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Annäherung im Sitzen

Die Paralympics haben ihren Ursprung im Sport für Kriegsversehrte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Soldaten von der Front und stärkten durch Bewegung ihr Immunsystem und Selbstvertrauen.

Von Ronny Blaschke | 02.09.2012
    In den vergangenen Jahren kehren die Paralympics immer mehr zu ihren Wurzeln zurück. Irak, Afghanistan, Kosovo oder Kambodscha: viele Sportler, die in London teilnehmen, waren Soldaten in Konfliktregionen und wurden schwer verletzt. Wie ihnen der Sport danach helfen kann, beweisen vor allem die Sitzvolleyballer aus Ruanda.

    Sie wirken erstarrt, geben kaum Kommandos, schlagen reihenweise die Bälle ins Aus. Mit dieser Zuneigung der britischen Zuschauer haben die Sitzvolleyballer aus Ruanda nicht gerechnet. In ihren blauen Trikots mit gelben Streifen blicken sie sich verlegen an, ihr Spiel gegen den amtierenden Olympiasieger Iran ist schnell mit 0:3 Sätzen verloren. Ruandas groß gewachsener Kapitän Emile Vuningabo blickt noch einmal auf die Tribünen und klatscht mit im Rhythmus der Zuschauer.

    "Das war wichtig für uns, das war toll. Eine solche Atmosphäre und eine solche Organisation haben wir noch nicht erlebt. Wir sind stolz darauf, unser Land hier präsentieren zu dürfen. Viele Menschen aus Europa oder Amerika verbinden Ruanda zuerst mit dem Völkermord. Auch wir denken zurück, aber das Land hat sich stark entwickelt. Deshalb wollen wir der Welt zeigen, dass wir optimistisch nach vorn schauen sind. Und jede gute Chance ergreifen wollen."

    1994 eskalierte ein langjähriger Konflikt: Angehörige der Hutu-Mehrheit töteten in rund 100 Tagen drei Viertel der Tutsi-Minderheit, insgesamt starben rund eine Million Menschen. Damals gehörte der Tutsi Dominique Bizimana zu den Rebellen, bei einem Gefecht verlor er seinen linken Unterschenkel. Bizimana überlebte und gründete 2001 das Nationale Paralympische Komitee Ruandas, er sah im Sport eine Chance zur Annäherung. Zu einem wichtigen Partner wurde ein früherer Gegner: Der Hutu Jean Rukundo war im Dienst für die Nationale Armee auf eine Landmine getreten und verlor sein linkes Bein. Gemeinsam suchten sie Sportler und Sponsoren, konzentrierten sich auf vier paralympische Sportarten, darunter Sitzvolleyball. Und sie verpflichteten einen erfahrenen Trainer, der kein Gehalt verlangt, den niederländischen IT-Manager Pieter Karreman.

    "Die Spieler versuchen sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Aber natürlich können sie ihre Geschichte nicht ablegen. Die meisten haben ihre Behinderungen aus dem Krieg davon getragen. Ich habe mich über ihre Biografien informiert, falls es deswegen Spannungen geben sollte. Aber die gibt es nicht. Sie arbeiten als Team hervorragend zusammen. Das ist wirklich beeindruckend."

    Menschen mit Behinderung genießen in Ruanda weit weniger Akzeptanz als in Deutschland oder Großbritannien. Es soll Eltern geben, die ihre behinderten Säuglinge getötet haben. Es soll Schulen geben, die behinderte Kinder nicht aufnehmen wollten. Das Paralympische Komitee Ruandas will Menschen mit Einschränkungen in Ostafrika sichtbarer machen, und schon jetzt übernehmen die Nachbarn Uganda, Burundi und die Demokratische Republik Kongo Ansätze des Konzeptes. Ruandas Volleyball-Kapitän Emile Vuningabo war mit fünf Jahren an Polio erkrankt, seitdem ist sein linkes Bein teilweise gelähmt. Der 25-Jährige studiert Computer-Wissenschaften.

    "Wir haben viele Menschen mit Behinderungen zu Hause. Einige haben sich aufgegeben, sie fühlen sich wertlos. Wir wollen ihnen zeigen, dass diese Einstellung falsch ist. Schauen Sie auf unseren Sport Sitzvolleyball. Wie können nicht hoch springen und schmettern, aber wir können sitzen und schmettern. Das ist doch nicht wirklich schlechter. Wir wollen die Integration von behinderten Menschen in unserer Gesellschaft vorantreiben. Jeder kann sein Ziel erreichen. Wir haben uns für London qualifiziert. Aber ich möchte gern an drei Paralympics teilnehmen."

    Immer mehr Kriegsversehrte treten bei den Paralympics an. Im Team der USA stehen zwanzig ehemalige Soldaten, die in Afghanistan oder im Irak verwundet wurden. Großbritannien hat acht frühere Soldaten nominiert. In beiden Ländern gibt es teure Förderprogramme, die eng mit Organisationen für Kriegsveteranen verbunden sind. In Ruanda bestehen gerade mal drei größere Sportanlagen, das Sitzvolleyball-Nationalteam trainiert selten zusammen. Und wenn, dann auf hartem Beton, im Sand oder auf Gras. Trainer Pieter Karreman:

    "Ich versuche, Disziplin vorzuleben, aber hier in London fällt das schwer, denn die Ablenkungen sind einfach zu groß. Die Spieler sind beeindruckt: von der Stadt, vom Paralympischen Dorf, von der Freizügigkeit. In Ruanda haben sie manchmal Wochen lang keine richtige Mahlzeit. Hier können sie kostenfrei essen. Das kann ein Problem sein."

    Ruanda hat seine paralympische Premiere 2000 in Sydney gefeiert, mit einem Teilnehmer im Schwimmen. Nun ist das Land mit 14 Sportlern vor Ort. Dominique Bizimana, der Gründer des Paralympischen Komitees, trägt auf dem Volleyballfeld die Nummer 1. Mit 36 ist er der älteste Spieler. Doch auch 2016 in Rio de Janeiro wäre er für seine Aufgaben noch jung genug.