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Angestaute Angst

In ihrem Roman "Wintergewölbe" thematisiert Autorin Anne Michaels den Bau des Assuan Staudamms in Ägypten. Dabei geht es aber um viel mehr als um ein Bauwerk: den Heimatverlust zahlreicher Nubier.

Von Johannes Kaiser | 23.11.2009
    "Wenn man alles verliert, was bleibt dann noch übrig?"
    Die kanadische Schriftstellerin Anne Michaels über ihren Roman "Wintergewölbe"

    Mit drei in Kanada hoch gelobten Gedichtbänden hatte sie bereits auf sich aufmerksam gemacht. Ihr Debütroman "Flucht-stücke" wurde 1996 unverhofft und unerwartet zu einem Bestseller und bescherte der scheuen und zurückhaltenden Schriftstellerin zahlreiche Preise. Der einfühlsame Roman über einen Jungen, der den Holocaust in Polen überlebt, stürmte weltweit die Beststellerlisten und bescherte der scheuen und zurückhaltenden Schriftstellerin zahlreiche Preise. Umso gespannter wartete man auf ihren zweiten Roman. 13 Jahre hat sich Anne Michaels dafür Zeit genommen.

    "Das Buch erforderte sehr viele Recherchen. Es behandelt drei große geschichtliche Ereignisse. Erstens: den Bau des Assuan Staudamms und damit die Überflutung Nubiens, die Umsiedlung der Nubier, den Abbau und den Wiederaufbau des Abu Simbel Tempels. Das zweite historische Ereignis: der Bau des Saint Lawrence Kanals in Kanada. Das dritte: der Wiederaufbau Warschaus nach dem Krieg. Das erforderte eine Menge Nachforschungen zum Ingenieurwesen, zur Architektur und es kostete viel Zeit, die Beziehungen zwischen diesen Ereignissen zu begreifen, die Echos, die Verbindungen, die verschiedenen Ebenen. Ich bin nicht daran interessiert zu vergleichen, sondern Verbindungen aufzuspüren. Will man diese Ereignisse miteinander verknüpfen, zugleich präzise sein und sorgfältig arbeiten, dann braucht das viel Zeit."

    Hinzu kommt, über solche privaten Dinge redet Anne Michaels aber nur sehr ungern, dass sie seit ihrem großen Erfolg zwei Kinder zur Welt gebracht hat. So hat sich die Schriftstellerin nur mitternächtlich an den Schreibtisch gesetzt, wenn ihre Kinder schliefen. Zudem hat sie nebenher eine Reihe Gedichte und Geschichten geschrieben, die aber alle noch nicht veröffentlicht wurden. Das zeigt schon deutlich, dass sich Anne Michaels durchaus bewusst den Zwängen des schnelllebigen Literaturbetriebs verweigert, der rasche Neuveröffentlichungen fordert, damit eine Autorin in der öffentlichen Diskussion bleibt. Sie fürchtet eher den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen als den Erwartungen der Medien. Das Warten hat sich gelohnt. Kein Wort ist zu viel. Die Sprache fasziniert und verzaubert zugleich. Es ist Roman gewordene Poesie. Man möchte ihn am liebsten gleich noch einmal lesen. Anne Michaels hat sich selbst übertroffen, um es gleich vorwegzunehmen.

    Ihr Roman beginnt wie eine klassische Liebesgeschichte. Wir schrieben die 50er-Jahre. Avery, ein junger Ingenieur und Jean, eine Botanikerin treffen sich zum ersten Mal im trockenen Flussbett des für den Bau eines Kanals umgeleiteten Saint Lawrence Stroms in Kanada, beide über die Veränderung der Landschaft erschrocken und eben das bringt sie zusammen. Jean sammelt seltene Pflanzen, um sie vor der späteren Überflutung zu retten. Avery, als Ingenieur mitverantwortlich für die Umbettung des Flusses, hat sehr zwiespältige Gefühle:

    "Sein Vater war Ingenieur. Er wünscht sich so sehr, dass sein Vater, der vor kurzem starb, gutheißt, was er erreicht hat. Er wünscht sich, dass er durch das, was er macht, seinem Vater nahe ist, und in seine Fußstapfen tritt. Aber zugleich verwirrt ihn diese Art von groß angelegter Verfälschung der Landschaft, für die er als Ingenieur verantwortlich ist. Es ist ziemlich schwer, die Auswirkungen dieser riesigen Dämme auf die Ökologie einzuschätzen. Sie ändern den Wasserspiegel so dramatisch, dass sie sogar die Neigung der Erde ändern, ihre Achse - phänomenale Effekte. Also ist er verwirrt und es gehört zum Buch dazu, dass er sich diesen Fragen stellt."

    Sie werden noch dringlicher, als Avery als Ingenieur angeheuert wird, die Rettung des Abu Simbel Tempels an den Ufern des Nils zu leiten, der sonst in den steigenden Wassern des Assuan Staudamms ertrinken würde. Eine technisch höchst anspruchsvolle Aufgabe, die all sein Geschick erfordert. Und doch sitzt er abends mit Jean auf seinem Hausboot am Nil, in dem sie während dieser Zeit wohnen, und zweifelt an seiner Arbeit, denn mit seiner Umsetzung wird der Tempel auch ein Stück weit seine Bedeutung als Heiligtum verlieren.

    Anne Michaels gelingt eine faszinierende Mischung aus Nachdenklichkeit und Staunen über die technischen Meisterleistungen, von denen sie im Roman erzählt. Doch es geht ihr stets auch um die Verluste, die mit ihnen verbunden sind. So verschlingen die Fluten des Staudamms die Kultur der Nubier, die jahrtausendelang am Flussufer lebten. Bevor ihre Dörfer und Friedhöfe von den Wassermassen verschlungen werden, besuchen Avery und Jean noch einmal die bereits verlassenen Stätten.

    "Das Buch erzählt immer wieder in verschiedenen Geschichten und Personen von Enteignungen und zwar jeglicher Art. Wenn, wie bei den Nubiern jemand seine Landschaft verliert, sein Haus, die Art und Weise, wie er die Zeit bemisst, den Kalender, dann nimmt man ihm alles. Wenn man alles verliert, was bleibt dann noch übrig? Diese Frage wird in dem Buch immer wieder gestellt wird: was bleibt? Ich glaube, was übrig bleibt, ist natürlich die Erinnerung, dann der eigene Körper und die Sprache."

    Dass Jean und Avery für solche Fragen offen sind und darüber reden, liegt auch daran, dass sie beide unter einem großen Verlust leiden: Jean hat schon sehr frühzeitig ihre Mutter verloren, Avery seinen Vater. Das verbindet sie und öffnet sie füreinander. Sie erzählen sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten, reden über ihre Ängste, ihre Glücksmomente. Es ist die Phase der Verliebtheit, in der man dem anderen die eigene Welt zu Füßen legt, auf dass er einen besser verstehen lernt. Anne Michaels erzählt diese Liebesgeschichte mit einer solchen Intensität, dass man die Liebe fast zu spüren meint. Sie wirkt wahrhaftig, ehrlich, überzeugend. Zudem verstecken sich im Text immer wieder kleine Einsichten, wie wir sie alle kennen:

    "So ist es eben mit der Wahrheit, sie ist nie mit dir im selben Zimmern, sie sitzt nie mit dir auf dem Rücksitz, sie ist nie da, wenn man sie braucht. Sie taucht immer erst Jahre später auf, wie so ein Wasservogel, der an der einen Stelle des Sees untertaucht und an einer ganz anderen wieder hochkommt. Du streckst die Hände nach der Wahrheit aus, aber da erscheint sie hinter deinem Rücken."

    Doch dann wird das gemeinsame Glück von Jean und Avery auf eine schwere Probe gestellt. Jean wird schwanger, verliert aber ihr Kind. Es stirbt im Mutterleib. Die Trauer wirft sie aus der Bahn. Als beide aus Ägypten nach Kanada zurückkehren, verlässt sie Avery, um erst einmal allein zu leben.

    "Sie trägt diese Trauer mit sich, eine persönliche Trauer, die ein zentrales Ereignis im Buch ist. Eine der großen Lektionen, die sie im Verlaufe des Buches lernt, ist zu begreifen, dass die Toten nicht abwesend sind, sondern allgegenwärtig. Als sie das Kind verlor, hatte sie das Gefühl, die Trauer zu spüren, zuzulassen und festzuhalten wäre gleichbedeutend, wie dem Kind weiterhin nahe zu stehen, es nicht aufzugeben. Das Trauern aufzugeben, scheint ihr, wie das Kind erneut zu verlieren. Ich wollte dem Leser wirklich deutlich machen, dass ich glaube, dass Trauer und Verlust und Scham keineswegs das Ende unserer Geschichte bedeuten, sondern in ihrer Mitte stehen, auch wenn es uns oftmals sehr schwer fällt, das so zu empfinden."

    Während sich Jean in ihrem Schmerz vergräbt, trifft sie Lucjan, einen polnischen Musiker und Maler, der als Junge den Zweiten Weltkrieg knapp überlebt hat, aber dessen ganze Familie umgekommen ist. Und damit beginnt der zweite Teil des Romans, der von der deutschen Besatzung, von Hunger und Tod sowie der Zerstörung Warschaus und dem Wiederaufbau erzählt. Lucjans Schicksal, sein Leiden helfen Jean, sich zu finden:

    "In gewisser Hinsicht hat er sein Leben akzeptiert. Auch wenn Jean so nicht leben könnte, so bedeuten doch all diese Geschichten über sein Leben nach dem Krieg, den Wiederaufbau Warschaus eine große Hilfe für sie. Er erlaubt ihr, seine Trauer zu spüren und das hilft ihr enorm dabei, ihren eigenen Weg zu finden. Später im Buch sagt Eva, eine andere Figur, ganz ruhig über ihre Beziehung zu Lucjan: 'Wir bringen einander bei zu leben.' Es geht darum, über die Vergangenheit nachzudenken, darüber, wie man mit Fehlern, mit Scham lebt, mit Kummer, mit Tod, eben um all die Wege, die wir ausprobieren zu leben."

    Für Avery ist das eine sehr schwere Zeit, die er mit Studieren zu überbrücken versucht. Er flüchtet sich in die Welt der Architekturformeln und hofft, dass Jean wieder zu ihm zurückkehrt.

    "Er will vor allem, dass es ihr besser geht. Er macht ihr ein großartiges und seltenes Geschenk, indem er ihr zugesteht, das zu unternehmen, was sie glaubt machen zu müssen, nämlich einen Schritt zurückzutreten und sich die Zeit zu nehmen, die sie braucht. Er kann es schwer ertragen, sich so hilflos zu fühlen, denn er ist derjenige, der handelt, der repariert, Sachen in Ordnung bringt, ausbessert, heilt und sie schafft es nicht, ihre Trauer mit ihm zu teilen."

    Sein Schicksal zu akzeptieren, ohne zum Zyniker oder zum Fatalisten zu werden, erfordert Stärke. Jean gewinnt sie aus ihrer Beziehung zu Lucjan. Sie kehrt zu Avery zurück. Ein Happy End ohne Zweifel, doch kein kitschiges, kein gekünsteltes, ein seltenes Ereignis in einer Welt, in der jede zweite Ehe auseinander bricht. Anne Michaels war das sehr wichtig.

    "Ich wäre nicht in der Lage, ein Buch zu veröffentlichen, dass keinen Ausweg aufzeigt. Welche Erlösung und welche Hoffnung sich auch bieten und dieses Buch ist ganz bestimmt als Beweis dafür anzusehen, dass es Hoffnung gibt, dieser Ausweg muss ganz ehrlich kommen, sich ergeben, muss verdient werden. Wenn ich ein Buch anfange, weiß ich nicht, ob ich selber intakt dabei herauskomme oder die Charaktere einen realistischen Ausweg aus ihrer Situation finden. Es erfordert eine innere Entschlossenheit, so zu schreiben. Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, sie könnten nicht wieder zusammenkommen, dann weiß ich nicht, was ich gemacht hätte. Ich glaube, ich wäre gar nicht in der Lage gewesen, es dann zu veröffentlichen. Das klingt verrückt, aber es ist wichtig, einen Ausweg zu finden und das braucht manchmal auch Zeit. Ich denke, wozu sie schließlich gelangen, ist eine sehr ruhige, aber sehr wichtige Einsicht, wie sie sich in der letzten Zeile des Buches ausdrückt. Was diese letzte Zeile aussagt, das ist sehr schwierig zu erreichen, aber sehr wichtig."

    Und dieser Satz lautet:

    "Bedauern ist nicht das Ende der Geschichte; es ist die Mitte der Geschichte."

    Es sind Romane wie diese, die die Zeit überdauern werden.


    Anne Michaels: "Wintergewölbe". Aus dem Englischen von Nora Natocza und Gerhard Falkner, Berlin Verlag, 349 Seiten, 22 Euro