Donnerstag, 25. April 2024

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Anklage im Lübcke-Prozess
"Ein Rätsel, warum so jemand im System durchfallen kann"

Nach Ansicht von Nancy Feaser, Partei- und Fraktionsvorsitzende der hessischen SPD, muss das behördliche Versagen im Mordfall Walter Lübcke in einem Untersuchungsausschuss aufgeklärt werden. Bis heute sei nicht klar, warum der Verfassungsschutz den mutmaßlichen Täter aus den Augen verloren habe, sagte sie im Dlf.

Nancy Faeser im Gespräch mit Stefan Heinlein | 16.06.2020
02.07.2019, Baden-Württemberg, Karlsruhe: Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird von einem Hubschrauber zum Bundesgerichtshof (BGH) zu einem Ermittlungsrichter gebracht. Foto: Uli Deck/dpa | Verwendung weltweit
Stephan E. (M.), Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (dpa)
In Frankfurt am Main beginnt der Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Hauptangeklagter ist der 46-jährige Stephan E. aus Kassel. Er soll Lübcke im Juni vergangenen Jahres auf dessen Terrasse erschossen haben, weil sich der CDU-Politiker für Flüchtlinge eingesetzt hatte. Neben dem mutmaßlichen Mörder muss sich auch ein Komplize vor Gericht verantworten. Die Bundesanwaltschaft wirft beiden vor, aus rechtsradikaler Gesinnung gehandelt zu haben.
Das Konterfei von Walter Lübcke (CDU) ist hinter einem Bundeswehrsoldaten am Sarg bei einem Trauergottesdienst in der Martinskirche zu sehen. 
Anklage im Fall Walter Lübcke
Ende April 2020, elf Monate nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage. Juristisch wie politisch weist der Fall weit über sich hinaus.
Der hessische Verfassungsschutz hätte womöglich verhindern können, dass der mutmaßliche Mordbeihelfer Markus H. jahrelang ganz legal mit sechs Schusswaffen mit dem Mordverdächtigen Stephan E. üben konnte. Warum der Justiz 2015 Informationen über den mutmaßlichen Mordbeihelfer Markus H. vorenthalten wurden, kann sich der heutige Verfassungsschutzchef in Hessen "nicht erklären". Diese Geheimdienstaffäre überlagert den Prozessbeginn im Fall Lübcke.
Untersuchungsausschuss soll Behördenversagen klären
Nancy Feaser, Partei- und Fraktionschefin der SPD in Hessen, hofft, dass durch den Prozess Verbindungen von Neonazis untereinander weiter aufgedeckt werden. Mit dem Verfahren einher geht eine Strukturermittlung im rechtsextremistischen Neonazimillieu in Nordhessen.
Der Stuhl auf der Ehrentribühne, der für den erschossenen Kasseler Regierungspäsidenten Walter Lübcke reserviert war, ist am Tag des Festumzugs mit einem Foto und einem Blumenstrauß geschmückt. Der Festumzug markiert auch in diesem Jahr wieder das Ende des Hessentages.
Ein Jahr nach Mord an Walter Lübcke
Mit einem Kopfschuss wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke am 1. Juni 2019 vor seinem Haus getötet. Als Hauptverdächtiger und Komplize gelten der Neonazi Stephan E. und sein Freund Markus H. Die Hintergründe der Tat - ein Überblick.
Die Prüfung, ob es auch ein Versagen der Behörden gegeben habe, sei allerdings nicht die Aufgabe eines Gerichtsverfahrens. "Das ist wiederum eine politische Aufarbeitungsarbeit und deswegen haben wir uns auf den Weg gemacht, einen Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag aufzusetzen, um diese Umstände aufzuklären." Es gehe darum aufzuarbeiten, wie es dazu kommen konnte, dass der Verfassungsschutz den mutmaßlich vorbestraften Täter aus den Augen verlieren konnte.
Das Interview im Wortlaut:
Stefan Heinlein: Wie wichtig ist der heutige Tag für die Aufklärung und Aufarbeitung des Mordes an Walter Lübcke?
Nancy Faeser: Es ist ein sehr bedeutender Tag, weil natürlich dieser rechtsextremistische Terroranschlag Deutschland insgesamt sehr bewegt hat, und jetzt den Prozessauftakt zu erleben, ist für alle Beteiligten, natürlich am meisten für die Familie von großer Bedeutung, weil jetzt in die Aufklärungsarbeit eingestiegen werden kann.
16.06.2019, Hessen, Bad Hersfeld: Ein gerahmtes Porträtfoto des erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) steht beim großen Festumzug auf dem 59. Hessentag auf einem Platz der Ehrentribüne.
Die Botschaft von Walter Lübcke lebt weiter
Das Gedenken an den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke mobilisiere auch in der Coronakrise die Freunde einer offenen Gesellschaft, kommentiert Ludger Fittkau. Vieles spreche sogar dafür, dass Walter Lübcke niemals vergessen werde.
Heinlein: Rechnen Sie damit, dass im Verlauf des Prozesses noch weitere Details des Tathergangs und seiner Hintergründe ans Tageslicht kommen werden?
Faeser: Das hoffe ich natürlich. Ich erhoffe mir aber auch von dem Prozess, weil auch eine Strukturermittlung im rechtsextremistischen Neonazi-Bereich in Nordhessen ja mit angeschlossen wird, dass man einfach auch diese Verbindungen der Neonazis untereinander, oder wie der mutmaßliche Täter Stephan Ernst vernetzt war und sein Mittäter, sich auch dadurch ergeben.
Heinlein: Haben Sie Vertrauen, dass das Gericht diesem Anspruch, den Sie gerade formuliert haben, gerecht werden wird?
Faeser: Ich bin selbst Juristin. Insofern habe ich immer erst mal Vertrauen auch in unser Justizsystem. Ich glaube, dass die Frage, welches Versagen möglicherweise auch durch Behörden erfolgt ist, nicht die Aufgabe eines Gerichtsverfahrens ist. Das ist dann wiederum eine politische Aufarbeitungsarbeit und deswegen haben wir uns ja auch auf den Weg gemacht, einen Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag einzusetzen, um diese Umstände aufzuklären.
Wie konnte der Verfassungsschutz den Täter aus den Augen verlieren?
Heinlein: Was soll das Ziel dieses Untersuchungsausschusses genau sein? Wollen Sie den Ministerpräsidenten, die Landesregierung, das Image als innenpolitischer Law and Order Mann von Volker Bouffier demontieren?
Faeser: Nein, darum geht es nicht. Es geht vor allen Dingen darum – das hat man ja auch in Ihrem Bericht gehört - aufzuarbeiten, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass ein Täter - von Lübcke wissen wir es noch nicht, aber für vorher wissen wir es; der mutmaßliche Täter ist vorbestraft, mehrfach; er galt als sehr gewaltbereit und wir können uns bis heute alle nicht erklären, warum denn um Gottes willen der Verfassungsschutz ihn aus den Augen verloren hat und ihn nicht mehr beobachtet hat kurz vor dem Mord und auch rund um diese rechtsextremistischen Äußerungen 2015 im Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen und als Walter Lübcke diese demokratischen Werte dort vertreten hat.
Heinlein: Haben Sie eine Antwort auf diese Frage, die Sie gerade formuliert haben, Frau Faeser? Waren die Sicherheitsbehörden vielleicht auf dem rechten Auge blind?
Faeser: Ich kann es mir nicht erklären. Ich erhoffe mir von einem Untersuchungsausschuss, dass wir mehr Licht ins Dunkel bekommen, warum das passieren konnte, weil er hat Vorstrafen, die sehr eindeutig rechtsextremistische Gewalttaten waren. Er hat zum Beispiel einen Sprengstoffanschlag auf ein Asylbewerberheim vorgenommen, was Gott sei Dank dann in der letzten Konsequenz verhindert werden konnte, weil die Bewohner es gemerkt haben. Aber er hat auf einen Asylbewerber eingestochen. Insofern ist mir schon ein Rätsel, warum auch im System so jemand durchfallen kann, und auch – das muss man, glaube ich, auch noch mal ganz genau angucken -, warum denn seitens der Justizbehörden auch dieser rechtsextremistische Hintergrund des Täters nie im Fokus stand.
"Einfach noch mal ins System reingucken"
Heinlein: Nun hat der hessische Verfassungsschutz ja schon Versäumnisse eingeräumt. Wir haben es gerade in dem Bericht gehört. Warum wollen Sie dennoch die Landesregierung und die zuständigen Sicherheitsbehörden möglichst lange an den Pranger stellen?
Faeser: Es geht nicht um lange an den Pranger stellen und ich glaube auch, dass der Untersuchungsausschuss vermutlich sehr einvernehmlich durch den hessischen Landtag eingesetzt wird. Es geht uns allen darum zu erfahren, nicht nur, warum der Mittäter eine Waffenbesitzkarte erhalten konnte, sondern vor allen Dingen, wie es passieren konnte, dass zwei so gefährliche Täter, mutmaßliche Täter aus dem Auge der Verfassungsschutzbehörde geraten konnten. Das hat ja auch Konsequenzen für zukünftige Fälle. Wir müssen einfach noch mal ins System reingucken und in die Behörden, um zu schauen, was ist da schiefgelaufen und was kann man künftig dann auch verhindern. Darum geht es ja auch . Es geht ja nicht nur um das Aufarbeiten, sondern auch, was wir daraus lernen können.
Heinlein: Nun gab es ja bereits nach den NSU-Morden einen eigenen Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages zur Neonazi-Szene bei Ihnen im Land. Warum ist dieses politische Instrument für Sie als Oppositionspartei offenbar so wichtig und warum haben Sie nicht aus dem ersten Untersuchungsausschuss schon gelernt?
Faeser: Wir haben daraus gelernt. Es gab viele Erkenntnisse, letztlich auch noch mal ein Erhellen der Szene in Nordhessen und anderen Teilen Hessens, und letztlich auch eine Veränderung der Politik. Ich kann mich noch gut erinnern, dass vor dem Untersuchungsausschuss NSU immer bestritten wurde, dass es Neonazi-Netzwerke in Hessen überhaupt gibt. Es war immer die Sprache von Einzeltätern, aber dass die nicht vernetzt arbeiten würden, und das hat dieser Untersuchungsausschuss sehr eindeutig hervorgebracht, dass es Netzwerke gibt, dass die auch über Bundesländergrenzen hinweg arbeiten. Insofern ist es schon immer wichtig, über einen solchen Untersuchungsausschuss diese Erkenntnisse zu bekommen, und sowohl damals als auch jetzt erkennen wir nicht, dass die Behörden selbst das so aufarbeiten, vor allen Dingen so transparent aufarbeiten, dass die Menschen auch wieder Vertrauen in Sicherheitsbehörden zurückgewinnen.
Rechtsextremismus: wir haben sehr große Probleme damit
Heinlein: Wenn es diese rechtsextremen Netzwerke, wie Sie sagen, Frau Faeser, schon seit Jahren in Hessen gibt, wurde dieses Problem auch unter der Verantwortung von sozialdemokratischen Ministerpräsidenten jahrelang verdrängt und ausgeblendet?
Faeser: Ja, das ist genau die Frage, genau hinzugucken, und da ist es egal, ob ein Sozialdemokrat Ministerpräsident war oder ein Christdemokrat. Ich glaube, das gehört zu einer solchen Aufarbeitungsarbeit dazu, da jenseits der Parteibrille genau hinzuschauen und zu fragen, warum in diesem System und warum, wenn so daran gearbeitet wird angeblich, das passieren konnte, und das hat ja letztlich sehr fatale Folgen.
Heinlein: Zählen wir einmal auf: Der Mord an Walter Lübcke, die Schüsse in Wächtersbach, der Skandal um rechte Strukturen in der Polizei und der Anschlag in Hanau. Hat Hessen, Frau Faeser, ein besonderes Problem mit dem Rechtsextremismus?
Faeser: Das würde ich nicht sagen. Ich würde immer vorsichtig sein, das zu verallgemeinern. Aber wir haben sehr große Probleme damit und ich glaube, das muss letztlich anerkannt werden und dann kann man auch gegen diese Strukturen gut vorgehen.
Heinlein: Welche strukturellen, aber vielleicht auch personellen Konsequenzen sollten denn aus diesem Phänomen gezogen werden? Haben Sie da Ihre Forderungen schon sortiert als Sozialdemokratin?
Faeser: Nein, es geht ja nicht darum, vorher schon Forderungen zu formulieren, sondern jetzt geht es erst mal um Aufklärung. Und wenn wir dann wissen, wo welche Fehler sind und gelaufen sind, dann muss man natürlich auch Konsequenzen fordern und sagen, diejenigen müssen dann vielleicht auch nicht mehr in diesem Bereich arbeiten, weil wir müssen ja immer darauf achten, dass man auch schaut, wie geht es zukünftig weiter.
"Was in Hessen noch nicht gut funktioniert ist die Transparenz"
Was mich sehr umtreibt ist, dass wir aus dem NSU-Untersuchungsausschuss ja eine Reihe von Erkenntnissen allgemeiner Art gefunden haben, in der Frage, wie sind Behörden aufgestellt, wie gehen sie mit dem Phänomen Rechtsextremismus um, und das scheint meines Erachtens noch nicht vollständig umgesetzt und auch nicht erfolgreich.
Heinlein: Wie sind denn die Sicherheitsbehörden in Hessen Ihrer Meinung nach aufgestellt?
Faeser: Was man gemacht hat im Bereich des Verfassungsschutzes ist, mehr Menschen einzustellen. Man hat letztlich auch umgesetzt – das war eine Forderung aus dem NSU-Ausschuss -, dass die Ausbildung jetzt auch einheitlich erfolgt, dass es überhaupt eine spezifische Ausbildung gibt im Bereich des Verfassungsschutzes. Das gab es früher nicht. Da gab es sehr, sehr viel Aufarbeitungsarbeit.
Was in Hessen noch nicht gut funktioniert ist die Transparenz, zu sagen, ja, das Kontrollgremium kontrolliert und kann auch alles einsehen, aber was ist eigentlich mit dem Rest und mit dem Interesse und Öffentlichkeitsbedürfnis auch der gesamten Öffentlichkeit. Da ist noch viel Luft nach oben.
Heinlein: Und da kann der Prozess heute, der Auftakt helfen, diese, von Ihnen genannten Mängel zu beseitigen?
Faeser: Ich glaube schon, dass es ein Baustein ist, aber die wesentliche Arbeit liegt jetzt vor uns, vor uns Parlamentariern mit einem Untersuchungsausschuss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.