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Anfang und Ende

Ein Kind wird geboren, eine neue Liebe beginnt, eine Karriere oder eine neue Zeit – Anfang bedeutet Hoffnung, aber auch Unsicherheit, Mühe ebenso wie Chance. Ende dagegen häufig Verlust und Trauer: das Ende einer Beziehung, einer Epoche – oder das Ende des Lebens.

Von Andrea und Justin Westhoff | 30.12.2010
    "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott ..."

    "Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich eröffne hiermit die Sondersitzung ..."

    "Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter. Eines Tages ..."

    "Ich war vom Moment an völlig verknallt, ich hatte das Gefühl, angefüllt zu sein so mit Entdeckungslust, mit Abenteuerlust, mit Lebenslust, ich hatte plötzlich das Gefühl, alle meine Sinne waren ausgefahren und das ist was, was ich bis dahin überhaupt nicht gekannt hab."

    "Das Wort Anfang beschreibt's eigentlich schon sehr gut, weil: Es ist wirklich ein absoluter Schnitt, mit dem kleinen Menschen, den man sozusagen auf die Welt gebracht hat, wird man auch ein neuer Mensch."

    "Wir wollten schon immer gerne uns selbstständig machen, man muss sich einfach rein stürzen und denken, entweder es klappt jetzt oder es klappt nicht."

    "Für unser Land, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat sich am 3. Oktober 1990 eine Hoffnung erfüllt. Gleichzeitig haben wir an diesem 3. Oktober eine einmalige Chance zum Neuanfang bekommen."

    "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
    Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben."


    "Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not
    frei unser Leben, stets zum Spiel bereit
    doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit
    nach Zeugung und Geburt, nach Leiden und Tod."


    WM 1954 "Aus, aus, aus, aus, das Spiel ist aus!"

    "Gemeinsam benutzt: Jahreszeiten, Bücher und eine Musik.
    Die Schlüssel, die Teeschalen, den Brotkorb, Leintücher und ein Bett.
    Eine Aussteuer von Worten, von Gesten, mitgebracht, verwendet, verbraucht. (...)
    Nicht dich habe ich verloren,
    sondern die Welt."


    Ingeborg Bachmann.

    "Die Meister des ersten Ranges geben sich dadurch zu erkennen, dass sie, im großen wie im kleinen, auf eine vollkommene Weise das Ende zu finden wissen, sei es das Ende einer Melodie oder eines Gedankens, sei es der fünfte Akt einer Tragödie oder Staats-Aktion."

    Friedrich Nietzsche.

    Alpha und Omega – Urknall und Weltuntergang

    "Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, spricht Gott, der Herr."

    Die Vorstellung von Anfang und Ende ist eine Säule des christlich-jüdischen, unseres abendländischen Denkens. Professor Ulrich Dehn, Theologe und Religionswissenschaftler an der Universität Hamburg:

    ""Grundsätzlich gehen wir heutzutage davon aus, dass die monotheistischen Religionen eine eher lineare Zeitvorstellung haben, die sich fortentwickelt und weitergeht, während die östlichen Religionen, aus dem indischen und aus dem chinesischen Bereich ein tendenziell zyklisches Zeitverständnis haben, in dem etwa mit der Vorstellung gearbeitet wird, dass Menschen wiedergeboren werden, in der keine ausdrückliche Fortentwicklung vorgesehen ist. Das ist eine eigentlich nicht zukunftsorientierte, sondern eher eventorientierte, von Geburt zu Geburt gedachte Art der Zukunftsvorstellung. Allerdings haben wir auch im Hinduismus diese Vorstellung der Weltzeitalter, das allerdings sich auch über viele Jahrhunderttausende erstreckt und im Prinzip aber auch als Zyklus gedacht ist. Also eines Tages wird es Menschen geben, die das Ende dieses Zeitalters erleben und quasi die Chance haben, wieder von vorne anzufangen."

    "Der Zeitgott eilt, ein Ross mit sieben Zügeln,
    Er altert nie und sieht mit tausend Augen.
    Die Weisesten besteigen seinen Wagen,
    Und alle Wesen ihm als Räder taugen."

    ... heißt es zum Beispiel im Hymnus an den hinduistischen Gott Kala aus alten indischen Schriften.

    Der Islam wiederum nimmt eine Zwischenstellung ein: Die Zeitvorstellung ist hier weder streng linear-progressiv noch zyklisch. Das Leben sieht der Koran als eine Ansammlung von Augenblicken, in denen sich der Mensch jederzeit richtig verhalten muss, denn am Ende steht – wie bei Christen – das jüngste Gericht, das über jeden Einzelnen entscheidet.

    Für alle monotheistischen Religionen gilt: Wichtiger als das "Woher", als die Frage nach dem Anfang, ist das "Wohin", die Eschatologie, das "Nachdenken über die letzten Dinge". Dieses Grundeinstellung wird in den drei Religionen allerdings unterschiedlich stark betont:

    Zum einen gibt es die Messiasvorstellung, also die Erwartung eines Erlösers, der zugleich heldenhaften Rächer ist, der die Leiden der Menschen beendet, der Feinde vernichtet und so die Zeit des Heils vorbereitet. Am stärksten ausgeprägt ist diese Vision in der jüdischen Religion

    "Im Judentum gibt es natürlich die Hoffnung und die Zuversicht, dass das zerstreute Volk Israel, das ja praktisch von der Zerstörung des Tempels bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts so nicht existiert hat, sich wieder endgültig versammelt, und wieder als Volk Gottes so existieren wird, in einem quasi auf Erden verwirklichten paradiesischen Zustand. Ansonsten gibt es auch im traditionellen Judentum nach wie vor die Vorstellung, die wir aus dem alten Testament, also aus der uns ja mit dem Judentum gemeinsamen hebräischen Bibel haben, mit apokalyptischen Auferstehungsvorstellungen, die da auch natürlich geteilt werden."

    "Dann sah ich einen großen weißen Thron und den, der auf ihm saß.
    Ich sah die Toten vor dem Thron stehen, die Großen und die Kleinen. Das Buch des Lebens wurde aufgeschlagen."


    Das Jüngste Gericht in der Apokalypse des Johannes.

    "Und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren. Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken."

    Apokalypse bedeutet eigentlich nur "Offenbarung, Enthüllung", wird aber von Christen, Juden und Moslems meist als religiöse Darstellung des Welten-Endes verstanden. Apokalyptische Texte beschreiben das Millennium – das bedeutet hier: ein tausend Jahre währendes Reich – als eine Art Übergangsstadium zum abschließenden Weltgericht und der Auferstehung der Toten, mit Paradies und vor allem mit der Hölle.

    "Wohin auch den Blick ich wende, wohin ich schaue
    und wohin ich mich kehre.
    Grobkörn'ger Hagel, Schnee und trübes Wasser
    fällt rastlos durch die finstre Luft hernieder."


    Aus Dantes "Inferno".

    "Der Boden stinkt, der solch Gemenge aufnimmt,
    und Cerberus, das Untier sondergleichen,
    rot ist sein Auge und schwarz der Bart und schmierig,
    der Bauch geschwollen, krallig sind die Hände;
    er kratzt die Geister, schindet und zerfleischt sie."


    "Diese Vorstellung, dass tatsächlich die Welt sich auf ein Ende hin bewegt, das ist kein wirklich aktuelles Glaubensgut, aber es ist Traditionsgut in diesen Religionen. Also, wir haben ja die Vorstellung im Christentum aber auch in anderen monotheistischen Religionen, dass die Zeit auf etwas hinläuft, was beispielsweise im Alten Testament bereits mit der Auferstehung der Totengebeine umschrieben wird, das ist im Prinzip der Kern christlicher, aber auch jüdischer Zukunftsvorstellung einer gesamt-menschheitlichen Entwicklung auf die allgemeine Auferstehung hin, die allerdings so in dieser Aktualität im Grunde nur noch in jeweiligen Randgruppen lebendig gehalten wird."

    Tatsächlich sind es heute fundamentalistische Sekten, die das baldige, schreckliche Ende propagieren, weil sie unter Kosmophobie leiden, ein psychologischer Begriff für "Weltenangst". Krisen, steigende Kriminalität und Naturkatastrophen gelten ihnen als "Zeichen" für den nahenden Weltuntergang. Schon in der Antike und noch mehr im Mittelalter waren die Prophezeiungen mit konkreten Daten versehen. Zu deren Sinn vertritt der Religionswissenschaftler Ulrich Dehn die folgende These:

    "Diese Versuche, das Ende der Welt terminiert genau vorauszusagen, sind ja in der Regel ein Versuch, diese Voraussagen zu instrumentalisieren für bestimmte Dinge, die in den Religionsgemeinschaften passieren sollen, für irgendwelche Angelegenheiten, die bis zum Weltende erledigt werden sollen und möglicherweise auch zum Erzwingen von Wohlverhalten und so weiter und so fort."

    Wenn der auf den Tag genau vorhergesagte "Supergau" kläglich ausbleibt – wie etwa an der Millenniumsgrenze 2000 – dann finden Sektierer flugs ein neues Datum.

    Jetzt dürfen wir uns vor dem Untergang am 21. Dezember 2012 fürchten, denn für diesen Tag sagt der Maya-Kalender das Ende des Kosmos voraus. Hollywood-Regisseur Roland Emmerich hat schon 'mal vorsorglich den Film zum Untergang gemacht – mit dem Titel "2012".

    Die apokalyptischen Szenarien sind grundsätzlich bildgewaltig und auch faszinierend. So werden alle möglichen menschlichen Ängste genutzt.
    "Zerstörung der Erde durch Außerirdische, der Planet verschwindet."

    "Die Menschen machen's selbst. Die Welt geht durch selbst entwickelte Maschinen zugrunde - Roboter, künstliche Intelligenz."

    "Viel schlimmer: ein Atomkrieg oder die Klimakatastrophe mit ihren unaufhaltsamen Folgen."

    "Wenn nicht vorher ein großer Komet aufschlägt oder ein Asteroid mit der Erde kollidiert."

    "Möglich auch, dass ein Vulkanausbruch mit Rauch und Asche die Temperatur auf unserm Globus so stark senkt, dass alles Leben zugrunde geht."

    Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es um's Grauen geht.

    Auch wenn Sektengurus und religiöse Eiferer – allen voran die christlichen Kreationisten – es nicht wahrhaben wollen: Schon seit Jahrhunderten sind sich Kirchen und Wissenschaft einig, dass Entstehung und eventuelles Ende der Welt nicht wörtlich aus der Bibel abgelesen werden können.

    Die Wissenschaft belegt, dass das Weltall aufgrund physikalischer Entwicklungen entstanden ist und nicht durch eine gelenkte Schöpfung. Vor etwa 15 Milliarden Jahren gab es den Urknall, womit jedoch keine Riesenexplosion gemeint ist. Vielmehr hat sich alles – Materie, Raum und Zeit – in einem Sekundenbruchteil extrem schnell auf eine beträchtliche Größe aufgebläht, am Anfang als ein heißer, undurchsichtiger Brei, bald dann kalt und stockdunkel. Erst nach und nach, in einigen hundert Millionen Jahren, haben sich die ersten Sterne aus beim Urknall entstandenem Wasserstoff und Heliumgas gebildet.

    "Alles ist vorherbestimmt, Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben."

    Albert Einstein, dem mit zunehmendem Wissen und Alter klar wurde, dass der Natur nicht alle Geheimnisse abgetrotzt werden können.

    "Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt."

    Anfang und Ende – das ist nicht nur ein weltumspannendes wissenschaftliches und philosophisches Thema. Jeder Mensch macht Erfahrungen wie das Ende einer Beziehung, den Abschied aus dem Arbeitsleben, den Verlust eines Angehörigen – Erfahrungen, mit denen man schlecht fertig wird.

    Und der Anfang, eine Geburt, Heirat, ein neuer Job? Das zumindest könnte mit ungetrübter Freude einhergehen. Die Psychoanalytikerin Eva Jaeggi:

    "Es gibt ja nun das berühmte Wort von Hesse "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" – das stimmt nicht immer. Das gibt es natürlich, der Anfang einer Liebesbeziehung, auch Berufsanfang, das kann schon sehr aufregend und schön sein, aber gerade diese Schwellensituationen, das kann durchaus dazu führen, dass plötzlich die Probleme, die jemand schon längere Zeit gehabt hat, aber irgendwie bewältigen konnte, ganz akut werden und ihn sogar in die Therapie führen."

    Aller Anfang ist schwer

    ""Ich würde mal behaupten, das kennt jeder, der schreibt, egal für welches Medium, man hat immer irgendwelche Gedanken, weiß ungefähr, was man schreiben will, aber das wirklich zu Papier zu bringen, auszuformulieren, das ist immer der Knackpunkt, die Phase vor dem ersten Ansetzen des Stiftes auf dem Papier kann sich durchaus lange hinziehen, ja, da wird jede Hausarbeit plötzlich sehr attraktiv, und dann ist es wirklich jedes Mal ganz anders. Häufig ist es so, dass man erst mal wahllos drauflos schreibt, Assoziationen oder eine Figur versucht zu beschreiben, die man im Kopf hat oder ein Handlungsstrang oder eine Szene, eine Stimmung, es wird aber fast ständig umgeschrieben, geändert, verworfen und wieder überarbeitet.""

    Johannes Disselhoff hat an der Filmhochschule München studiert, schreibt Drehbücher, arbeitet als Regieassistent, macht eigene Filme. Was er hier beschreibt, das ist aber nicht nur typisch für Roman- oder Filmautoren, sondern für alle, die zu neuen Taten aufbrechen. In jedem Anfang stecken Hoffnungen und Chancen, aber Anfang heißt auch: man muss handeln. Und das bedeutet Aufbruch ins Unbekannte, Wagnis, die Möglichkeit, Fehler zu machen. Sowohl Neugier als auch Angst begleiten den Beginn.

    "Dass es beides gibt, die Lust etwas Neues zu machen, neues Terrain zu erkunden, und die Angst davor, denke ich, ist ganz klar, es ist nur sehr ungleich verteilt bei den einzelnen Individuen."

    ... sagt die Therapeutin Eva Jaeggi aus ihrer langjährigen Erfahrung.

    "Es gibt Menschen, die bei jedem Anfang hell begeistert sind, sich sofort einsetzen und auf Wolke sieben schweben, egal, ob es eine neue Liebe ist oder ob es ein neuer Beruf ist, und es gibt solche, die alles mit großem Zögern angehen und die eher ängstlich sind, die sich nicht viel zutrauen, deren Selbstwertgefühl nicht sehr hoch ist, und das kann im günstigen Fall jemand sein, der sich die Dinge sehr genau überlegt, im ungünstigen Fall sind's halt die ewigen Zögerer und Zauderer, und die Umwelt verzweifelt dann daran, wenn sich nie jemand wirklich entscheiden kann."

    Mit diesen Nachfahren Hamlets verdienen mittlerweile unzählige Lebensberater und Coaches richtig viel Geld, und es gibt Hunderte von Ratgeberbüchern zum beherzten Neuanfang.
    Oft ist es zudem nicht das Individuum, das sich selbst im Weg steht, sondern die kollektive Erwartungshaltung, die zum Fehlstart führen kann. Die Psychoanalytikerin und Theologin Dr. Dorothee von Tippelskirch:

    "Es gibt ja so naive Vorstellungen: die Geburt eines Kindes, das ist was ganz Tolles, der Beginn einer neuen Stelle ist etwas Wunderbares, aber die Last, die auf die Anfänger gelegt wird, dass das jetzt alles nur wunderbar sein soll, und dass in der Regel die Menschen nicht wissen wollen, mit wie viel Not das vielleicht einher geht, also auch dieses rosarote Bild von Eheschließungen, wie viel Ängste gibt es dabei, und die sind ja durchaus berechtigt, und meistens wollen die andern es eher nicht hören. Sodass die Anfänger oft mit ihren Ängsten allein gelassen sind, und das tut dem Anfang nicht gut."

    Der Druck entsteht aber auch, weil der Anfang so wichtig für alles Weitere ist. Oder, mit Goethe:

    "Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande."

    Exemplarisch dafür: der gelungene Filmanfang. Johannes Disselhoff:

    "Das wichtigste Ziel ist, dass es dich irgendwie sofort erreichen muss. Deine Aufmerksamkeit, sei es über Neugier, sei es über eine Überraschung oder über ein bekanntes Gefühl, was man gerne empfindet, irgendwie muss es den Zuschauer in dem Fall wirklich erreichen und möglichst ganz schnell interessieren und binden an das, was jetzt kommt. An der Filmhochschule hab ich mal einen Dozenten gehabt, der hat immer gesagt: "use exposition as emunition", also die Exposition, das Einführen, sei es von Charakteren, von Schauplätzen, als Munition benutzen, also damit gleich ein Feuerwerk entfachen."

    Das geht auch ohne Worte.

    "ie ersten zehn Minuten wird praktisch nicht gesprochen. Man sieht und hört nur knarrende Türen, Wassertropfen, ein quietschendes Windrad, einen krähenden Hahn, knackende Fingergelenke, eine Fliege auf dem unrasierten Gesicht eines Schurken, dann einen herannahenden Zug. Musik untermalt, wie drei Männer mit Hüten und langen Mänteln eine kleine Bahnstation besetzen und den Bahnwärter einsperren, um auf den Mann mit der Mundharmonika zu warten."

    Sicher: Jeder denkt vermutlich an einen anderen, "perfekten" Film- oder auch Romanbeginn.

    Die "Initiative Deutsche Sprache" sowie die "Stiftung Lesen" haben 2007 über den schönsten ersten Satz in der deutschsprachigen Literatur abstimmen lassen. Auf Platz eins "Der Butt" von Günther Grass – gerade mal drei Worte:

    "Ilsebill salzte nach."

    Und klar ist auch: ein guter Anfang garantiert noch kein gutes Ende. Aber ein schlechter Start macht den weiteren Weg zumindest beschwerlicher. Das gilt um so mehr, wenn Anfang und Ende nicht klar voneinander zu unterscheiden sind.

    Die Stunde Null

    "Ich war ja damals ein Kind, ich war dreizehn Jahre, und wir sind uns wirklich alle um den Hals gefallen, weil wir es einfach nicht glauben konnten, was wir in der Vergangenheit durchlebt hatten, und dass jetzt das alles vorbei sein sollte. Und wir sind rausgegangen und dann war es, wie es manchmal im Film ist, dann sind wir auf die Dorfstraße, und da waren schon die Panzer da und die Amerikaner waren da, und die haben uns dann Schokolade gegeben und es war für mich besonders das Paradies, und ich hab gewusst: Jetzt kann ich leben."

    Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, war von einer Bauernfamilie in Mittelfranken in einem Keller vor den Nazis versteckt worden.

    Andererseits: Marga Becker-Ambrock, später Rundfunksprecherin beim RIAS Berlin. Sie war 15 Jahre alt im Mai 1945.

    "In meinem Falle, als Evakuierte, da begann dann schon die Auflösung, man konnte wochenlang den Kanonendonner von der Oderfront schon hören, also der Krieg war praktisch von der Tür, oder das Kriegsende; dann diese ewige Angst, was machen die Angehörigen? Existiert die Wohnung noch? Keiner wusste ja, wie es weitergeht, ich weiß nicht, wie man da an eine Zukunft glauben sollte. Ich hatte gar keinen Zukunftsglauben mehr, aber meine Mutter, die sagte immer 'Du musst weiterdenken und ich sage dir, in 20 Jahren', - sagte meine Mutter - 'wird das hier alles anders sein, da werden wieder Lichter in den Häusern sein'."

    Das Kriegsende 1945 zeigt exemplarisch: Manchmal fallen Ende und Anfang zusammen. Europa liegt in Trümmern, für 56 Millionen Gefallene und Ermordete das absolutes Ende. Die Überlebenden aber empfinden es sehr unterschiedlich je nachdem, was sie er-lebt haben: als gefangene Soldaten oder Kriegsheimkehrer, als Verfolgte oder überlebende KZ-Häftlinge, als vergewaltigte Frauen oder als Vertriebene.

    Es war zugleich der Beginn der Teilung Europas und ein vorläufiges Ende der gemeinsamen Deutschen Geschichte. Neuanfang hieß für sehr viele: bewusstes Verdrängen der Vergangenheit. Erst die Studentenbewegung ab den sechziger Jahren forderte Erinnerung und Schuldeingeständnis ein. Die meisten Deutschen sprachen jedoch weiter vom "Tag des Zusammenbruchs". Schluss mit dieser verharmlosenden Geschichtsbetrachtung machte Richard von Weizsäcker.

    "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."

    ... deutete das Kriegsende – am 40. Jahrestag – endlich offiziell ein Bundespräsident.

    "Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai überhaupt erst begannen. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. Es gab keine Stunde Null, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt."

    Die gesellschaftliche Debatte über eine "Stunde Null" oder über deren Bedeutung, um Niederlage oder Befreiung, sie war damit aber doch nicht abgeschlossen. Auch in der Geschichtswissenschaft flammte sie wieder auf, spätestens mit der Wiedervereinigung, als DDR-Bürger ihre ganz anderen Erfahrungen einbrachten, zu Recht. In einem Punkt aber positionierte sich bei einer Diskussion der Faschismusforscher Professor Wolfgang Wippermann von der FU Berlin sehr eindeutig.

    "Für viele Deutsche war es ein Tag der Niederlage, aber für viele war es ein Tag der Befreiung, in den Konzentrationslagern, die Widerstandskämpfer, all die sind befreit worden. Und jetzt ist die Frage, wie gewichten wir diese unterschiedlichen Perspektiven und die unterschiedlichen Erinnerungen. Und wenn wir sagen, dass der Holocaust, das zentrale Ereignis dieser Zeit war, das die Epoche geprägt hat, dann ist das Ende des Holocaust insofern eine Befreiung. Und wer leugnet, dass es eine Befreiung war, leugnet dann auch die epochale Bedeutung des Holocaust, und dem müssen wir Einhalt gebieten."

    Bei derselben Veranstaltung fügte Manfred Görtemarker, Professor für neuere Geschichte von der Uni Potsdam, eine Differenzierung hinzu.

    "Man muss wirklich unterscheiden zwischen den Entwicklungen in den westlichen Besatzungszone und in der sowjetischen Besatzungszone. Die Ostdeutschen haben in ihrer großen Mehrheit den Tag der Befreiung nicht nur als Tag der Befreiung erlebt, was es auch war, sie haben ihn auch als Beginn einer neuen Diktatur erlebt. Und das ist die doppelte Tragik der deutschen Geschichte, die können wir auch nicht wegdiskutieren. Und insofern würde ich übrigens so weit gehen zu sagen, die DDR ist in dieser historischen Entwicklung eine Zwischenphase gewesen, und diese Zeit ist eigentlich erst 1989/90 durch die Selbstbefreiung der DDR von den Fesseln des Kommunismus zu Ende gegangen. Und erst jetzt haben wir als wiedervereinigtes Land die Chance, unsere eigene Zukunft neu zu finden."

    "
    (Kohl) Das erste, was ich Ihnen allen zurufen will, ist ein herzlicher Gruß ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland

    (Schabowsky) Äh - Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Das tritt, nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.

    (An der Grenze) Ist so ergreifend, ich kann gar nicht anders ja, also ich bin fertig. Das ist ein Gefühl in der Seele, ja, ich kann gar nicht sagen, wie einem zumute ist.

    (Momper) Gestern Nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt.

    (Brandt) Es wird jetzt viel davon abhängen, ob wir uns, wir Deutschen hüben und drüben der geschichtlichen Situation gewachsen erweisen.

    Deutschland 1989 – weltweit in den Nachrichten. Was hier geschah, war zweifellos eine Zäsur der Weltgeschichte. Aber sie wurde ebenfalls sehr unterschiedlich erlebt.

    Bergmann-Pohl) "Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt (Jubel)

    (Gysi) Frau Präsidentin: Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 (geht im Jubel unter)"

    In den Vereinigungsjubel mischten sich bald auch Bitterkeit und Enttäuschung. Denn während es im Westen eine zumindest scheinbar ungebrochene Kontinuität der Geschichte gab, erlebten die Menschen auf der ostdeutschen Seite einen tiefen Bruch, der das ganze bisherige Leben in Frage stellte. In seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit versuchte Bundespräsident Christian Wulff,das Positive auch an dieser Situation hervorzuheben:

    "Viele konnten ihre Hoffnungen endlich verwirklichen – reisen, wohin sie wollten, das studieren und lesen, was sie wollten, diskutieren, was und mit wem sie wollten, sich frei für einen Beruf entscheiden oder sich mit den Ideen selbstständig machen. Andere haben jahrelang um einen persönlichen Neuanfang gerungen, manche bis heute. Gewiss ist auch Erhaltenswertes verloren gegangen. Aber unendlich Wertvolles wurde gewonnen: die Erfahrung der Menschen, dass sie mit ihrem Mut zur Veränderung ihr eigenes Leben in Freiheit gestalten konnten. Damit haben sie vorgelebt, wie Umbrüche zu meistern sind, für das persönliche Glück wie für unser aller Zusammenhalt. "

    Einen Neuanfang gut zu meistern – im Politischen wie im Persönlichen – heißt auch, sich das Ende bewusst zu machen, sagt die Psychotherapeutin Eva Jaeggi.

    "In vieler Hinsicht wird man Dinge, die man beenden musste oder die ein anderer beendet hat, als ein Scheitern ansehen, aber in diesem Scheitern kann man sehr oft dann auch etwas finden, was sehr wichtig ist, nämlich: Dinge müssen zu Ende gebracht werden. Es haben viele Dinge, viel Beziehungen, viele Verhaltensweisen, viele Lebensformen ihre Zeit, und wenn man verzweifelt versucht, sie festzuhalten, dann lebt man eben in einer verkehrten Welt."

    ... und wer einen Anfang erfolgreich gestalten will, sollte das vorhergehende Ende durchaus betrauern.

    "Trauer über das Ende ist ein wesentliches Moment des menschlichen Daseins, und es ist schwierig, wenn man nicht diesen Prozess des Trauern durchlaufen hat, etwas Neues zu beginnen. Die neuen Dinge werden von manchen Menschen dann ganz schnell, damit man sich der Trauer nicht stellen muss, angegangen, aber es tut dem meistens sehr schlecht. Es wird dann auch nichts rechtes aus den neuen Anfängen."

    "Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    mag lähmender Gewöhnung sich entraffen."

    Hermann Hesse: "Lebensstufen".

    "Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
    Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
    des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
    wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!"


    Abschied und Verlust – wenn alles zu Ende scheint

    "(Pater Bernhard) Ende bedeutet auch, dass ich Dinge mal hinter mir lassen muss, einfach eben Abschiede.

    (Arbeitslose) Also, man wusste genau, von 8 bis – was weiß ich – 17 Uhr ist man auf seiner Arbeit, und diese Struktur fällt auf einmal weg. Und viele, viele Kontakte oder Freundschaften am Arbeitsplatz zerbrechen auf einmal; und dann sind es vielleicht noch die eigenen Scham- und Schuldgefühle,

    (Köhler) Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Mit sofortiger Wirkung.

    (Pater Bernhard) Vielleicht ist es auch manchmal der kleine Tod im Alltag, der uns lehren kann, den großen Tod ernst zu nehmen.

    (Tagesschau) Guten Tag, meine Damen und Herren. Millionen Menschen haben heute in London Abschied genommen von Prinzessin Diana."

    Verglichen mit dem Tod mögen andere Ensituationen weniger dramatisch sein: Vorübergehende Abschiede, endgültige Trennungen, der Ausstieg aus dem Beruf, das Jahresende. Doch ein bisschen Wehmut oder Traurigkeit ist wohl immer dabei, vielleicht weil jedes Ende auch an die Begrenztheit unserer Existenz, an die "Endlichkeit" nach der christlich-abendländischen Zeitvorstellung rührt:

    "Das menschliche Leben ist biblisch, christlich eines, das beginnt, eines das auch endet, mit all der Freude, die dem Anfang innewohnt und mit all der Trauer, dem Schmerz, was sich mit dem Ende verbinden mag."

    Da die Psychologin Dorothee von Tippelskirch auch Theologin ist, bestreitet sie gewiss nicht, dass insbesondere Hinterbliebene Trost im Glauben finden können. Für falsch hält sie allerdings die Behauptung, früher hätten Menschen den Tod generell leichter genommen, weil sie stärker an das Jenseits glaubten:

    "Ich halte das für eine naive Vorstellung, dass es in früheren Generationen so ganz anders gewesen sein soll, die Schmerzlichkeit des endlichen Lebens, die ist sicherlich immer so empfunden worden. Ein Unterschied könnte darin bestehen, dass es in früheren Generationen sehr viel mehr Erfahrung damit gab. Also, dass ja tatsächlich in den kinderreichen Familien die Kindersterblichkeit eine ganz andere Rolle gespielt hat, noch Freud zu Beginn des letzten Jahrhunderts zählt unter die in bestimmten Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens vorkommenden Trauersituationen, Verlustsituationen ganz selbstverständlich für die junge Frau den Verlust eines ihrer Kinder bei der Geburt, und mir scheint häufig, dass wir da sehr naiv geworden sind, weil das für uns alles unvorstellbar geworden ist."

    "Ich lege mich nie zu Bett ohne zu bedenken, dass ich vielleicht – so jung ich bin – den anderen Tag nicht mehr sein werde ... "

    Wolfgang Amadeus Mozart, der nur 35 Jahre alt wurde.

    "Und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgang mürrisch oder traurig wäre."

    Damals war man sich des Todes wohl bewusster. Dazu passt, dass die Idee von einer Unsterblichkeit eher ein Albtraum als eine Wunschvorstellung war. Die Psychotherapeutin Eva Jaeggi:

    "Es gibt ein wunderbares Kapitel in dem Buch "Gullivers Reisen", da ist eine Insel, da kommt also der Gulliver hin, und das ist eine Insel, da stehen immer in manchen Straßenecken alte Menschen verbittert, und irgendwie hat man das Gefühl, denen geht's ganz schlecht, und die haben ein Zeichen auf der Stirn. Und dieses Zeichen bedeutet, dass sie nicht sterben können. Und jede Mutter hat entsetzliche Angst, dass ihr Kind mit einem solchen Zeichen geboren werden könnte, denn jeder weiß, wie schrecklich es ist, nicht sterben zu können und unendlich lange leben zu müssen."

    Manche empfinden dies immer noch als Horror – nicht zuletzt mit Blick auf die Situation alter Menschen zum Beispiel in Pflegeheimen. Wenn aber das endgültige Ende tatsächlich kommt, wird das mehr denn je als Schock erlebt, weil sich viele Menschen nicht mehr auf diesen natürlichen Teil des Lebens vorbereiten mögen. Vielmehr blickt unsere Generation fasziniert auf wissenschaftliche Anstrengungen bei der Suche nach Unsterblichkeit, nach "ewiger Jugend":

    Normale Zellen im menschlichen Körper teilen sich zwar immer wieder, ihre Chromosomen werden dabei an den Enden aber von mal zu mal kürzer – so altern die Zellen und sterben schließlich ab. Bei Krebszellen hingegen werden die Enden nicht verkürzt, sodass sie weiter wuchern. Der Nobelpreis für Medizin 2009 ging an die US-Forscher Elizabeth Blackburn, Carol Greider und Jack Szostak. Sie haben das Enzym in Krebszellen entdeckt, welches zu deren "Unsterblichkeit" führt. Es ging den Genforschern um Fortschritte in der Krebstherapie. Aber es wird auch spekuliert, ob aus diesen Erkenntnissen die Möglichkeit erwächst, Körperzellen länger jung zu halten, das menschliche Leben also zu verlängern.

    So lange so etwas nicht möglich ist, bleibt für Manchen wenigstens die Hoffnung auf Unendlichkeit nach dem irdischen Dasein.
    Bei einem Menschen ist das etwas anderes als bei der Gesellschaft insgesamt: Wenn die so tut, als ob – als ob das Leben unendlich sei – dann ist das aus theologischer, aber vor allem psychologischer Sicht keine gute Entwicklung.

    Das "Unheilige" am Unendlichkeitstraum – für Individuum und Gesellschaft – sieht Karlheinz Geißler. Der emeritierte Professor für Wirtschaftspädagogik ist Mitbegründer der "Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik". Er warnt schon seit Jahren vor den Folgen unserer Nonstop-Gesellschaft:

    "Ich denke, es ist eine Entwicklung, die nach der Aufbauphase, nach die Krieg bei uns eingetreten ist. Zum einen löst sie sie auf, diese Struktur von Anfang und Ende, weil sie massiv selbstbeschleunigt ist und gar keine Zeit mehr hat, einen Anfang zu setzen und ein Ende zu setzen. Zum anderen gibt es in einer weltweiten Ökonomie natürlich ein Prinzip, das ist das "Immer-und-Überall". Das heißt, wenn ich immer und überall bin, dann habe ich meinen höchsten Profit. Das ist der Trend, der sich aus eine weltweiten Ökonomie ergibt, die Börsen, die entsprechenden Geschäfte und so weiter laufen rund um die Welt und rund um die Uhr."

    Dieser klägliche Versuch, Unendlichkeit herzustellen, führe in Wirklichkeit nur dazu, dass dem Menschen der Rhythmus verlorengeht – das heißt nichts anderes als zusätzlicher Stress. Unser Tag spielt sich nicht mehr zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang ab.

    "Der Bauer hat gesagt: Mein Programm ist gegeben durch die Naturzyklen und durch die Tagesrhythmen, klar. Das können wir nicht mehr sagen."

    Dafür gibt es – historisch gesehen – mehrere Gründe.

    "Das eine ist, dass in diesen Jahrhunderten zunehmend mehr der Handel aufblühte, und längere Strecken bewältigt wurden, und es mehr Formen der Koordination geben musste, die ein anderes Zeitmodell nötig machten als die Zeit nur an Naturprozessen zu orientieren. Und zur gleichen Zeit wurde dann die Räderuhr entwickelt, die eben genau das möglich gemacht hat, das Zeit relativ unabhängig von Naturprozessen gemessen und strukturiert werden konnte."

    Und heute, ein paar Jahrhunderte später? Sogar jene Zeiten sind vorbei, da sich allabendlich die Familie versammelte, um mit gemeinsamem Abendessen und mit der "Tagesschau" den Werktag abzuschließen und den Feierabend einzuläuten. Im Zeitalter von Kabelfernsehen und Festplatten- oder DVD-Rekorder können wir rund um die Uhr das glotzen, was uns gerade einfällt: kein Anfang, kein Ende, nur noch anschalten und umschalten. Auch lange Ladenöffnungszeiten und Einkaufsmöglichkeiten im Internet lassen keine Pausen zu. Im heute gültigen Fortschritts-Modell ist eine Voll-Endung nicht vorgesehen. Hektisch wird das Neue durch das noch Neuere ersetzt, immer wieder.

    "Das, was wir gemacht haben in unserer Gesellschaft, ist eine Entrhythmisierung zugunsten der Einführung von Takten. Maschinentakten, Zeittakten der Bundesbahn, also Organisationsformen, die sich nicht an Rhythmus orientieren, sondern an irgendwelchen Zielen wie zum Beispiel Ökonomie oder Gewinn oder Verlust oder was auch immer. Wir bekommen ganz viele Angebote an verschiedenen Takten."

    Diese Form von Takt-Losigkeit hat eine weitere negative Folge, sagt Ökonomie-Professor Karlheinz Geißler, der heute ein Institut für Zeitberatung namens "times-and-more" leitet. Denn der Einzelne und genauso die Gesellschaft, sie brauchen vor allem auch Zäsuren, bewusste Abschlüsse und Anfänge.

    "Zäsuren, wo er über das nachdenkt, was war; und das, was in Zukunft sein wird, denn sonst ist der Mensch eben nur ein Getriebener, ein durch sich oder durch andere Getriebener, und kommt nicht zu sich. Sondern ich brauche einfach Plätze und Stellen, wo ich nach hinten blicke und etwas loslasse, und wo ich nach vorne blicke, um etwas, was ich möchte, fassen zu können."

    Zäsuren sind also nicht einfach Verschnaufpausen, sondern sinnvolle "Zwischenzeiten" – ausgefüllt mit Ritualen zum Beispiel – gerade auch dann, wenn es um die eher betrüblichen Situationen, um Abschiede, geht.

    Auf dem Bahnhof steht der ICE, wie ein Pfeil in die Zukunft weisend, nur eine Minute zum Einsteigen wird gewährt, und die Menschen verschwinden im Super-Zug wie in einem schwarzen Loch. Die verspiegelten, getönten Scheiben erlauben keinen sehnsüchtigen Blick, die Fenster lassen sich nicht öffnen, kein Hinauslehnen, bis der Zug den Bahnhof endgültig verlassen hat, kein Winken. Der eine wuchtet seinen Koffer auf die Ablage, die andere knüllt das Taschentuch verlegen in der Hand, für sich alleine halt."

    Was bleibt, ist ein Gefühl der Leere, ohne tröstliches Ritual. Womöglich verzichtet man darauf aus Angst vor dem Schmerz, der vermeintlich noch größer wird, wenn man den Moment der Trennung auch noch zelebriert. Aber meist ist eher das Gegenteil der Fall. Gilt doch zum Beispiel sogar bei Beerdigungsritualen die alte Volksweisheit vom heilsamen "geteilten Leid". Und wenigstens die nicht-endgültigen Enden tragen in sich eine Ahnung von Unendlichkeit – oder aber auch von einem Wieder-Beginn, in neuem Gewand, in veränderter Gestalt.

    Der chinesische Philosoph Laotse, der "alte Meister", sagt:

    "Was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling."

    Ende happy, alles gut.

    "Damit ist Sebastian Vettel Formel-1-Weltmeister! Das Wunder es ist wahr geworden: Sebastian Vettel hat es doch noch geschafft. Jubel

    Ein ganzes Land feiert die Rettung der Bergleute und nicht zuletzt sich selbst, weil es gelungen ist, schier Unmögliches möglich zu machen. Das Wunder von Chile ist vollbracht.

    Kate Middleton und Prinz William werden endlich heiraten. Die freudige Nachricht versüßte auch dem britischen Premier David Cameron den Tag. Es brach ein großer Jubel aus, wir schlugen auf die Tische."

    " ... und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende". Nur Kitsch? Diesen Märchenschluss gibt es doch auch im Leben, den glücklichen Ausgang einer langen beruflichen Mühe oder sportlichen Plackerei, das Wunder von Lengede oder Chile, die funktionierende Love-Story. Nicht ohne Grund ist der Begriff "Happy End" vom Film in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.

    In Hollywood, der Traumfabrik, war das glückliche Ende jahrzehntelang der Weisheit und damit des Films letzter Schluss:

    Was immer auch passierte, am Ende mussten die Verliebten sich kriegen, der Protagonist Erfolg haben, die Täter geschnappt, das Böse besiegt, die Welt gerettet werden. Kein Frühstück bei Tiffany, keine Verwechslungskomödie und sogar kaum ein Hitchcock ohne Happy End. 70 Prozent der Zuschauer - so hatte 1950 eine Filmvorführung mit zwei unterschiedlichen Schlüssen ergeben – mehr als zwei Drittel wollten einen "guten" Ausgang der Geschichte sehen.

    Johannes Disselhoff, der selbst Drehbücher schreibt und Filme macht:

    "Weil die meisten Menschen ins Kino gehen zum Beispiel oder eben Geschichten hören oder sehen wollen, um sich irgendwie gut zu fühlen. Keiner macht das, weil er sich danach scheiße fühlen will. Das geht natürlich auch ohne Happy End, man kann auch ein tragisches Ende oder ein halboffenes Ende erzählen und trotzdem beim Zuschauer das Gefühl evozieren, dass es sich gelohnt hat, diese Geschichte zu sehen oder zu hören."

    ... zumal es sehr auf die persönliche Perspektive ankommt, ob ein Ende gut ist. Gut für wen?

    Da, wo der Kaffee besonders schwarz ist, ein Mann noch ein echter Kerl und der Whisky hochprozentig, im Western bleibt die angebetete Lady meist alleine zurück. Zwar siegt auch in diesem Genre am Ende das Gute. Doch der Lonesome Cowboy muss weiter, der Sonne und neuen, guten Taten entgegen. Etwa John Wayne im "Schwarzen Falken" von John Ford:

    "Er hat sie heldenhaft zurückgebracht, die zwei von Indianern entführten weißen Mädchen. Die Kamera zeigt, wie der Protagonist auf eine Tür zugeht. Drinnen warten Liebe, Heimat, ein Zuhause. Doch er macht kehrt, geht wieder. Schluss-Blende."

    Oder viele der Stummfilme von Chaplin.

    "Charlie, der kleine melancholische Tramp, entschwindet auf einer unendlich langen Straße, allein – aber irgendwie hat der Zuschauer das Gefühl, da hinten oder dort wartet schon das nächste Abenteuer auf ihn."

    "Ich glaube, dass die Herausforderung darin besteht, ein Happy End zu erzählen, was nicht aussieht wie ein Happy End. Wenn einfach zum Schluss plötzlich alles irgendwie schön und gut ist, ist es zu unglaubwürdig, es muss irgendwie glaubwürdig sein, das ist die große Kunst beim Ende schreiben, dass man ein Ende findet, was der Geschichte so weit folgt, dass es eben plausibel und innerhalb der Geschichtswelt logisch und nachvollziehbar ist."

    Deshalb ist nicht nur aller Anfang schwer, auch um den Schluss muss meist gerungen werden – und auch wenn hier noch vom Film die Rede ist – eigentlich geht es schon längst um mehr als Fiktion. Johannes Disselhoff:

    "Bei mir ist es zumindest so und ich denke bei vielen anderen auch, dass relativ früh im Kopf eine Vorstellung von dem Ende besteht. Das heißt aber nicht, dass, wenn man dann dort angekommen ist, dass es leicht ist, das umzusetzen. Häufig hat sich im Laufe des Schreibens die Geschichte verselbstständigt und hat irgendwie ein eigenes Leben genommen, das ist, glaub ich, auch wichtig, dass man das zulässt, dieses Ende, was man im Kopf hatte, ist dann häufig gar nicht mehr so, wie es gedacht war, und man muss es irgendwie umformulieren oder neu finden. Und das ist für mich zumindest immer die größte Schwierigkeit."

    Und dann fällt dem Drehbuchautoren und Filmemacher ein:

    "Wenn man nach dem Ende als Zuschauer das Gefühl hat, eigentlich war das einzig mögliche Ende – innerhalb von dieser Geschichte, und trotzdem hat man es nicht vorhersehen können oder ahnen können, dass es das ist. Eigentlich ging's nicht anders. Das macht ein tolles Ende aus."

    "Ein nebliger Abend auf dem Flughafen von Casablanca, Rick, also Humphrey Bogart, übergibt Capitaine Renault zwei Transit-Visa. Anders aber als geplant soll Ingrid Bergmann, also Elsa, doch mit ihrem Mann Viktor Lazlo das Land verlassen."

    "(Elsa) "Nein, Richard, nein! - ...

    (Rick) Im Grunde wissen wir beide, dass Du zu Viktor gehörst. Du bist Teil seiner Arbeit, du gibst ihm die Kraft, weiter zu machen. Wenn Du jetzt nicht mit ihm gehst, wirst du es bereuen."

    "Die ganze Zeit über sind ihre Gesichter einander ganz nah, dann senkt sie den Kopf mit tränenverhangenem Blick. Rick hebt zärtlich ihr Kinn."

    "Ich seh' Dir in die Augen, Kleines!"

    Schließlich steigt Elsa mit ihrem Mann in das Flugzeug, sie weint. Zurück bleiben Rick und Polizeichef Renault. Sie bringen die Sache zu Ende: Rick erschießt den plötzlich auftauchenden Nazi-Kommandeur, Renault verrät ihn nicht. Beide sehen der startenden Maschine hinterher und gehen in den Nebel.

    "Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft."

    Zweifellos eine der berühmtesten Schlussszenen der Filmgeschichte – und im engeren Sinne kein "Happy End". Trotzdem wurde "Casablanca" vom American Film Institute 2002 zum besten Liebesfilm aller Zeiten gekürt.

    Vielleicht, weil er erfüllt, was Eva Jaeggi nach fast 50 Jahren psychologischer und therapeutischer Erfahrung als das wirklich gute Ende, den wahren glücklichen Ausgang einer Geschichte bezeichnet:

    "Meistens ist ja sowohl im Roman, im Film, vielleicht auch im Leben das Happy end etwas, wo man lange Zeit um eine Sache gekämpft hat, also das ist gar kein Ende, sondern ist etwas, was man angepeilt hat, wo man sich ein Ziel gesetzt hat, und das gelingt dann. Es ist immer ziemlich klar beim Happy End, dass sich jetzt was Neues dran schließen muss, dass man jetzt was Neues probieren muss. "

    "(Merkel) Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Es gibt schon jetzt viele Ereignisse, auf die wir uns im kommenden Jahr freuen können.

    (Dinner for one) Oh, by the way: The same procedure as last year, Miss Sophie? (Lachen) The same procedure as every year, James! - The same procedure as every year, James! Yes, Yes.

    (Merkel) Unser Land hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien ein erfülltes, ein glückliches und ein gesegnetes Jahr."