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Angekommen - ganz unten

André Pilz jobbte als Briefträger, Gitarrist und lernte als Fußballfan die Hooligan- und Skinheadszene kennen, in der auch sein Debütroman spielte. Sein nunmehr dritter Roman "Man down" spielt zum größten Teil in München, wo der Autor inzwischen größtenteils lebt.

Von Ralph Gerstenberg | 14.05.2010
    Kai ist buchstäblich dort angekommen, wo Literatur - laut Jörg Fauser - zu sein hat: nämlich ganz unten! Als Dachdecker in die Tiefe gestürzt, steht er, körperlich wahrscheinlich für immer angeschlagen, ohne Job da. Die einzige Jeans ist zerfetzt, die Wohnung ein Loch, das Konto gnadenlos überzogen und der ausstehende Lohn soll auch nicht gezahlt werden. Dafür verlangen die Brüder von Kais Kumpel Shane ihren großzügig gewährten Kredit zurück. Bis zur Schuldenfreiheit soll er für sie als Drogenkurier arbeiten. Aber Kai will einen anständigen Job, am besten auf einem Dach unter freiem Himmel. Er will einfach nur wieder unter ganz normalen Bedingungen leben. Doch anscheinend hat er keine Wahl: Der Weg zur Normalität führt durch den Sumpf der Kriminalität. In "Man Down", dem dritten Roman von André Pilz, fällt ein Mann vom Dach und wird vom Strudel der Ereignisse immer tiefer hinabgezogen.

    "Ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte mich selbst in den Strudel reinreißt. Also gar nicht, dass ich der Schöpfer bin, sondern dass sich das so selber entwickelt hat und dass es immer weiter nach unten ging, aber nicht ohne dass auch immer wieder Lichtblicke vorkommen."

    Einer dieser Lichtblicke ist Marion, eine attraktive Studentin, die in einem Wohnheim am Rande der Stadt wohnt und sich für Kai zu interessieren scheint. Sie gibt ihm einen Halt, etwas, das ihn bei seinen Kurierdiensten auf eine Zukunft hoffen lässt. Kai taucht ein in die fremde Studentenwelt mit ihren Partys und Drogen, ist fasziniert von Marion, der Frau aller Frauen, und kann sich gar nicht erklären, dass ausgerechnet sie sich für einen wie ihn, einen "Proleten", ohne Arbeit, ohne Aussicht, begeistern kann. Kai erfährt Momente des Glücks, der Liebe, während er in größten Schwierigkeiten steckt. Als Drogenkurier wird er auf offener Straße brutal zusammengeschlagen. "Liebe und Gewalt" ist ein Spannungsfeld, das André Pilz immer wieder beackert. So heißt auch ein Blog, das er schreibt.

    "Der zweite Roman hieß im Untertitel 'Eine Geschichte von Liebe und Gewalt'. In diesen drei Romanen gibt es viel Gewalt, aber gleichzeitig auch so zerbrechliche, poetische Stellen. Und ich finde, dieser Gegensatz von den wilden Schlachten und einer romantischen Liebesgeschichte. Das fasziniert mich. Und ich finde einfach, dass es nicht nur Gewalt und nicht nur romantische Liebe gibt, sondern ich versuche, das zu verknüpfen."

    Zerbrechlich und sehr intim sind in "Man Down" Briefe, die Kai an seinen Halbbruder schreibt, der als Mischlingskind in der Schule unter den Demütigungen und Schlägen seiner Mitschüler zu leiden hatte. Dass Kai seinem Bruder damals nicht zur Seite gestanden hat, belastet ihn noch heute. In den Briefpassagen wird die oft drastische Sprache von André Pilz, die dem Milieu seiner Protagonisten entspricht, geradezu anrührend intensiv:

    Seit dem Unfall komme ich einfach nicht mehr klar mit den Menschen. Aber wenn ich dann denke, ich raste jetzt aus, nehme den Baseballschläger und schlage alles kurz und klein, dann geschieht es, dass mir n Penner den Pulli nachträgt, den ich verloren habe, dass ein Kanake mir Platz in der U-Bahn macht, weil er sieht, dass ich vor Schmerzen im Rücken kaum noch stehen kann, und dann schäme ich mich für meinen Hass, dann hasse ich mich für meinen Hass, dann weiß ich, dass die Welt nicht schwarz und weiß ist, dass ich scheiß ungerecht zu ihr bin. Mir wird dann klar, dass ich mich auf nem Höllentrip befinde, von dem ich runterkommen muss, so schnell wie möglich runterkommen muss, weil sonst das Schlimmste geschieht. Aber immer dann, wenn man in der Scheiße steckt, kommt es noch härter. Immer dann, wenn man sich ganz unten glaubt, geht ne Falltür auf und man stürzt noch tiefer.

    "Diese Briefe sind in der Gegenwart geschrieben und bringen deshalb sehr direkt auf den Punkt, was Kai fühlt. ( ... ) Diese direkte, rohe Form war mir irrsinnig wichtig, um das Innenleben von Kai zu zeigen. ( ... ) Und er schreibt sie an jemanden, dem er absolut vertraut und dem er alles anvertrauen kann. Das ist auch wichtig. Gerade zwischen Shane und Kai und überhaupt zwischen den Figuren wird ja irrsinnig viel gelogen. Und in diesen Briefen, da schreibt er einfach auch seine Wahrheit. Seine Gefühle legt er dar, ohne dass er sich irgendwie als sehr tough geben muss oder so."

    Bald wird klar, dass Kai weder seinem Freund Shane, den er bewundert, noch Marion, die er liebt, trauen kann. Hat nicht Shane sogar Marion dafür bezahlt, dass sie mit Kai etwas anfängt? Ungewissheiten und Misstrauen nagen an dem defätistischen Einzelgänger. Er wird zum Detektiv in eigener Sache und findet heraus, dass die Wahrheit auch verdammt einsam machen kann. Als lonely wolf, der um Vergebung ringt, betäubt er sich mit Drogen und streift durch ein schäbiges München, das mit gängigen Vorstellungen von der Bussi-Metropole so wenig gemein hat, dass selbst manch Münchener es nicht wiedererkennt.

    "Die Münchener, die es ungewöhnlich fanden, sind die, die zum Beispiel nie in der Nacht bestimmte U-Bahn-Linien fahren. Die fahren mit ihrem relativ teuren Auto durch die Stadt, und für sie ist das immer noch die glitzernde Stadt. Aber wenn man ein bisschen hinter die Fassade schaut - ich geh gerne und oft auf Dritt- und Viertliga-Spiele - da erlebt man schon in den letzten Jahren, dass eine breite Bevölkerungsschicht abstürzt. ( ... ) Ich schreib halt am liebsten über die Stadt, in der ich wirklich auch gerade bin. Das fällt mir am leichtesten. Ich finde nicht, dass 'Man Down' übertrieben wäre. Diese Menschen gibt es, die Sprache in der Art gibt es."

    André Pilz schreibt kraftvoll und klar wie kaum jemand in seiner Generation vom Kampf um Anstand und das nackte Überleben in der sogenannten Wohlstandsgesellschaft. In seinem Buch geht es um Menschen, die die abgedroschene Phrase vom Scheitern als Chance nur als Hohn empfinden können. Bei aller Härte gelingen Pilz dabei sensible und genaue Porträts von jungen Menschen, die dazu gezwungen sind, in einem Spiel mitzumachen, das nicht das ihre ist. Und er zeigt diejenigen, die dieses Spiel bestimmen: Geschäftsleute, Anwälte, Kriminelle. In einem rasanten Showdown - ein Wort, das, würde es nicht schon existieren, extra für diesen Roman hätte erfunden werden müssen - stehen sich Spielmacher und Verlierer Auge in Auge gegenüber. "Man down" ist ein spannendes und aufrüttelndes Buch, das nicht nur seinen Protagonisten, sondern auch dem Leser tiefe Abgründe vor Augen führt.

    "Man down" von André Pilz ist erschienen im Haymon Verlag, 276 Seiten, 19,90 Euro