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Annette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland.

Biographien und Autobiographien erfreuen sich bei den Lesern einer gewissen Beliebtheit, besonders dann, wenn sie Außergewöhnliches einer Lebensgeschichte mit Allgemeingültigem zu verbinden verstehen. Viele erfahren lieber etwas über die Geschichte aus solchen lebensgeschichtlichen Erzählungen als aus Geschichtsbüchern.

Kristine von Soden | 08.12.2003
    Annette Kuhn ist Emigrantin, Historikerin, weibliche Akademikerin der ersten Stunde in einem männerbeherrschten Universitätsfach: Das alles bietet Stoff für eine ebenso ungewöhnliche wie auch exemplarische Autobiographie. Nicht zufällig heißt ihr Buch deshalb auch: "Ein Frauenleben in Deutschland". Kristine von Soden hat Annette Kuhns Autobiographie: "Ich trage einen Goldenen Stern" für uns gelesen.

    Es war ein harter Kampf. Und er zog sich über viele Jahre hin: Der Kampf um den "feministischen Blick" in der Geschichtswissenschaft, wie es im Jargon der "neuen Frauenbewegung" Mitte der 70er Jahre hieß. Denn bis dahin blieben Frauen mit ihren Lebensbedingungen, ihrem Alltag, ihren beruflichen und sozialen Leistungen aus der historischen Forschung weithin ausgeblendet - mit Ausnahme berühmter Frauen aus Kunst und Kultur: Frauen, die große Namen tragen wie Käthe Kollwitz, Bettine Brentano oder George Sand. Die offizielle Geschichtsschreibung indes kannte nur das männliche Geschlecht als handelndes Subjekt und betrachtete alles Nicht-Männliche als Abweichung von der Norm. Männer "machten" Geschichte. Und das im doppelten Sinn: Sie allein saßen (wie naturgegeben) an den Schalthebeln der Macht. Und nur aus ihrer Perspektive wurde folglich protokolliert, interpretiert und archiviert, was unter dem Begriff "Die deutsche Geschichte" Eingang ins öffentliche Bewusstsein fand und sich als Wissens- und Lernstoff niederschlug in Kompendien, Lexika und Schulbüchern.

    Annette Kuhn, geboren 1934, gehört zu jenen Wissenschafts-Pionierinnen, die diese "patriarchalische Struktur" in Gesellschaft und Geschichtsschreibung der Bundesrepublik kritisch unter die Lupe nahmen. Und dafür eintraten, dass Frauenforschung an den deutschen Hochschulen institutionalisiert wurde: zum einen im Vorlesungs- und Seminarbetrieb mit der Intention, dass "frauenspezifische Themen" fester Bestandteil des Fächerkanons wurden; zum anderen ging es darum, (mehr) Frauen in die Lehre zu holen, und das nicht nur in den akademischen Mittelbau, sondern an die Universitätsspitze. Noch 1995 beispielsweise betrug der Anteil von Frauen an der Professorenschaft lediglich 5.4 Prozent! Einen jener begehrten Lehrstühle hatte Annette Kuhn inne: Bereits 1966 war sie an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität berufen worden für die Lehrgebiete Mittelalterliche und Neuere Geschichte. Annette Kuhn, die Philosophentochter aus 'gutem Hause’, war mit ihren damals gerade 32 Jahren die jüngste Professorin in der BRD.

    Ein erstes Nachdenken über Frauengeschichte begann mit der 68er Bewegung. Als ich im Wintersemester 1971 mein Seminar zur NS-Zeit eröffnete, wollten die Studierenden etwas über Frauen in der NS-Zeit wissen. Ich war überrascht, willigte zwar sogleich ein, begriff jedoch noch nicht, wozu ich Ja gesagt hatte. Schnell bemerkte ich, dass in den Standardwerken Frauen in der nationalsozialistischen Zeit überhaupt nicht erwähnt wurden. Eine einschlägige Quellenedition zur Aktivität von Frauen in der NS-Zeit gab es nicht Glücklicherweise wollten meine Studentinnen und Studenten es jetzt genau wissen. Wie hatten ihre Mütter sich 1933 verhalten? Was haben sie in den Jahren 1933 bis 1945 getan? Waren sie Opfer? Vom Nationalsozialismus als System? Von ihren Männern als Individuen? Waren sie Täterinnen? Mitläuferinnen? Oder haben sie gar Widerstand geleistet auf ihre eigene Weise? Die Fragen häuften sich. Plötzlich veränderte sich mein Blick auf die NS-Zeit. Die NS-Zeit, ein Höhepunkt in der patriarchal geprägten deutschen Sondergeschichte? War der Nationalsozialismus überhaupt verstehbar, wenn ich mich nicht mit der Frauen- und Geschlechterfrage befasse?

    In ihrer Biografie erzählt Annette Kuhn erstaunlich wenig über ihre feministischen Mitstreiterinnen. Denn keineswegs stand sie mit dem "feministischen Blick" allein in der Hochschullandschaft. Zur Leitfigur einer ganzen Generation Studierender war etwa zeitgleich auch Karin Hausen an der TU Berlin geworden, die 1986 mit ihrem Sammelband "Wie männlich ist die Wissenschaft?" grundlegende Thesen zur historischen Frauenforschung entwickelt hatte. Doch kein Wort findet sich dazu bei Annette Kuhn. Eine Position in den damals geführten theoretischen Diskussionen oder gar eine nachträgliche Bewertung sucht man vergeblich. Die inzwischen beinahe 70jährige stellt vielmehr sich selbst in den Mittelpunkt: Als Opfer der "patriarchalen Diskursmacht", die sie über Jahre hinweg, wie sie sagt, hautnah zu spüren bekam - vor allem, als man ihr die Prüfungsbefugnis nahm und sie aus dem Prüfungsamt am Historischen Seminar ausschloss. Die Begründung des Dekans 1989 lautete lapidar: Sie habe die Frauengeschichte zu einem Teilgebiet der Geschichte machen wollen. Das sei wissenschaftlich untragbar!

    Den Kollegen ging es...um die Aufrechterhaltung ihres eigenen, die Frauengeschichte ausschließenden historischen Bewusstseins. Bei jeder Andeutung des weiblichen Geschlechtes als einer historischen und sozialen Kategorie steigerten sie sich in eine pompöse, lächerlich wirkende, aber mich stets verletzende Haltung der Verachtung hinein.

    Verachtung trifft ungleich härter als bloße Ignoranz und gräbt sich nachhaltig in die Selbstwahrnehmung ein. Schlimmstenfalls als irreversible Beschädigung. Letzteres vermittelt Annette Kuhns Lebensbeschreibung, die über weite Strecken hin von einer seltsamen Aura aus Esoterik und Suche nach den Requisitenkammern ihrer Kindheit umgeben ist. Ihr Ton klingt überwiegend enttäuscht und resigniert oder auch entrückt, wenn sie sich immer wieder auf Christine de Pizan bezieht, jene spätmittelalterliche Schriftstellerin, die eine utopische "Stadt der Frauen" errichten wollte und sich von der Frage leiten ließ: Wollen Frauen, wie es die Männer behaupten, vergewaltigt werden?

    Meine Lippen brannten. Sie berührten die Lippe meiner Freundin, meiner Mutter...Mein Berufsleben, ein Leben voller Gewalterfahrungen. Mein Leben - ein Spielball fremder Macht. Ein Leben - eingehüllt in einen Wach-Schlaf. Im Schlaf rief ich: Ich will nicht vergewaltigt werden.

    Als versierte und erfolgreiche Herausgeberin zahlreicher Sammelbände zur Frauenforschung trug Annette Kuhn maßgeblich dazu bei, dass "der feministische Blick" unter den Studierenden mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wurde und bis heute eine Fülle verschütteter historischer Frauenerfahrungen ans Tageslicht gebracht hat. Dieser immense Fortschritt indes spiegelt sich in ihrem Buch kaum irgendwo wieder. Im Gegenteil. Am Ende verdichtet sich der Eindruck, als habe der jahrelange Kampf nichts als Erschöpfung und Auszehrung gebracht. Selbst wenn das zuträfe, muss man deswegen in unerträglichen Sprachkitsch abgleiten?

    Wenn ich früh tanze, ist mein Körper Musik. Mittags ist er eine Trompete. Abends eine Flöte...Was ist passiert? Ich werde alt. Ich weiß es. In mir spricht eine Stimme: Du wirst alt, alt, alt, alt. Die Stimme ist weich, warm, voll. Sie singt. Sie weckt neue Töne in meinem Körper. Sie trommelt in meiner Magengegend. Sie kitzelt mich an den Zehen. Ich liebe diese Stimme...

    Eine stilsicheres Lektorat hätte dem Buch gut getan. Von solchen Passagen wimmelt es nämlich nur so. Schlimm und Peinlich. Durchaus informativ und pragmatisch-sachlich geschrieben ist indes der Anfang der Biografie. "Geboren unter einem goldenen Stern", lautet die Überschrift des ersten Kapitels, in dem Annette Kuhn von ihrer jüdischen Mutter und ihrem Vater, der ebenfalls einen jüdischen Elternteil hatte, erzählt. 1937 verließ die Familie ihre Heimatstadt Berlin. Emigrierte zunächst nach England. Dann weiter in die USA, wo Annette Kuhn ihre "Mädchenjahre" verbracht hat - privilegiert auf besten Schulen und von hochdotierten Stipendien sorglos abgesichert. Annette Kuhns Vater hatte einen Ruf an die Universität Chapel Hill, North Carolina bekommen. An Geld fehlte es nicht. Ebenso wenig an sozialen Kontakten.

    1948 kehrten die Kuhns nach Deutschland zurück, konvertierten zum Katholizismus, verwischten unter dem Anpassungsdruck ihre jüdische Herkunft. Neue Aspekte fügt Annette Kuhn durch ihr Buch dem schon aus zahlreichen anderen Lebenserinnerungen bekannten nicht hinzu. Ihre Ausführungen wirken eher ein wenig wie zu spät gekommen.
    Angesichts der Kämpfe, die Frauen noch heute an vielen deutschen Universitäten auszufechten haben, ist es besonders schade, dass es Annette Kuhn nicht gelungen ist, der Frauenforschung eine überzeugendere Stimme zu geben.

    Kristine von Soden besprach: "Ich trage einen Goldenen Stern - Ein Frauenleben in Deutschland" von Annette Kuhn. Es ist im Aufbau Verlag erschienen, kostet 17.90 Euro und hat 232 Seiten.