Mittwoch, 17. April 2024

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Angriff auf Schulbus im Jemen
"Entsetzt über diese neue Form von Gewalt"

Der Krieg im Jemen sei die schlimmste humanitäre Katastrophe weltweit, sagte die Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland, Susanna Krüger im Dlf. Der Anschlag auf den Schulbus sei eine neue Eskalationsstufe. Sie forderte den Westen auf, Druck auszuüben, um den Konflikt zu beenden.

Susanna Krüger im Gespräch mit Christoph Heinemann | 10.08.2018
    Ein Mann trägt ein verletztes Kind in ein Krankenhaus
    Save the Children fordert das Ende des Krieges im Jemen (AFP)
    Christoph Heinemann: Am Telefon ist Susanna Krüger, die Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland. Guten Morgen!
    Susanna Krüger: Guten Morgen!
    Heinemann: Frau Krüger, was berichten Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Jemen über diesen Angriff?
    Krüger: Mindestens 29 Kinder sind tot, alle im Alter zwischen sechs und 16 Jahren. Ich hab gestern Abend zum letzten Mal mit meinen Mitarbeitern vor Ort telefoniert, und ich und wir von Save the Children, die jahrzehntelang im Jemen für die Kinder und ihre Familien arbeiten, sind absolut entsetzt über diese neue Form von Gewalt. Es ist ein absolutes Fanal, was dort gestern passiert ist, und auch eine neue Form und eine neue Eskalation von dem, was wir in dem seit vier Jahren laufenden Krieg sowieso schon erleben.
    "Fordern eine unabhängige Untersuchung dieser Vorfälle"
    Heinemann: Neue Form, heißt das, dass Sie davon ausgehen, dass diese Kinder gezielt getötet wurden?
    Krüger: Ja, wir von Save the Children sehen eine konkrete Verschlechterung, eine konstante Verschlechterung der Lage. Wir erfahren jeden Tag, dass tatsächlich Zivilbevölkerung angegriffen wird und Kinder Opfer von dieser Kriegsführung sind. Wir erleben das vierte Jahr des Krieges, und es ist nicht auf der Agenda des Westens. Und der Angriff gestern auf den Schulbus ist eine neue, sehr unerträgliche Stufe in diesem Krieg, und wir sagen, genug ist genug, es muss jetzt endlich eine politische Lösung dieses Konflikts geben, und deswegen fordern auch wir eine unabhängige Untersuchung dieser Vorfälle. Es muss eine Verantwortlichkeit zugeschrieben werden, und es braucht eine Rückkehr an den Verhandlungstisch.
    Heinemann: Glauben Sie, dass eine solche Untersuchung überhaupt möglich ist, dass man die organisieren kann?
    Krüger: Das kann man sehr wohl organisieren. Wir haben vor einigen Wochen gesehen, dass politischer Druck in Hodeidah zumindest für einige Tage die Kampfhandlungen beschränkt hat. Es geht, wenn der Westen und die Allianz sich zusammentun und an den Tisch gehen und politisch verhandeln. Druck ist möglich. Dieser Konflikt ist menschengemacht, und das, was wir sehen, wie die Kinder dort leiden, ist möglich zu beenden. Das ist das, was uns so sehr berührt und was mich auch am meisten berührt. Zwei Millionen Kinder, das müssen wir uns vorstellen, können überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Da wächst eine verlorene Generation heran, die nur mit Krieg aufwächst, und es ist alles menschengemacht. Es könnte beendet werden, wenn die internationale Gemeinschaft Druck ausübte.
    Heinemann: Frau Krüger, glauben Sie – noch mal zurück zu dieser Frage –, dass das gestern ein konkretes Kriegsziel war oder, in großen Anführungszeichen gesprochen, ein Kollateralschaden?
    Krüger: Wir sind eine humanitäre Organisation. Save the Children wird sich nicht anmaßen, politische Dinge zu beurteilen. Wir wissen das nicht. Wir gehen davon aus, dass es kein Kollateralschaden war, sondern dass es eine Kriegstaktik ist, die wir seit Jahren beobachten im Jemen, und das ist umso schlimmer.
    "Kinder im Krieg brauchen Schutz - uneingeschränkt"
    Heinemann: Unter welchen Bedingungen arbeitet Ihre Organisation im Jemen?
    Krüger: Save the Children arbeitet seit Anfang der 60er-Jahre im Jemen, das heißt, wir sind dort sehr präsent und haben viele lokale Mitarbeiter. Und in der Hoffnungslosigkeit erzählen mir die Mitarbeiter, dass unsere Präsenz vor Ort dennoch Hoffnung gibt, und das ist sehr berührend. Und dann erzählen sie mir von Hunger, von täglichen Bombardements, von Angst um ihre Kinder und ihre eigenen Familien. Es ist für uns sehr schwierig und auch gefährlich, im Jemen Hilfe zu leisten, und unsere Mitarbeiter sind natürlich wie alle anderen auch dort täglichen Gefahren ausgesetzt, und sie tun es trotzdem für die Kinder. Ich war kürzlich dort und musste täglich und stündlich Sicherheitsvorkehrungen für meine eigene Reise dort treffen, und die Zivilbevölkerung hat so was gar nicht. Deshalb sagen wir laut und deutlich, Kinder im Krieg brauchen Schutz - uneingeschränkt.
    Heinemann: Wie organisieren die Menschen das Lebensnotwendige?
    Krüger: Die Menschen haben einen unglaublichen Überlebenswillen, und das ist auch etwas, was uns sehr berührt in der Arbeit vor Ort. Sie gehen dem nach, was täglich anfällt, sie haben in der vermeintlichen Hoffnungslosigkeit, die schlimm ist, trotzdem immer noch Hoffnung, dass sie den Tag überleben, und sie kümmern sich auch um ihre Kinder und gehen zur Arbeit, obwohl sie nicht bezahlt werden.
    Heinemann: Frau Krüger, Sie sprachen eben davon, dass Sie seit Jahrzehnten vor Ort sind, deshalb jetzt noch mal eine Frage nach der politischen Großwetterlage: Im Jemen kämpfen die vom Iran unterstützten schiitischen Huthi-Rebellen seit 2014 gegen die Truppen von Präsident Hadi, eine vom sunnitischen Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition unterstützt seit März 2015 dessen Truppen, Hadis Truppen also. Ergebnis: etwa 10.000 Tote und nach Angaben der UNO die derzeit schlimmste humanitäre Krise weltweit – und das will auf dieser Erde ja schon etwas heißen. Jetzt sollen Anfang September die Kriegsparteien an einen Tisch kommen, in Genf, der erste Versuch ging schief, könnte es diesmal klappen?
    Krüger: Es ist die schlimmste humanitäre Katastrophe weltweit, und der Angriff auf den Schulbus gestern sollte uns allen im Westen und auch in der Allianz genau das geben, was es braucht für diese Verhandlungen. Wir müssen so etwas Schreckliches zum Anlass nehmen, um wieder an den politischen Verhandlungstisch zurückzukehren, und ich glaube, dass es eine Möglichkeit gibt. Es gibt eine Möglichkeit, diesen menschengemachten Krieg zu beenden. Anfang September hat Martin Griffiths nach Genf eingeladen, und es ist möglich, an den Tisch zurückzukehren, und es ist die einzige Möglichkeit, diesen schrecklichen Krieg zu beenden.
    "Sie können auch politischen Druck ausüben"
    Heinemann: Mit welchen Druckmitteln?
    Krüger: Wir können weitere Waffenembargos machen, wir können auch sagen, dass es so viel Druck geben muss, dass es nichts mehr anderes gibt als aufzuhören. Sie können auch politischen Druck ausüben, wirtschaftlichen Druck, es gibt eine ganze Reihe von diplomatischen Mitteln, die der internationalen Gemeinschaft auf jeden Fall zur Verfügung stehen, wenn diese nur angewendet werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.