Dienstag, 23. April 2024

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Anna Reinecke: "Leinsee“
Die Hölle, das sind die Eltern

Der Abschied von den Eltern ist in diesem Bücherjahr ein gern gewähltes Sujet. Auch die Berliner Debütantin Anne Reinecke hat den Konflikt eines eigentlich längst erwachsenen Sohnes mit seinen übermächtigen Eltern zum Thema ihres Romans gemacht.

Von Thomas Kretschmer | 09.08.2018
    Buchcover "Leinsee" von Anne Reinecke im Hintergrund ein gefrorener See
    Anne Reineckes Debüt leidet unter zu viel Kirschkuchenkitsch und Schlagsahne (Cover: Diogenes Verlag / Hintergrund: Berzkalns)
    Der Anfang dieses Romans ist nicht besonders appetitlich: Karl reist im ICE von Berlin in den Südwesten Deutschlands – und verbringt einen guten Teil der Fahrt über die Toilette gebeugt. Plötzlich und unerwartet muss der junge Künstler diese Reise antreten. Er fährt zu seinen Eltern irgendwo südlich von Mannheim, die Mutter liegt mit einem Hirntumor im Krankenhaus, der Vater hat sich das Leben genommen. Karl bekämpft seine Trauer, die Angst und die Ungewissheit mit Bier und Wodka.
    "Er erinnerte sich nur an den doppelköpfigen Umriss seiner Eltern, Arm in Arm in flackernden Fernsehbildern. Ada und August Stiegenhauer, das Künstlerpaar, die Ikonen des späten zwanzigsten Jahrhunderts, leuchtend und schön, abwechselnd redend und nickend. Wenn er sich anstrengte, sah Karl seine Mutter vor sich. Das Gesicht seines Vaters aber hatte er verloren."
    Kunst und Regenbogenpresse
    Karl ist gerade einmal 26 Jahre alt, hat sich aber schon einen großen Ruf als Künstler erarbeitet – als Karl Sund. Denn seinen eigentlichen Namen Stiegenhauer trägt er nicht mehr, seit ihn seine Eltern mit zehn ins Internat gesteckt haben. Damit er nicht nur als Sohn der berühmten Eltern wahrgenommen wird, bekommt Karl einen neuen Nachnamen verpasst. Von da an fehlen sie ihm, Ada und August, bekannt aus Funk, Fernsehen, Kunstbetrieb und Regenbogenpresse. Im echten Leben sieht der Sohn die Eltern irgendwann gar nicht mehr, als Kind zumindest noch in den Sommerferien und an Weihnachten.
    "Wenn die Zeit mit seinen Eltern anstand, war Karl schon Wochen vorher in Aufregung. Die Vorfreude verbreitete sich vom Brustbein aus nach und nach im ganzen Körper, nachts rauschte sie in seinen Ohren und ließ ihn nicht schlafen."
    Türkisblau und fast schwarz
    Nun aber rutscht Karl unvermittelt in eine völlig neue Rolle. Er wird zum Nachlassverwalter seiner Eltern und übernimmt deren Villa in Leinsee. Hier findet Karl, hier findet auch der Roman sein Zentrum: wohlgeordnet drapiert die Autorin Anne Reinecke hier ein Ensemble aus Villa, Kirschbaum, Bootshaus und großer Terrasse in eine süddeutsche Kulturlandschaft. Karl und der Roman verlieren mehr und mehr alles Unappetitliche und Dreckige. Jedes Kapitel von "Leinsee" ist mit einer Farbe überschrieben. Das "Türkisblau und fast schwarz" des Anfangs weicht warmen Tönen wie "Kirschviolett" und "harzgolden". Zwar ist ihm das große Erbe seiner Eltern eine Last, doch trotzdem entfernt sich Karl von seinem Berliner Künstlerleben und seiner Frau Mara. Zwischen See, Villa und Kirschbaum findet Karl Stück für Stück zu sich.
    "Karl schwamm im See. Er zeichnete viel. Er schleppte eine Matratze in sein Zimmer. Er trank. Er richtete sich im Haus ein. Er trank weniger. Er wanderte durch das Atelier. Er putzte das Haus, er ging einkaufen, er kochte, er brachte den Müll raus. Er telefonierte mit Mara und schaute dabei in den Garten. Er wartete auf das Kind."
    Dieses Kind sitzt eines Tages in einer Astgabel des Kirschbaums. Strubbelig sind ihre Haare, ihre Lächeln asymmetrisch – und sie ist gerade einmal acht Jahre alt Und trotzdem begleitet sie Karl von da an durch sein Leben und den Roman. Langsam vollzieht sich die Annäherung zwischen den beiden. Wie ein scheues Tier taucht Tanja immer wieder auf, um dann für lange Zeit kein Zeichen von sich zu geben. Statt Worten tauschen sie Fundstücke aus Feld und Flur: Ohrringe, Federn, solche Sachen. Mit Tanja holt der 18 Jahre ältere Karl seine Kindheit nach. Entdeckt aber auch ganz neue Talente in sich.
    "Karl hatte allen Ernstes ein Backbuch gekauft und eine Schwarzwälder Kirschtorte mit allem Drum und Dran gemacht. Aber damit nicht genug: Er hatte auch noch ein großes Blech Kirschstreuselkuchen gebacken. Er hatte Sahne geschlagen und Blumen gepflückt."
    Der Kirschkuchenkitsch ist nah
    Karl ist eine spannende Figur, wie er sich von seinen Eltern ablöst, sein Leben vom Kopf auf die Füße stellt und mit Tanja zum ersten Mal Kind sein kann – das alles erzählt Anne Reinecke klar und klug. Wenn nur die Schlagsahne nicht wäre: Villa, Kirschbaum und See sind verführerisch als Erzählwelt, da ist der Schritt zum Kirschkuchenkitsch allzu nah. Wenn Karl mit Tanja Kirschkerne um die Wette spuckt ist das noch schön. Wenn Tanja zehn Jahre später aber im metallic-goldenen Bikini aus dem See steigt und Boticellis Venus nachstellt, dann ist das ein Schlag Sahne zu viel. Denn es kommt, wie es kommen muss: nach Jahren des Wartens werden Karl und Tanja ein Paar, verleben zauberhafte Monate in der Villa, kochen Kirschmarmelade und lieben sich im Bootshaus am See.
    "Und ja, er wusste selbst, dass das kitschig war, aber das änderte ja nichts daran, an dem dunklen Blick nicht und an allem anderen auch nicht, und man durfte auch nicht immer so kleinlich sein, was den Kitsch anging."
    Als Tanja für die große Freiheit nach dem Abitur Karl und Leinsee verlässt, da ist es erst einmal vorbei mit Kirschen und Kuchen. Karl kehrt gebrochen zurück nach Berlin, nicht ohne am Ende die Hoffnung haben zu dürfen, Tanja wiederzusehen. Wir Leser bleiben mit gemischten Gefühlen zurück: Denn einerseits zeigt Anne Reinecke, wie gut sie schreiben kann, wie wichtig ihr ihre Geschichte und die Konflikte ihrer Figuren sind. Auf der anderen Seite erinnert dieses Debut zu sehr an einen deutschen Fernsehfilm zur Hauptsendezeit: Die Ausstattung ist gediegen, das Licht perfekt gesetzt, und trotzdem bleibt es schöne Unterhaltung in warmen Farben.
    Anna Reinecke: "Leinsee"
    Diogenes Verlag, Zürich, 338 Seiten, 24 Euro