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Angela Nagle
"Die digitale Gegenrevolution"

Dem Internet wird nachgesagt, Demokratisierung und Freiheit zu bringen und gesellschaftliche Barrieren einzureißen. Angela Nagle begibt sich an die politischen Peripherien des Netzes und zeigt, dass diese Vorstellung schon längt nicht mehr der Wirklichkeit entspricht.

Von Raphael Smarzoch | 27.08.2018
    Buchcover Angela Nagle "Die digitale Gegenrevolution" - im Hintergrund grüne Weingummi-Frösche
    Angela Nagle: "Die digitale Gegenrevolution - Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump" (Buchcover transcript Verlag/ Hintergrund imago stock 6 people)
    Am 20. Januar 2017 löste Donald Trump US-Präsident Barack Obama ab. Genau das ist der Endpunkt von Angela Nagles gelungener Analyse, die nachzuvollziehen versucht, wie das nach der Wahl Obamas vorherrschende Gefühl der Hoffnung versiegen konnte. Dabei dringt sie tief in die dunklen Nischen des Internets vor und untersucht
    "die Online-Kulturkämpfe, die unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle und des Radars der etablierten Medien um Themen wie Feminismus, Sexualität, Gender-Identität, Rassismus, Redefreiheit und politische Korrektheit wüten."
    Ursprung dieser kriegerischen Dispute ist für Angela Nagle das Image-Board 4chan, eine Art Internetforum, auf dem anonym Bilder und Textnachrichten geteilt werden. Es gilt als eine der letzten gesetzesfreien Bastionen des World Wide Web. Sowohl die als links geltende Anonymous-Bewegung als auch die rechtsradikale Alt-Right kommen aus der "nihilistische[n] und ironische[n] chan-Kultur". Alt-Right gewann im amerikanischen Wahlkampf an Prominenz. Angeblich sollen deren Trolle Trump mit sogenannten Internet-Memen ins Weiße Haus verholfen haben. Ein Mythos, der sich nicht verifizieren lässt. Dass ihre Kultur der Transgression allerdings vom politischen Mainstream übernommen wurde, ist unbestritten.
    Kulturgeschichte des Trollings
    Wie das passieren konnte, demonstriert Angela Nagle anhand einer kurzen Kulturgeschichte des Trollings, das nicht nur in der Anonymität der Netzwerke gedeihen konnte, sondern bereits deutlich früher in der analogen Welt en vogue war. Allerdings in linken Kreisen als politische Praxis vermeintlich progressiver Grenzüberschreitung. "Verbieten ist verboten!" lautete ein Credo der 68er-Bewegung. Sie wird für ihre gegenkulturellen Errungenschaften - wie etwa weibliche Emanzipation oder sexuelle Revolution - bis heute in rechten bis rechtsradikalen Kreisen gescholten. Es sind aber genau diese Gruppierungen, die sich mittlerweile der einst links konnotierten Praxis der Grenzüberschreitung bemächtigen.
    Angela Nagle begutachtet zwar hauptsächlich Entwicklungen im angloamerikanischen Sprachraum, ihre Analyse hilft aber auch, ähnliche Phänomene in der deutschen Politik zu erkennen, welche "die Grenzen des Sagbaren" in Bezug auf Moral und Anstand verschieben. Alexander Gaulands "Vogelschiss"-Aussage zur NS-Zeit und Björn Höckes Schmähung des Berliner Holocaust-Mahnmals als ein "Denkmal der Schande" sind Zeugnisse dieser von rechts annektierten Rhetorik des Transgressiven, die der ehemalige Breitbart-Provokateur Milo Yiannopoulos mit dem rebellischen Ethos des Punk verglich.
    Schädlicher Tumblr-Liberalismus
    Stark ist, dass Nagle beide Seiten differenziert kritisiert. Sie seziert folglich auch Versäumnisse der Linken, die ihren rechten Gegenspielern in den sozialen Medien lediglich eine moralische Empörungskultur identitätspolitischer Prägung entgegensetzt,
    "indem sie die Rechte für bestimmte Aussagen brandmarkte, zugleich jedoch bei Themen wie race und Gender den Diskurs-Rahmen […] ausweitete, wodurch antimännliche, antiweiße, antiheterosexuelle und Anti-Cisgender-Rhetorik auf der kulturellen Linken zunehmend normal wurden."
    Ihren Ursprung nahm diese Rhetorik nach Nagles Beobachtungen auf Tumblr, einem sozialen Netzwerk, das als linkes Pendant zur anarchistischen chan-Kultur gilt. Der sogenannte "Tumblr-Liberalismus" sickerte der Autorin zufolge ebenfalls in die Mainstream-Politik, begleitet von Trigger-Warnungen, restriktiven Rede- und Denkverboten und der Einforderung von Schutzräumen und Gender-Pronomen.
    "Gutsein" wurde zur Tugend erklärt und zu einer opportunistischen Währung deklariert, mit der man sich im Netz als aufgeklärtes Individuum inszenieren konnte. Für Angela Nagle liegt darin ein Grund für den Niedergang der Linken, die alsbald im Rahmen einer großen Säuberungsaktion sich selbst zu zerfleischen begann:
    "Mir scheint, dass darauf eine Kultur der Säuberung folgen musste, größtenteils auf Konkurrent_innen gerichtet, die ebenfalls um diese wertvolle Währung wetteiferten. Insofern zielten die Angriffe zunehmend auf andere Liberale und Linke mit scheinbar lupenreiner progressiver Vita ab anstatt auf Menschen, die sich tatsächlich rassistisch, sexistisch oder homophob äußerten."
    Am Erstarken der Alt-Right trage somit auch die Linke eine Mitschuld. Sie beruhe auf dem Versäumnis, fruchtbare Debatten abseits einer Politik zu etablieren, die Menschen nach ihrer "Geburt, Physiognomie, nationalstaatliche[n] Herkunft, Geschlecht oder körperlichen Behinderung" beurteilt. Damit verspiele die Linke die Chance, auf die Nöte der tatsächlich sozial Schwachen sowie der vermeintlich Abgehängten einzugehen, die letztlich Donald Trump zum Wahlsieg verhalfen und hierzulande die AfD ins Parlament katapultierten.
    Plädoyer für eine vorurteilsfreie Streitkultur
    Angela Nagle beklagt zu Recht den Anti-Intellektualismus linker Identitätspolitik, deren Vertreter "lediglich gelernt haben, Jargon zu rezitieren". Lösungsvorschläge präsentiert sie allerdings nicht. Interessante Denkanstöße lassen sich trotzdem zwischen den Zeilen herauslesen. Angela Nagels Gegenwartsanalyse ist ein Plädoyer für eine lebendige Streitkultur, online und offline, die linke wie auch rechte Ideen vorurteilsfrei zur Diskussion stellt. Und:
    "Ein halbes Jahrhundert nach den Rolling Stones, nachdem […] Joy Division mit faschistischer Ästhetik geflirtet haben, […] könnte es an der Zeit sein, die noch immer sehr jungen, sehr modernen Werte und das gesamte Paradigma der Gegenkultur zu beerdigen und etwas Neues zu schaffen."
    Dieses Neue könnte eine Ethik des Zuhörens sein, die im Rauschen der Datenströme untergangen ist. Aber auch der Mut zur Dissonanz, Meinungsverschiedenheiten zu akzeptieren, aus deren Reibungen womöglich konstruktive Ideen entstehen können.
    Angela Nagle: "Die digitale Gegenrevolution. Online-Kulturkämpfe der Neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-Right und Trump",
    transcript Verlag, 148 Seiten, 19,99 Euro.