große Liebe hat sich aus dem Staub gemacht, das saarländische Heimatdorf liegt fern. Für Michael Velten zählt nur Erasmus von Rotterdams "Lob der Torheit", das Thema seiner Doktorarbeit. Bis ihn die Hiobsbotschaft seiner Mutter aus dem Arbeitstunnel reißt: Der Großvater ist schwer an Krebs erkrankt. Also rein in den Zug und zurück nach Hause. Im schwül aufgeheizten Taxi, das Michael Velten am Bahnhof nimmt, beginnt das assoziative Heranfluten der Erinnerungsbilder.
    "Das Flattern der eingerissenen Sonnenblende. Deren Rhythmus löscht Fahrer, Fahrt und Fahrigkeit, lässt meinen Kopf gegen die Nackenlehne sinken. Das Flattern der Sonnenblende wird [...] zum Plastikdrachenflattern. Ich, als Kind, mit diesem Blick hinauf, ins Schwirren vor dem grauen Herbsthimmel. Am Seil, gegen dessen Rucken ich mich mal anstemmen muss und das gleich danach schlaff wird: der Plastik-Falke. Der Windmann mit im Spiel, von dem Großvater spricht wie von einem alten Bekannten."
    Neue Nähe, neue Irritationen
    Ein Opa-Enkel-Idyll beschreibt Andreas H. Drescher in seinem Roman "Kohlenhund" aber nicht. Schon die innige Drachen-Geschichte zu Beginn birgt den Keim eines Zwiespalts. Denn das Kind traut sich nicht, dem geliebten, aber herrischen Großvater die ganze Wahrheit zu sagen: dass er ihn gar nicht ausgelacht habe, als er dem Drachen nachjagte und stürzte, sondern nur froh gewesen sei, dass ihm nichts Schlimmeres passiert wäre. Seit er 16 ist, sucht Michael Velten Distanz zu ihm. Doch die Konfrontation mit seinem bevorstehenden Tod schafft nicht nur neue Irritationen, sondern auch neue Nähe. Wie ein Chronist beschreibt Velten die Stationen des langsamen, sich über neun Monate hinziehenden Sterbens: die Erinnerungsschübe und Skurrilitäten, die Angstanfälle, den körperlichen Verfall. Die wachsende Verunsicherung greift auch auf das über, was sich Velten an der Universität erarbeitet hat und ihm eine neue Zukunft eröffnen soll: die Doktorarbeit.
    "Mein Blinzeln beim Wiederdurchsehen meiner bisherigen Ergebnisse. Als blende mich das Weiße zwischen den Buchstaben. Als wuchere es. Als sei alles auf einer Art Papier verzeichnet, die jedes belanglose Wort von selbst tilge. Ich staune, wie schnell meine Dissertation, an der mir noch vor Tagen so viel lag, an Geltung für mich einbüßt. Dabei wird mir das Buch zunehmend wichtiger. Doch es scheint, als seien seine Erkenntnisse in ein Gestrüpp von Sekundär-Gedanken geraten, aus denen sie sich zu befreien suchten, um sich neben Großvaters Sterben halten zu können."
    Zwischen Deutschland und Frankreich
    Andreas H. Dreschers prägnante Prosa ist stark visuell ausgerichtet, gleichsam bild- und wortvernarrt. Da sind Fingerspitzen "rillig eingerollt" vor Feuchtigkeit, da können Sätze "klammern" wie nervende Geliebte. Hier spürt man den Lyriker. Doch will Drescher auch verschwindende Lebenswelten bewahren. Wie die Figuren seines bemerkenswerten Erzählbandes "Die Rückkehr meines linken Armes" zitiert er Veltens Großvater ausführlich. So wird der zermürbende Alltag der saarländischen Grubenarbeiter gegenwärtig. Zudem hebt das Hin und Her des Saarlandes zwischen Deutschland und Frankreich die Familiengeschichte aus der privaten Beschränktheit heraus. 1933 leistet der Großvater seinen Wehrdienst für Frankreich. 1935 aber folgt der Anschluss des Saarlandes an Nazi-Deutschland, so dass er als Franzose seine Arbeit verliert. Deshalb wendet er sich den Nazis zu, wird Mitglied der SA und nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an. In Mainz folgt der Drill für Hitlers Krieg.
    "Bei den Franzosen hätte mir keiner drei Tage Bau aufgedrückt für eine Rotweinfahne. In Mainz schon. Wegen Überdiesträngeschlagens. Das wurde sogar in den Wehrpass eingetragen. Von dem einarmigen Leutnant. Der hatte mich richtig auf dem Kieker. Weil ich zuerst das Gewehr auf der linken Schulter präsentierte, auf französische Art. Sehr oft sogar, immer, wenn ich nicht dran dachte. Das brachte ihn fast zum Platzen. Außerdem hielt ich den Kopf zu hoch, auch wie die Franzosen. Bei Preußens drückte man das Kinn auf die Brust, wenn man Befehle entgegennahm."
    In Andreas H. Dreschers Roman "Kohlenhund" - und das ist heute selten - wird Geschichte von unten erzählt. Das gilt auch für die Erfahrungen, die Michael Veltens Großvater als Wehrmachtssoldat auf dem Russlandfeldzug und später in Italien macht. Gerade im Direkten, oft Unreflektierten seiner Erzählweise lässt sich das Ausmaß des Grauens erahnen. Mehr als ein Ahnen lässt es aber nicht zu. Denn wie alle Zeitzeugen beschönigt der Sterbende gern, wie Großmutters Kommentare aus dem Nebenzimmer zeigen. Sie bezichtigen ihn ein ums andere Mal der Halbwahrheit und Lüge.
    Sackhüpfen mit Erich Honecker
    So bekommen die familiären Gewissheiten, die Velten die Kindheit versüßten, immer mehr Schlagseite. Das spiegeln auch die vielen beschriebenen Träume, die neue Deutungsebenen eröffnen. Veltens eigene Träume sind geprägt von Zerrissenheit und Trauer, während Großvaters von den hohen Morphium-Dosen befeuert werden. In ihnen taucht auch der "Kohlenhund" auf, der dem Roman seinen Titel gegeben hat: ein brennender Hund "mit einem Kopf wie ein glühendes Brikett".
    Konzessionen an die Unterhaltungsliteratur macht Andreas H. Drescher keine. Nicht glätten will er die Großvater-Biografie, sondern ihre Abgründe aufreißen. Doch gibt es auch einiges zu schmunzeln. Denn zeitgleich zum Prozess des Sterbens vollzieht sich 1989/90 der Zusammenbruch der DDR, dessen Bilder die Fernsehnachrichten übermitteln. So erzählt Großvater vom gemeinsamen Sackhüpfen mit Erich Honecker als Kind. Nicht nur an dieser Stelle blitzt bei allem Sterbens-Ernst Ironie in Dreschers atmosphärisch dichter Prosa auf. Sein Romandebüt ist in der Vielzahl der Tonlagen, in seiner mosaikhaften Struktur und Realitätsnähe für den Leser immer eine Herausforderung. Denn es unterläuft kunstvoll und systematisch den menschlichen Hang zur Nostalgie.
    Andreas H. Drescher: "Kohlenhund"
    Edition Abel, Saarlouis
    220 Seiten, 19,90 Euro