Dienstag, 19. März 2024

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Ann Petry: "Country Place"
Eine instabile weiße Identität

Schwarze arbeiten als Hausangestellte, Juden billigt man, Frauen werden von oben herab behandelt – so hat sich die weiße Mehrheit das Leben im Connecticut der 1940er-Jahre in Ann Petrys Roman "Country Place" eingerichtet. Als ein Sturm das Städtchen Lennox verwüstet, gerät die alte Ordnung ins Wanken.

Von Dina Netz | 28.07.2021
Foto von Ann Petry und ihrem zweiten Roman „Country Place“
Ann Petrys erster Roman "The Street" war 1946 ein Bestseller. Er erzählt von einer alleinerziehenden schwarzen Mutter. 1947 kehrte Petry mit Mann und Tochter nach Connecticut zurück. Ihre zwei folgenden Romane spielen in fiktiven neuenglischen Städtchen. (Foto: © Elisabeth Petry, Buchcover: Verlag Nagel & Kimche)
Ann Petry hat keinen Krimi, aber doch eine Who-done-it-Geschichte geschrieben. Und daraus bezieht "Country Place" einige Spannung. Der Rahmenerzähler, der Apotheker des fiktiven neuenglischen Städtchens Lennox, blickt zurück auf Ereignisse des vergangenen Jahres und macht im ersten Kapitel noch etwas vage Andeutungen: "Während der Stürme und danach haben sich etliche bedauerliche Dinge ereignet. Ich denke, das Meiste davon wäre ohnehin passiert, aber wegen des Unwetters geschah alles früher, als es normalerweise geschehen wäre."

Ein Todesfall und viele Fragen

Dass zu den "bedauerlichen Dingen" auch mindestens ein Todesfall gehört, liest man bald zwischen den Zeilen heraus. Die Frage, wer denn nun gestorben ist und durch wessen Schuld, lässt Ann Petry bis kurz vor Schluss offen.
Buchcover von "The Street" vor organefarbenem Aquarellhintergrund.
Wie elend die Schwarzen in Harlem lebten
Es war der erste Roman einer Afroamerikanerin: Ann Petrys "The Street". Lutie, die mit ihrem Sohn im Harlem der 40er-Jahre lebt, schlägt sich mit Bürojobs durch und macht die bittere Erfahrung unüberwindlicher Mauern zwischen Schwarzen und Weißen.
Eigentlich ist es verwunderlich, dass nicht mehr Menschen zu Tode kommen in "Country Place". Denn die Atmosphäre in dem "Provinznest" Lennox ist aufgeheizt. Viele über lange Zeit angestaute Spannungen entladen sich, als Johnnie Roane nach vier Jahren aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrt. Er hatte kurz vor seiner Einberufung die hübsche Glory geheiratet und erhofft sich nun das große Glück an ihrer Seite. Doch bereits im Taxi nach Hause trübt sich Johnnies Freude über das Wiedersehen mit seiner Heimatstadt ein.
"Jetzt fiel ihm wieder ein, dass überall geklatscht und getratscht wurde – im Postamt, im Gemischtwarenladen, im Drugstore und sonntags nach dem Gottesdienst vor den Kirchen. Diese Sorte Grinsen im Gesicht des kleinen Mannes hinterm Lenkrad stand für die ganze Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit der Stadt, für ihr hinterhältiges Gespött über andere."

Verletzter Stolz, unerfüllte Erwartungen

Auch Johnnies Wiedersehen mit Glory verläuft nicht wie erhofft, sie verweigert sich ihm, er vergewaltigt sie. Das Wort "Mordlust" kommt ihm in den Sinn.
Dabei ist Johnnie gar kein Rohling. Er hat musische Interessen, würde Lennox gern Richtung New York für ein Kunststudium verlassen. Aber die Enttäuschung, nach vier Jahren Abwesenheit zu Hause eine abweisende Ehefrau vorzufinden, lässt ihn kopflos werden. Diese Zusammenhänge erklärt Ann Petry nicht, aber sie werden deutlich durch die präzise und feine Zeichnung der Figuren und ihrer Handlungen.
Ähnlich wie in Arthur Schnitzlers "Reigen" übernimmt in jedem Kapitel eine Figur aus dem vorigen die Staffel und erzählt aus ihrer Perspektive. Auch wenn die Figuren, wie die selbstbezogene Glory und ihre hinterhältige Mutter, einem nicht sympathisch werden, versteht man so doch zumindest ihre Motive. Oft handeln sie aus verletztem Stolz oder unerfüllten Erwartungen, und alle träumen von etwas, bei dem ihnen vermeintlich andere im Weg stehen.
"Gleich morgen früh, falls sie da noch am Leben wäre, würde sie sich an das Schnittmuster für ein nagelneues Leben machen."

Entladung im Sturm

Die Atmosphäre in Lennox brodelt, und Ann Petry versinnbildlicht die Stimmung durch einen heftigen Sturm.
"Der Ahorn war offensichtlich dem Tod geweiht. Ein junger, kräftiger Baum, aber gegen den Druck des Winds kam er nicht an. Er taumelte hin und her, ich sah zu, darauf gefasst, dass gleich der Stamm brechen würde, und dachte: Wo knickt er wohl ein – in der Mitte, an der Spitze oder an den Wurzeln? Weder – noch. Er wurde in einem Stück hochgerissen, mit Wurzeln und allem, in einer einzigen konvulsivischen Drehung, ein grauenhafter Anblick."

Die Parallelsetzung der Geschichte mit Wetterphänomenen wirkt ein bisschen überkonnotiert. Dass es im Inneren der Figuren stürmt, versteht man ohnehin. Ann Petry beschreibt die vergiftete Atmosphäre in Lennox äußerst plastisch, in der viele nur auf ihren Vorteil bedacht sind, Vorurteile gegenüber Juden und Frauen gepflegt werden und Schwarze nur als Hausangestellte vorkommen. Zugleich lässt die Autorin ihre Figuren immer wieder auch schöne philosophische Betrachtungen anstellen, die Pieke Biermann in ein elegant fließendes Deutsch übertragen hat. Die greise Mrs. Gramby denkt zum Beispiel über das Alter nach: "Das gehört zum Altwerden, man steht in Gedanken versunken da und denkt an etwas, das ewig her ist, und das Dringliche, das man eigentlich im Kopf hatte, flutscht davon und ist vergessen."

Identität auf fragwürdigem Fundament

Die meisten Figuren in "Country Place" sind weiß, und Ann Petry sah sich, wie viele andere schwarze Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den späten 1940er- und 50er-Jahren, mit dem Vorwurf konfrontiert, "raceless novels" zu schreiben. Warum sie sich für weiße Protagonistinnen und Protagonisten entschied, darüber kann man heute nur spekulieren.
Das Etikett "raceless" trifft auf "Country Place" jedenfalls nicht zu. Rassismus ist in Lennox durchaus präsent, gegenüber Schwarzen, Juden, Iren. Petry scheint es in "Country Place" aber eher um das durch und durch weiße Milieu gegangen zu sein, um seine Intrigen und seine moralische Fragwürdigkeit.
Wie die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Farah Jasmine Griffin im Nachwort erläutert, zeigt Ann Petry, dass die weiße "racial identity" instabil geworden ist, auf dem: "...moralisch bankrotten Fundament ethnischer und rassistischer Vorurteile (sowie auf Sexismus und Misogynie) errichtet ist".
Eine Gruppe, die sich ausschließlich durch Abgrenzung gegenüber anderen definiert, ist nicht überlebensfähig. Johnnies Rückkehr und der Sturm verursachen den Einsturz eines ohnehin instabilen Kartenhauses. Folgerichtig stellt am Schluss die alte Mrs. Gramby die Ordnung wieder her, die noch aus einer anderen Zeit mit strengen moralischen Werten stammt.
"Country Place", 1947 erschienen und jetzt erstmals auf Deutsch zugänglich, erzählt eine universelle Geschichte über geistige Enge und ihre Folgen für eine Gemeinschaft. Ann Petrys zweiter Roman könnte zeitgemäßer nicht sein.
Ann Petry: "Country Place"
Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann
Mit einem Nachwort von Farah Jasmine Griffin
Verlag Nagel & Kimche, München. 320 Seiten, 24 Euro.