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Anne Carson: "Irdischer Durst"
Das Unvollkommene als Quelle unbegreiflicher Sensationen

Die kanadische Dichterin Anne Carson zählt in Kanada und den USA zu den wichtigsten Stimmen der Gegenwart. In ihrem Band "Irdischer Durst" wagt sich die Nobelpreisanwärterin wieder einmal dorthin, wo die glatte Oberfläche der Wörter brüchig wird und Unerwartetes geschieht.

Von Astrid Nettling | 21.07.2020
Die Schriftstellerin trägt ein Basecap und eine Brille und steht vor einer Glasfassade
Anne Carson - immer auf der Suche nach dem Unerwartbaren (AP)
"Eines Frühmorgens fehlten Wörter", so beginnt Anne Carson eine längere Passage ihres Buchs. Keine gute Ausgangssituation für eine Dichterin, möchte man meinen. Für die kanadische Dichterin jedoch das Beste, was passieren kann. Aufwachen und sich ausgesetzt finden wie auf einer leeren Ebene – "plain" – oder sich hineingestoßen fühlen wie in klares Wasser – "plainwater" –, so lautet auch der englische Titel des Buchs. Und dann muss man zusehen, wie man klarkommt. Als Dichterin, aber ebenso als Leser oder Leserin. Langweilig jedenfalls wird es nicht, verspricht sie:
"Man kann nie genug arbeiten, Infinitive und Partizipien nie seltsam genug einsetzen, eine Bewegung nie schroff genug vereiteln, einen Gedanken nie schnell genug verlassen."
"Hirnsexbilder"
Aber fangen wir mit dem ersten Teil ihres Buchs an, der ebenfalls mit fehlenden Wörtern beginnt – mit Textfragmenten des frühgriechischen Dichters Mimnermos aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Sich solchen Texten zu widmen ist für Anne Carson nichts Ungewöhnliches, denn die Dichterin ist zugleich klassische Philologin.
"Da ist etwas am Griechischen, das tiefer in die Wörter zu dringen scheint als jede moderne Sprache", hat sie einmal erklärt, "so dass du dich an den Wurzeln befindest, wo Wörter arbeiten." Dort, wo man sehen kann, wie sie schließlich ans Licht kommen – "plain" – noch ungeschminkt.
Bei dem Elegiker Mimnermos etwa als ungeschminkte Klage über die allzu kurze Blüte der Jugend und den bitteren Verlust aller Begierden im Alter. "Mimnermos: Die Hirnsexbilder" hat Carson ebenso unverblümt Teil I überschrieben. "Wir alle wie Blätter" beginnt eins seiner Fragmente. Bei der Dichterin liest es sich so:
"Wir alle wie Blätter in seinem Schock:
Frühling –
ein stumpfer Goldsprung und du bist da.
Siehst du die Sonne? – Mein Werk.
Als Jüngling. Die Moiren im Eck schlugen mit den Schwänzen.
Aber (lass mich nachdenken) hatte ich nicht
in einem Hotel in Chicago mein erstes – mein Körper lief aus dem
Zimmer
versessen auf irgendeine tödliche Besorgung
und ich oben an der Decke in irgendeinem Verlöschen begriffen –
dieser Hirnsex-Bilder wie ich sie nannte?"
Die Frage, was bei Carson Übersetzung, was Kommentar, was Dichtung ist, erübrigt sich. Schließlich geht es ihr nicht darum, Textlücken zu füllen, fehlende Wörter zu rekonstruieren. Philologisch beschlagen einerseits, schöpft sie als Dichterin gerade aus dieser Leere, die die fehlenden Wörter hinterlassen haben. Was sie nicht abhält, sich im Anschluss an die Mimnermos-Fragmente in einem brillanten Kurzessay über diesen Dichter wiederum als Philologin zu Wort zu melden. "Short Talks" – "Kurze Reden" bilden den zweiten Teil ihres Buchs. Als "Faszikel" bezeichnet Carson sie in der Einleitung. Kleine Wörterbündel also, lose geschnürt und zugleich hochgespannt wie Nervenbündel – z.B. "Über nächtliches Jungsein":
"Jung, wie er war, umkreiste er nachts oft den Schrei. Der lag mit seiner Hitze und den fleischartigen Rosenbassins im Zentrum der Stadt und gaffte ihm entgegen. Schreckenslava schimmerte dem Jungen auf der Seele. So fuhr er und starrte."
Die fehlenden Worte
Auch die Dichterin umkreist in diesen Prosastücken erneut jene Wörterlosigkeit, in deren Mitte manchmal ein Schrei, eine Verrücktheit, ein brennender Schmerz oder ein unstillbares Verlangen stecken, um daraus Sprache werden zu lassen. 45 "Kurze Reden" sind es insgesamt, in denen sie über Reiserouten, Entjungferung, Schlafsteine, Hedonismus spricht, über Ovid, Vincent van Gogh, Brigitte Bardot, über Rückwärtsgehen, Wasserdichtmachen, "Über sonntägliches Abendessen mit Vater" oder "Über die Mona Lisa" von Leonardo da Vinci.
"Jeden Tag goss er seine Frage in sie, so wie man Wasser aus einem Behälter in einen anderen gießt, und es goss zurück. Erzähl mir nicht, dass er seine Mutter malte, oder Lust oder so. Ein Durst war das, und er nahm an, dass er fortfahren würde, bis die Leinwand völlig leer wäre. Aber Frauen sind stark. Sie verstand etwas von Behältern, von Wasser und vom irdischen Durst."
In diesem Jahr feiert die kanadische Dichterin ihren 70. Geburtstag. Im Rahmen des 21. Poesiefestivals Berlin hielt sie im Juni eine Rede, die per Video übertragen wurde. Diese Berliner Rede ist nun als kleines Buch erschienen. Zweisprachig unter dem Titel "Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte" – eine schöne Ergänzung zu den 45 "Kurzen Reden". Es sind Blickwinkel, in denen Carson den herkömmlichen Horizont der Wörter verschiebt und ins Fragwürdige kippt. Mit Blicken, die am bekannten Aussehen der Wörter kratzen wie etwa am ‘Irrtum’:
"An der Grenze zum Irrtum liegt die Angst.
Inmitten eines Irrtums herrschen Torheit und Niederlage.
Den eigenen Irrtum zu erkennen verursacht Scham und Schuldgefühle.
Wirklich?"
Mut zum Unvollkommenen
Carson spricht nicht zuletzt in eigener Sache. Können doch Irrtümer, Fehler, Missgriffe gänzlich Unverhofftes zum Vorschein bringen. Poesie zum Beispiel – "die mutwillige Produktion von Irrtümern, der bewusste Bruch und die Verkomplizierung von Fehlern bis zum Auftritt von Unerwartbarkeit", schreibt die Dichterin. In dieser Weise sind ihre Texte verfasst. Furchtlos und mit klarem Blick auf das Fehlerhafte und das Fehlende, den Mangel und das Unvollkommene als Quelle unbegreiflicher Sensationen sowie ungekannter Gesichter, die die Wörter plötzlich zeigen können. Das gilt auch für ihren Band "Irdischer Durst" mit seinen vier Teilen: "Mimnermos: Die Hirnsexbilder","Kurze Reden", "Das Leben der Städte", "Canicula di Anna", also etwa, "Hundstage von Anna". In diesem längeren Prosagedicht nimmt sie den Leser mit in die fiebrige Hitze von Perugia während einer Phänomenologentagung. Der Renaissancemaler Perugino ist ebenfalls anwesend und auf der Suche nach Anna, seiner Geliebten.
"Ich schlief, erwachte, fiel in Hundsfieberschlaf. Ich hungerte nach Anna." Aber vielleicht ist es auch das Ich der Dichterin selbst, das sich in dieser Geschichte auf der Suche nach Anna bzw. Anne befindet. Wie immer wagt sich Anne Carson bis ans Äußerste. Dorthin, wo " die glatte Oberfläche auf einmal brüchig oder kompliziert wird" – sei es die Oberfläche der Wörter oder die des eigenen Ichs –, und Unerwartetes eintritt. So auch beim "Schneestehen" inmitten einer völlig weißen Leere irgendwo in den Wäldern Kanadas:
"An seiner Oberfläche kühlt der Körper aus, aber sein Kern ist heiß, und es ist möglich, die Oberfläche abzutrennen, sich in den Kern zurückzuziehen, in den atemberaubender Frieden einströmt, es ist der durchspülende Frieden des Sehens, Hörens, Fühlens, direkt im Kern des Schnees, direkt im Obhutskern des Schnees."
Atemberaubend ist auch die Erfahrung, die diese ungewöhnliche Dichterin wieder einmal ihren Lesern schenkt. "Seien Sie versichert, ich werde alles tun, damit keine Langeweile aufkommt", hatte sie versprochen. Langeweile droht bestimmt nicht, lässt man sich auf ihren so scharfsichtig präzisen wie verwirrend kühnen Umgang mit den Wörtern ein. Kein bequemer Spaziergang durch bekanntes Wortgelände, man muss schon zusehen, wie man klarkommt. Doch ein solches Abenteuer wird während des Lesens überreich belohnt.
Anne Carson: "Irdischer Durst"
Aus dem kanadischen Englisch von Marie Luise Knott, Matthes & Seitz, Berlin.
118 Seiten, 20 Euro.
Anne Carson: "Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte.
Thirteen Ways of Looking at a Short Talk"
Deutsch/Englisch. Aus dem Englischen von Anja Utler.
Reihe: Berliner Rede zur Poesie; Bd. 5, Wallstein Verlag Göttingen.
52 Seiten, 13,90 Euro.