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Anleitung zum Nachdenken über eine gerechte Welt

Der indische Ökonom Amartya Sen will mit seinem neuen Buch den Begriff der Gerechtigkeit aus den Wolken hochphilosophischer Betrachtungen auf die Erde holen. Ihm geht es um die konkrete Überwindung ebenso konkreter Missstände, die auf Ungerechtigkeit fußen.

Von Christoph Fleischmann | 27.09.2010
    The Idea of Justice heißt das englische Original des neuen Buches von Amartya Sen. Der Titel ist nur geringfügig unterschieden von dem großen Vorbild, an dem sich wie die meisten Gerechtigkeitsdenker vor ihm auch Amartya Sen abarbeitet: Der Philosoph John Rawls veröffentlichte 1971 A Theory of Justice. Dort eine Theorie der Gerechtigkeit, hier die Idee der Gerechtigkeit. Der Unterschied ist Programm: Rawls stellte sich die Menschen in einem Urzustand vor, in dem sie nicht wissen, welche Position sie in der Gesellschaft einmal einnehmen werden. Aus diesem Zustand hypothetischer Gleichheit entwarf Rawls nun, wie eine vollkommen gerechte Gesellschaft aussehen müsste. Sen kritisiert daran, dass der Bezug auf eine vollkommen gerechte Gesellschaft nicht weiterhelfe, wenn es konkret darum geht, wie man mehr Gerechtigkeit verwirklichen könne:

    Wenn wir versuchen zwischen einem Bild von Picasso und einem von Dalí zu wählen, hilft die Diagnose (wenn sie denn möglich wäre), dass die Mona Lisa das ideale, auf der Welt unübertreffliche Gemälde sei, uns bei der Entscheidung nicht. Diese Diagnose mag interessant sein, besagt aber für die Entscheidung zwischen Picasso und Dalí gar nichts.
    Darum bietet Sen keine geschlossene Theorie über die gerechte Gesellschaft, sondern nur Überlegungen zur Idee der Gerechtigkeit. Diese Überlegungen sollen helfen in den jeweils anstehenden Situationen zu entscheiden, was gerechter und was ungerechter ist.

    Philosophischer als im Beispiel mit dem Malern klingt die Abgrenzung von dem Ansatz von John Rawls und dem Gros der politischen Philosophie so:

    Dieser Ansatz, der ideale Institutionen zum Maßstab und Garanten für die Gerechtigkeit macht – man könnte ihn transzendentalen Institutionalismus nennen – hat zwei deutliche Merkmale: Erstens konzentriert er sich auf die vollkommene Gerechtigkeit und nicht auf einen Vergleich von mehr oder weniger Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Zweitens konzentriert sich der transzendentale Institutionalismus bei seiner Suche nach Vollkommenheit vorwiegend auf das richtige Verständnis der Institutionen und nicht unmittelbar auf die tatsächlichen Gesellschaften, die am Ende entstehen.
    Sens Verzicht auf eine Globaltheorie, die eine vollkommen gerechte Gesellschaft entwirft, enttäuscht sicherlich manche Lesererwartungen: Beim Lesen seines Buches kann man an vielen Stellen das Gefühl bekommen, das Kapitel, das man gerade liest, gehöre wohl noch zur Einleitung, zu den methodischen Vorklärungen. Bis man merkt: Man bekommt auf 450 Seiten nichts anderes serviert als Anleitungen zum vernünftigen Nachdenken über Gerechtigkeit. Dazu gehört auch, zu erkennen, dass der Bezug auf die Vernunft nicht zu einer wahren Lösung führt, oft gibt es nicht nur eine vernunftgemäße Lösung. Dabei ist es nicht die geringste Pointe, dass die vermeintlich konsistenten Gerechtigkeitstheorien in bestimmten Fällen genau das Gegenteil bewirken und Ungerechtigkeiten produzieren, weil sich nicht alle möglichen Fälle über den Leisten weniger vernünftiger Prinzipien schlagen lassen.

    Aber Sen destruiert nicht nur. Dem naheliegenden Vorwurf, dass eine Theorie, die dem je besonderen Fall gerecht werden will, keine orientierende Wirkung hat, begegnet Sen durchaus:

    Ich behaupte, dass es sehr gute Gründe gibt, Fragen zur Gerechtigkeit auf die Einschätzung sozialer Verwirklichungen zu konzentrieren, das heißt auf das, was tatsächlich geschieht (und nicht ausschließlich auf die Beurteilung von Institutionen und Regelungen).
    Hier zeigt sich, dass Sen Ökonom ist, der sich um die Entwicklung von Ländern des Südens gekümmert hat: So ist er weniger am gerechten Verfahren oder der Güte von Institutionen interessiert, was auch hierzulande oft im Fokus der Gerechtigkeitstheorien steht. Sen fragt danach, wie Menschen mehr Möglichkeiten erhalten, ihr Leben in Freiheit zu gestalten. Gerechtigkeit besteht für ihn in der Befähigung von Menschen.

    In diesem Ansatz wird der individuelle Vorteil gemessen an der Befähigung einer Person, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hoch schätzt. Hat eine Person geringere Befähigung – weniger reale Chancen – als eine andere, die Dinge zu tun, die sie mit Grund hoch bewertet, wird ihr Vorteil niedriger eingeschätzt. Der Schwerpunkt liegt hier auf der tatsächlichen Freiheit der Person, dies oder jenes zu tun – Dinge, die ihr wichtig sind.

    Dabei macht Sen auch klar, dass damit keineswegs einer bestimmten Form von Sozialpolitik das Wort geredet werde, bei der es darauf ankomme, die Menschen zu befähigen – "zu fördern und zu fordern" – statt ihnen Lebensgüter zuzuteilen. Vielmehr erfordere es die Befähigung von Menschen mitunter, ihnen bestimmte materielle Hilfen zugutekommen zu lassen.

    Man merkt dem stilistisch schön geschriebenen und übersetzten Buch an, dass der 76-jährige Sen hier eine Summe seines Forscherlebens zieht. Und man stellt fest, dass hier ein Denker am Werke ist, den man in unseren Breiten lange suchen muss: Ein Ökonom, der auf der Höhe des philosophischen Diskurses schreibt, ist in Deutschland so selten wie ein Philosoph, der auch in den Niederungen ökonomischer Prozesse zu Hause ist.

    Dass die damit verbundene Realitätstauglichkeit zulasten der klaren Handlungsanweisung geht, das kann man auch als Plus verbuchen. Man kann sogar fragen, ob Sen hier nicht noch hätte weitergehen und fragen können, auf welche realen Hindernisse das Urteilen über Gerechtigkeit trifft: Wenn die Verteilungsstrukturen einer Ökonomie wenig mit Gerechtigkeit zu tun haben, sondern viel mit Macht, und wenn diese Ökonomie den Rahmen des Politischen mehr und mehr bestimmt, unterläuft dann nicht die Wirtschaft das Bemühen um Gerechtigkeit? Immerhin liefert Sen hier das Rüstzeug, um auch diesem Problem beizukommen: Wenn die Wirtschaft Sachzwänge ausübt, müssen diese um der Gerechtigkeit willen reduziert werden, um die Befähigungen der Menschen zu vergrößern, das zu tun, was ihnen wichtig ist.

    Christoph Fleischmann über Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. Aus dem Englischen von Christa Krüger und erschienen im C.H. Beck Verlag, 493 Seiten für 29 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-40660-653-3.