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Angst vor den Fluten des Tigris

Seit Jahrzehnten wird über den geplanten Ilisu-Staudamm in der Südosttürkei gestritten. Jetzt soll er wirklich gebaut werden. Kritiker befürchten, dass der Staudamm regionale Spannungen, soziales Elend und die Vernichtung unersetzlicher Kulturschätze verursacht. Susanne Güsten berichtet vom Tigris.

18.04.2006
    Der Tigris - der wasserreichste Fluss Vorderasiens. Seit Jahrtausenden fließt er auf seinem Weg nach Mesopotamien hier vorbei, an der uralten Stadt Hasankeyf in Südostanatolien. Anders als der Euphrat, der durch große Staudämme geregelt wird, bahnt sich der Tigris noch frei und ungehemmt seinen Weg durchs Zweistromland. Nicht alle sind darüber glücklich.

    Am Ufer vor Hasankeyf räumt der Gastwirt Bülent Basari die verrosteten Überreste eines Grills weg. Das ist alles, was von seinem Lokal am Fluss übrig ist - alles andere hat der Tigris beim jüngsten Hochwasser fortgespült. Bülent Basari hat es satt. Dass der Tigris nun mit einem Staudamm bezwungen werden soll, findet er gut:

    "Dann wird es hier besser, glaube ich. Dann wird es Wasserski und Bootsausflüge auf dem Stausee geben, dann kommen Touristen, dann gibt es Arbeit für alle."

    Flussabwärts, südöstlich von Hasankeyf soll der Ilisu-Damm den Tigris zu einem riesigen See aufstauen, um ein Wasserkraftwerk anzutreiben. Nicht alle sind von dem Vorhaben so begeistert wie Basari.

    "Hasankeyf soll leben”, fordern Bürgerinitiativen, Bürgermeister und Berufsverbände aus ganz Südostanatolien. Warum diese Solidarität? Um das zu verstehen, muss man sich einen Überblick über Hasankeyf verschaffen – am besten von den Kalksteinklippen hoch über dem Tigris. Vom Flussufer geht es auf einem steinigen Pfad steil bergan. Oben angekommen muss sogar der 17-jährige Fremdenführer Erkan nach Luft schnappen, bevor er die Aussicht erklären kann:

    "Bis zum Lautsprecher des Minaretts dort wird das Wasser des Stausees steigen. Nur der große Palasthügel wird als Insel noch eine Weile aus dem Wasser herausragen, bis er unterspült wird und auch im Stausee versinkt."

    Alles unterhalb vom Palasthügel wird gleich vom Wasser verschluckt, wenn der Staudamm fertig ist – von der größten Steinbrücke des Mittelalters über eine Ayyubiden-Moschee aus dem 14. Jahrhundert bis zum türkis gekachelten Zeynel-Bey-Grabmal. Es wäre ein Verbrechen am historischen Kulturgut, diesen Ort zu fluten, meint der Bürgermeister von Hasankeyf, Abdulvahaf Kusen:

    "Hasankeyf ist ein einziges Open-Air-Museum, 10 oder 15 Zivilisationen haben hier ihre Spuren hinterlassen. Wenn Hasankeyf zerstört wird, dann werden nachfolgende Generationen uns das nicht verzeihen."

    Hasankeyf ist nicht der einzige Ort, der dem Stausee weichen soll. Dutzende Dörfer am Tigris sollen in den Fluten versinken, mehr als 50.000 Menschen werden ihre Häuser, Felder oder Weiden verlieren. Was halten sie wohl von dem Staudamm?

    Im Dorf Suceken am Tigris, das im Stausee untergehen wird, ist sich die Kleinbäuerin Ayse Ay mit ihren Nachbarn einig:

    "Wir wollen nicht, dass der Damm gebaut wird. Wir wollen nicht vertrieben werden. Wenn wir hier weg müssen, haben wir ja keine Felder und kein Vieh mehr, dann werden wir ins Elend gestürzt."

    Zwar sind Entschädigungen für die Bewohner des Tigris-Tals vorgesehen, Umsiedlungen und finanzielle Gutmachungen, doch viele aus dem Dorf bleiben skeptisch. Mit Recht, meint Arif Arslan von einer Bürgerinitiative im nahen Batman:

    "Als hier der Batman-Staudamm gebaut wurde, da wurden 50 Dörfer geflutet, 20.000 Menschen mussten ihre Dörfer verlassen. Man hat ihnen damals Häuser und Arbeitsplätze versprochen. Seither sind 20 Jahre vergangen, und die Leute sitzen hungrig und arbeitslos in den Elendsvierteln von Batman."

    Große soziale Probleme dürfte der Bau des Staudamms also verursachen. Und was gewinnt die Türkei dafür? Nihat Üstündag, der Staudamm-Direktor beim regionalen Wasserbauamt, kann es beziffern:

    "Die Energie, die wir mit diesem Staudamm gewinnen, entspricht Erdgasimporten im Wert von 200 Millionen Dollar. Wenn wir diese Energie aus unserem eigenen Wasser gewinnen, können wir das Geld für Umwelt und Entwicklung ausgeben."

    Die Gegner des Staudamms bestreiten allerdings, dass es beim Ilisu-Projekt vor allem um Energie und Entwicklung geht. Nicht umsonst sei die Entscheidung im Sicherheitsrat gefallen, sagt Ercan Ayboga vom regionalen Bündnis gegen den Staudamm:

    "Es geht um Wasser als Waffe. Wenn der Tigris und der Euphrat komplett aufgestaut sind, kann man Syrien und Irak das Wasser über viele Monate abdrehen. Dadurch hat man ein ständiges Drohpotenzial gegenüber diesen Ländern. Wir sagen nicht, dass das in jedem kleinen Konflikt eingesetzt wird, aber wenn man diese Möglichkeit hat, dann wirkt es sich auf die Beziehungen zu diesen Staaten aus. Wir wollen diesen Staudamm nicht, weil durch dieses Konfliktpotenzial unsere Region leidet."