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"Anfänge der Abstraktion 1800-1914"

Nervös flackerndes und 36.000 Watt starkes Licht strömt unaufhaltsam aus 180 roten und blauen Lampen auf den Besucher ein, der die Ausstellung im Pariser Musée d’Orsay betritt, in der nach den "Anfängen der Abstraktion zwischen 1800 und 1914" geforscht wird. Am Ende des blendend grellen Lichttunnels, in Szene gesetzt von der belgischen Künstlerin Ann Veronica Janssens, dürfen sich die Augen wieder entspannen beim Blick auf das kleinformatige Ölbild Caspar David Friedrichs "Frau in der Morgensonne" von 1810. Die in Rückenansicht wiedergegebene Gestalt verdeckt die gleißend am fernen Horizont aufgehende Sonne. Zeitgenössische Installation zum Auftakt, gefolgt von einem Schlüsselwerk der deutschen romantischen Malerei und beides als Einführung zu einer Ausstellung über abstrakte Kunst? Ungewöhnlich auch der Ort, das Musée d’Orsay als nationales Museum für die Kunst des 19. Jahrhunderts. Der Kunsthistoriker Pascal Rousseau, der die Schau mit über einhundertfünfzig Exponaten konzipiert hat, klärt auf:

Von Björn Stüben | 05.11.2003
    Die abstrakte Kunst ist per se natürlich keine figurative Kunst. Aber mit unserer Ausstellung wollen wir deutlich machen, dass sich die abstrakte Kunst dennoch nicht völlig den Phänomenen unserer Wahrnehmung von Realität verschließt. Bisher wurde die Abstraktion in der Malerei allerdings immer mit dem Einfluss des Symbolismus oder der Theosophie und fast ausschließlich mit Künstlern wie Kandinsky, Malewitsch oder Mondrian in Verbindung gebracht. Und tatsächlich war für diese Künstler Abstraktion gleichbedeutend mit der totalen Abwendung von der Realitätsdarstellung.

    Unsere Schau handelt aber von den Anfängen der Abstraktion und denjenigen Künstlern, die sich im 19. Jahrhundert mit der wissenschaftlich fundierten Erforschung unserer Wahrnehmung auseinandersetzten und diese dann in ihrer Arbeit auf unterschiedliche Art und Weise reflektierten. Wir eröffnen unsere Ausstellung mit einer der bedeutendsten Figuren auf diesem Gebiet, mit Goethe und seiner viel beachteten "Farbenlehre". Für ihn resultierte die Wahrnehmung von Farbe aus dem polaren Gegensatz, dem Kontrast von Hell und Dunkel, der das Farbensehen erst ermöglicht. Diese Sichtweise faszinierte zunächst vor allem die Maler der deutschen Romantik. Die erste Ausstellungssektion widmet sich daher zunächst dem Kuriositätenkabinett Goethes, in dem wir alle Gerätschaften versammeln, die er für seine Forschungen benötigte. Anschließend werden die Maler von Casper David Friedrich über William Turner bis hin zu den Impressionisten und schließlich Sonja Delaunay gezeigt, die sich alle auf ihren Leinwänden mit dem Phänomen des Lichts auseinanderzusetzen versuchten.

    Monets Darstellungen der Kathedrale von Rouen bei unterschiedlichen Licht- und Wetterverhältnissen, Pelizza da Volpedos symbolistisch aufgeladene, alles überstrahlende Sonnendarstellung oder Emil Noldes Bild "Lichtzauber" zeigen ebenso deutlich wie van Goghs "Sternennacht" oder Whistlers aus schwarzem Bildgrund auftauchendes "Feuerrad", dass hier nicht der Gegenstand, sondern die Übertragung von Farbe und Licht in Malerei im Mittelpunkt steht. Doch von abstrakter Malerei sind sie alle reichlich weit entfernt. Liegen hier, in den figurativen Bildern der Impressionisten und Expressionisten, dennoch die Wurzeln der abstrakten Bilder von Johannes Itten oder Sonja Delaunay, die den ersten Teil der Ausstellung farbgewaltig beschließen?

    Macht es sich die Schau nicht zu einfach, in dem sie nur das gemeinsame Interesse an Licht und Farbe ins Auge faßt, aber den entscheidenden Unterschied unter den Tisch fallen lässt, nämlich dass sich die abstrakte Kunst der Abbildung von Realität verweigert? Im zweiten Teil der Schau wird ein anderer Verbündeter ausgemacht, die Musik.

    Die Musik ist abstrakte Kunst par excellence und daher wenden sich ihr auch bald die Künstler zu. Die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich ebenfalls verstärkt mit dem Dialog zwischen der Musik und der Malerei. Schließlich wird der Maler zum Komponisten, der seine Farben zu benutzen versucht wie ein Musiker seine Noten.

    Mit "Farben und Noten" ist ein Blatt aus Huths Traktat "Analogie von Farben und Tönen" aus dem Jahre 1888 betitelt. Kandinskys abstraktes, knapp zwanzig Jahre später gemaltes Bild "Fuge" erscheint wie dessen künstlerische Umsetzung. Wo allerdings die Wurzeln der Abstraktion in Moritz von Schwinds 1835 für Schuberts Musikzimmer konzipierten und mit feingliedrigen Arabesken dekorierten Aquarellen zum Thema der "Einsamkeit" zu finden sind, bleibt ein Rätsel. Schuld daran ist vielleicht ein offenbar recht theorielastiges Ausstellungskonzept, das nachzuvollziehen jedem Besucher leider schwer gemacht wird, denn in der Schau selbst wird dermaßen mit Erläuterungen gegeizt, dass einem nichts weiter übrig bleibt, als sich an den durchgehend qualitätvollen Exponaten sattzusehen, deren Zusammenstellung aber eben nicht immer einleuchten will.