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Anleihen beim Genre des Krimis

Als Professor Ormston den Raum betritt, scheint das Gespräch zu verstummen. Die Kollegen aus den anderen Fachdisziplinen, die Mediävisten, Altphilologen und Geografen, warten gespannt, denn Ormston muss reagieren. An diesem Morgen, einem beliebigen Morgen in einer kleinen, feinen englischen Universitätsstadt, hatte Professor Ormstons Nachruf in der Zeitung gestanden.

Von Tanya Lieske | 29.01.2008
    Nicht nur in einer, gleich in vier Zeitungen war er für tot erklärt worden, waren die Lobreden auf den angeblich Verstorbenen mit kleinen, feinen Seitenhieben und Sticheleien der akademischen Zunft versehen gewesen. Wie also wird sich Professor Ormston in dieser prekären Lage verhalten, die gegen alle Regeln des Normalen und Schicklichen verstößt; er, der Inbegriff des kühlen, vernunftbestimmten englischen Gentlemans? Die Situation ist doppelbödig und bietet Raum für allerlei Entgleisungen.

    Doch damit nicht genug. William Trevor, von jeher ein Meister psychologischer Balanceakte, zieht noch eine dritte Ebene ein. Der Leser weiß mehr als die versammelten Professoren. Der Leser hat am Morgen in Professor Ormstons Schlafzimmer geschaut, und dort Vanessa beobachtet, die viel jüngere und sehr schöne Frau des Professors, die die Morgenzeitung immer als erste sieht, die erschrickt, die mit der Fassung ringt, die eine schnelle Entscheidung fällt, nämlich den Nachruf herauszureißen. Die falsche Entscheidung, denkt Vanessa, wie immer, denkt sie auch, und dass sie nicht so klug ist wie ihr Mann:

    Was in aller Welt hätte ich sonst tun sollen?, fragte sie sich verstört und tunkte eine Ingwerwaffel in ihren Tee. Sie hatte Zeit gebraucht, um nachzudenken, doch jetzt, wo sie Zeit hatte, fiel ihr nichts ein. (...). Doch Minuten später (...) wusste sie, dass sie, wie schon so oft in ihrer Ehe und in ihrem Leben wieder einmal das falsche getan hatte. Und wie so oft hatte sie die Sache dadurch verschlimmert, dass sie ein unwirkliches Wunderland geschaffen hatte: Sie würden sich allesamt an diesem Spaß ergötzen.

    Vanessa erwartet die Häme der Kollegen, die Kollegen einen peinlich berührten Professor, und der mehr als alle wissende Leser einen Eklat, als Professor Ormstons auf dem Empfang des Rektors eintrifft. Die Situation ist geladen, die Luft knistert, und William Trevor, der die Kunst der Verdichtung aufs trefflichste beherrscht, braucht nur einige wenige Seiten, um eine solche Konstellation herzustellen. Sie ist zugleich fantastisch und doch glaubwürdig bis ins i-Tüpfelchen. Sie konstruiert sich aus kaum wahrnehmbaren, äußerst raschen Erzählbewegungen, die mit dem Wissensvorsprung oder -defizit des Lesers spielen.

    Trevor, der selbst gerne Krimis liest und auch geschrieben hat, nimmt hier und in vielen anderen Kurzgeschichten Anleihen beim Genre des Krimis und des Thrillers. Doch nicht die Frage nach Täter und Motiv steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern nach der Psychologie und der Dramatik der Situation. Im vorliegenden Fall, man ahnte es gleich, spielen die Schönheit und die Jugend der Vanessa Ormston eine Rolle. Eifersucht liegt der Tat zugrunde, und auch das ist typisch für Trevor, der sehr gerne vor dem Plafond der Trivialliteratur arbeitet, die er durch seine große sprachliche und erzählerische Kunstfertigkeit erhöht.

    Man hat diesen großen irischen Erzähler noch nicht ganz gewürdigt, wenn man nicht auch auf seine Fähigkeit verweist, Figuren mit nur ein oder zwei knappen Sätzen aufs Genaueste zu charakterisieren. Man nehme Michingthorpe, eine graue Eminenz aus der Kurzgeschichte "Der Geschäftsfreund." Ein emotionaler Autist ist dieser Michingthorpe, vollkommen unfähig, sich auf irgend etwas außerhalb seiner selbst zu konzentrieren; und doch, das ist der Kern dieser Erzählung, seit Jahrzehnten still und schweigend in Clione verliebt, die Frau seines Geschäftsfreundes James:

    James schenkt ein und nickt. (...). "Cliones Geburtstag", sagte er und hält Michingthorpe einen Kir hin. Aber nichts, was außerhalb seiner selbst liegt oder Teil anderer Personen ist, kann Michinthorpen erschüttern. Seine Oberfläche reicht tief, denn die bessere Kenntnis seiner Person fördert auch nicht mehr zutage als das, was die Oberfläche preisgibt. Sein Hobby sei es, im Internet zu surfen, sagt er manchmal. (...). Clione setzt sich wieder. (...). Manchmal denkt sie, dass er nicht einmal ein fader Kerl ist, sondern nur ein Schemen mit kleinen schieferfarbenen Augen und Teenagerhaar von biblischem Aussehen. Ihr ist nicht klar, woher sie weiß, dass er sie liebt.

    Das, was nicht ausgesprochen wird, wohnt bei Trevor neben dem Verbrechen und allen angeschlossenen Phänomenen, dem der Bedrohung, der Angst, der Schuld. Hier ist ein mit fast achtzig Jahren alter Schriftsteller zu Werke, der sich bestens versteht auf die Niederungen der menschlichen Natur. Doch da zum Alter manchmal auch Weisheit kommt, findet man in Trevors Geschichten ebenso oft Auswege, die mit Erkennen und Vergebung zu tun haben. Um zu Professor Ormston zurückzukehren: Er entgleist nicht. Und er erkennt, dass alle Ungeschicke seiner Frau auf dem Wunsch beruhten, ihn zu schützen. "Mein Liebling", sagt Ormston, und wir, die Leser, atmen erst mal tief durch.

    William Trevor: "Tod des Professors. Erzählungen", Hoffmann & Campe, Hamburg 2007, 272 Seiten