Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Annette von Droste-Hülshoff: Leben und Werk

Annette von Droste-Hülshoff:

Alexander von Bormann | 24.05.1998
    - Sämtliche Werke in zwei Bänden Hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler Deutscher Klassiker Verlag, 1998, 2 Bände (1006 und 1005 Seiten) Preis: 98 Mark

    - Sämtliche Gedichte in einem Band Hrsg. von Karl Schulte Kemminghausen Insel Verlag, 1998 Preis: 32,80 Mark

    - Sämtliche Briefe, historisch-kritische Ausgabe Hrsg. von Winfried Woesler dtv, 1996, 469 + 50 Seiten Preis: 48 Mark

    Walter Gödden:

    Leben und Werk Eine Dichterchronik Verlag Peter Lang, Bern 1994

    Im letzten Jahr feierte man ein Droste-Jahr, da war die Dichterin vor zweihundert Jahren geboren worden. Und dieses Jahr gedenkt man ihrer wieder oder weiterhin: diesen 24. Mai jährt sich ihr Sterbetag zum 150. Male. Sie ist also nicht viel mehr als fünfzig Jahre alt geworden. Für jedes Buch, das im Zusammenhang mit den Gedenk-Daten herausgegeben wird, bildet die hohe Wertung von Ricarda Huch fast ein Motto: "Nicht die kleinste leere Stelle ist in ihren Bildern, das Geringste aufs genaueste hingemalt, aber nichts Unwesentliches; was da ist, redet mit Zungen. Die Dichtung der Annette ist in Wahrheit eine VerDichtung: Aus tausend Blumenblättern ist ein Tropfen Wohlgeruch gepreßt." Und Ricarda Huch setzt hinzu: "Man pflegt Annette von Droste die größte Dichterin Deutschlands zu nennen, und das ist sie und wird es einstweilen bleiben."

    Das ist ein reichlich kräftiger Trompetenstoß. Wenn man die Gedichte einmal in einem Zuge liest, wie es die Ausgaben nahelegen, die fürs Jubiläum herausgebracht worden sind, bekommt das Lob der Ricarda Huch eine zweite Bedeutung: Aus den fast siebenhundert Seiten wird man sich die besonderen Kostbarkeiten herauslesen müssen. Aber so geht es doch immer, wenn man vor einen Blumenbeet oder auf einer Wiese steht. Es ist ganz spannend, sich in ein immer nur als Auswahl bekanntes Werk zu vertiefen: es wird vertrauter und fremder zugleich.

    Ihr Ruhm ist in aller Mund, hatte Gertrud von Le Fort gesagt - alle Dichterinnen suchen und besuchen sie als Schwester im Geiste -, doch Le Fort hatte berechtigt hinzugefügt: "Nur wenigen ist ihr Werk ein wirklicher Besitz geworden. Man könnte Lessings Wort auf Klopstock abwandeln: Wer wird nicht eine Droste loben?/ Doch wird sie jeder lesen? Nein! (Der Vers geht weiter: Wir wollen weniger erhoben/ und fleißiger gelesen sein!") Die kritische Gesamtausgabe im Niemeyer-Verlag, die Ausgabe der Briefe im dtv-Klassikprogramm, die zweibändige Sonderausgabe der Werke mit Komentar im Klassikerverlag, auch die "Sämtlichen Gedichte" als schöne Insel-Leinenausgabe - das ist genug, um jede Entschuldigung abzuschneiden: die Droste könnte nun "wirklicher Besitz" werden und auch die Wissenschaft hat es seit einigen Jahren leichter. 1994 erschien im Peter Lang Verlag die unschätzbare Droste-Chronik von Walter Gödden. Sie bietet den bislang sorgsamsten Überblick über das Leben der Dichterin, und zwar nicht als Erzählung, sondern als Reihung von Fakten: Nachlaß, Briefwechsel, ja über 2000 großteils unpublizierte Briefe aus dem Umkreis wurden ausgewertet, und die Interpretation hielt sich wohltuend zurück. Göddens Chronik zu Leben und Werk der Droste ist ganz unentbehrlich; denn es stimmt, was schon 1909 ein Drosteforscher feststellte:

    "Mit spielender Leichtigkeit hat man, schon früher und namentlich in den letzten Jahren, abgeurteilt über das 'Droste-Problem’, über ihre Familie, ihr Verhältnis zu Schücking, ihr inneres, namentlich ihr religiöses Leben, nicht selten ohne Kenntnis der Quellen oder mit willkürlicher Betonung einzelner Sätze, die bei Beherrschung des ganzen Materials sofort durch andere Sätze widerlegt worden können."

    Ja, was mag das sein, das 'Droste-Problem’? Annette, genauer: Anna Elisabeth Freiin von Droste zu Hülshoff, stammte aus einem alten Geschlecht, und daß sie lebendig und geistreich, etwas zu aufgeregt war, wie oft bezeugt ist, machte sie ein wenig zur Außenseiterin. Sie wirkte dem ganz entschlossen und mit aller Klugheit entgegen, wollte sich nicht vom 'Leben’ ausgeschlossen wissen. Sie sang und komponierte, Lieder wie Singspiele, sie entwarf Szenen und Stücke, leitete Gesellschaftsspiele an, schien über einen Überschuß an Kraft und Begabung zu verfügen, was die standesgemäßen Freier nicht eben anzog. Dazu schrieb sie viele Briefe, die recht genauen Einblick in ihr Fühlen und Denken gewähren, ebenfalls eine gesellschaftlich kodierte Äußerungsform, die noch aufs 18. Jahrhundert zurückverweist: Literatur ohne Öffentlichkeit, mit nur wenigen, handverlesenen Adressaten. Annette Droste war sehr stark an ihre Familie gebunden, an den engeren gesellschaftlichen Umkreis; dazu an die Heimat Westfalen; ebenso an die Kirche, den katholischen Glauben, der in jener zweiten Aufklärung, der Zeit des Jungen Deutschland, kritisch genug disputiert wurde. Eines der frühen geistlichen Gedichte thematisiert die zerstörerische Kraft des Geistes, von der jungen, oft ungebärdigen Frau gewiß selbst empfunden. Lieber will sie den Geist verlieren als dem Glauben untreu werden, und man kann es gewiß als Problem der Zeit fassen, daß dies bis ins Innerste, bis zur Zerreißprobe der Person, als Dilemma empfunden wurde; vom Geist heißt es in einem fastbarocken Liede:

    Doch ist er so vergiftet, Daß es Vernichtung stiftet, Wenn er mein Herz umfleußt, So laß mich ihn verlieren, Die Seele heimzuführen, Den reichbegabten Geist.

    So viele Bindungen - Familie, Heimat, Kirche - geben Kraft und nehmen sie zugleich. So war es im Adel nicht üblich, eine künstlerische Betätigung anders denn als Zeitvertreib anzusehen. Annette machte kaum eine Ausnahme. Sie stellte sich ihrer Familie und der Gesellschaft immer wieder zur Verfügung und - sie litt darunter, auch als Erwachsene noch die brave Tochter zu sein. Für die Freundin Amalie Hassenpflug schrieb sie einige Strophen, in denen diese sogenannte Freiheit des Nicht-Gebundenseins ärgerlich verlästert wird:

    So müssen wir denn wirklich scheiden? Das Schicksal würfelt mit uns Beiden, Wir sind wie herrenloses Land. Von keinem Herdes Pflicht gebunden, Meint jeder nur, wir seien grad Für sein Bedürfnis nur erfunden,

    Das hülfbereite fünfte Rad. Was hilft es uns, daß frei wir stehen, Auf keines Menschen Hände sehen? Man zeichnet dennoch uns den Pfad.

    Bezeichnend ist's, daß auch dieses Gedicht die Form eines Briefes hat, Komunikation mit einer Freundin in ähnlicher Lage: Ihre Kunst begriff die Droste, wie gesagt, als einen Beitrag zur Geselligkeit, der damals noch ein hoher Wert zuerkannt wurde.

    Es sind zwei Gedichtbände, auf denen ihr langsam gewachsener Ruhm ruht. Eine Sammlung von Gedichten 1844, in die eine frühere mit einging, und das "Geistliche Jahr", das erst posthum veröffentlicht wurde. Das Gedicht, mit dem der große Zyklus schließt: Am letzten Tage des Jarhes/ Silvester", entwickelt erschütternd "die letzte Stunde" der "tiefsten Angst, mit endlich (!) frei gefügten, gestisch starken Madrigal-Versen, von denen noch Nietzsche gelernt hat:

    ‘s ist tiefe Nacht! ob wohl ein Auge offen noch? In diesen Mauern rüttelt dein Verrinnen, Zeit! Mir schaudert, doch Es will die letzte Stunde sein Einsam durchwacht.

    Gesehen all, Was ich begangen und gedacht, Was mir aus Haupt und Herzen stieg, Das steht nun eine ernste Wacht am Himelstor. 0 halber Sieg, 0 schwerer Fall!

    Mit dem Rückgriff auf die Formensprache des barocken Liedes vermied Annette von Droste, zu sehr der Einförmigkeit der klassisch-romantischen Strophen nachzugeben.

    Auch die Prosa fand zwar Ermutigung, wurde aber in ihrem Rang zu Lebzeiten der Droste kaum erkannt, es gab - vom einzigen Levin Schücking abgesehen - keine Zöllner, die ihr Texte abverlangten. Zu ihren Lebzeiten erschienen "Die Judenbuche" und, strikt anonym, "Westphälische Schilderungen aus einer westphälischen Feder". Alle weiteren Erzählungen, auch ein gut Teil der Versepen, Libretti und der Übersetzungen kommen aus dem Nachlaß. Dabei ging es der Autorin wie vielen Lesern, sie schätzte ihre Prosa höher ein als die Lyrik:

    "Ich finde daß sich meine gedruckte Prosa recht gut macht, besser und origineller wie die Poesie, aber anders wie ich mir gedacht. (... ) Der Dialog ist gut, aber doch unter meiner Erwartung und keineswegs außerordentlich - dagegen meine eignen Gedanken und Wendungen, im erzählenden Style, weit origineller und frappanter als ich sie früher angeschlagen, und ich hoffe darin, mit einiger Uebung bald den Besten gleich zu stehn."

    Gern stimmt man dieser doch nicht unkritischen Einschätzung zu. Die Prosa ist wirklich originell und frappant, und es ist unendlich zu bedauern, daß die Droste so viele Hindernisse als Autorin erfuhr - das 19. Jahrhundert hätte literarisch sehr anders aussehen können. Zu den Hindernissen muß man Privates zählen, etwa einen sehr ausgeklügelten und schäbigen Liebesverrat, der sie viele Jahre lang schachmatt setzte, die schon erwähnte Famillenhaftung, die einen irgendwie planvollen Publikationsansatz verhinderte; aber auch die intellektuellen Schwierigkeiten, eine eigene nicht unkritische Sicht auf die Zeit und die restaurative Ideologie ihrer Kreise in Einklang zu bringen. Nikolaus Lenau hätte ein Geistverwandter sein können. Aber wo der wirklich ausbrach, fort in den Krieg und in die Neue Welt, lebte die Droste den Freiheitsarang in Phantasien aus, und später, auf der Meersburg, eine glückliche/ fruchtbare Zeit lang, in einem vorsichtigen, taktvoll zum Arbeitsverhältnis stilisierten Nebeneinander mit dem jüngeren, menschlich etwas dubiosen Verehrer Levin Schücking. Der wird dann für ihren ersten Nachruhm sorgen. Ein anrührend durchsichtiges Gedicht, das berühmte "Am Turme", beginnt mit Freiheitsphantasien, die auch eine sexuelle Befreiuung mit einschließen:

    Ich steh' auf hohem Balkone an Turm, Umstrichen vom schreienden Stare, Und laß gleich einer Mänade den Sturm Mir wühlen im flatternden Haare; 0 wilder Geselle, o toller Fant,

    ich möchte dich kräftig umschlingen, Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand Auf Tod und Leben dann ringen!

    Man darf an Kleists "Penthesilea" erinnert sein, aber das relativ späte Gedicht schöpft doch aus den eigenen Jungmädchenphantasien, die der alternden Frau noch ganz präsent sind. Die Schlußstrophe ist ein Stoßseufzer, und in ihm ist das Geschlechts-Schicksal so anrührend wie überzeugend ausgedrückt: der eigenen Sehnsucht immer nur Bilder finden zu dürfen und eine ganz schmale, symbolische Realität:

    Wär ich ein Jäger auf freier Flur, Ein Stück nur von einem Soldaten, Wär ich ein Mann doch mindestens nur, So würde der Himmel mir raten; Nun muß ich sitzen so fein und klar, Gleich einem artigen Kinde, Und darf nur heimlich lösen mein Haar, Und lassen es flattern im Winde!

    Ganz ähnliche Szenen bestimmen immer wieder die Prosa, ein sicheres Zeichen, daß man es hier mit tiefsitzendem Lebensstoff zu tun hat. Man hat diese Zeit auch als Biedermeier bestimmt. Doch die anmutig bewegliche und genau, auch liebevoll konturierte Prosa der Droste ist weniger gemütlich, als es zunächst den Anschein hat. Jede ihrer Skizzen belehrt darüber. Sie zitieren geistreich romantische Beschreibungskunst, sind aber wirklichkeitsversessen gearbeitet. Was wenig beachtet wird, ist die leise Ironie, die dieser Prosa eine besondere Schwingung gibt. Wiederum aus einem Text, der zu ihren Lebzeiten nicht publiziert wurde: "Bei uns zulande auf dem Lande" - diese Erzählung eines Edelmanns aus der Lausitz beginnt mit Sätzen, in denen Melodie und Ironie sich die Waage halten:

    "Soeben hat die Schloßglocke halb zehn geschlagen - es ist eigentlich noch gar nicht Nacht - ein schmaler Lichtstreifen steht im Westen, und zuweilen fährt noch ein Vogel im Gebüsche drüben aus seinem Halbschlafe auf und träumt halbe Kadenzen seines Gesanges nach - dennoch ist's hier fast schon nacht - soeben hat man mir eine schöne neue Talgkerze gbracht - Holz ans Kamin gelegt, um einen Ochsen zu braten, und nun soll ich ohne Gnade in die Daunen.- Unmöglich, ich emanzipiere mich, heimlich, aber desto sicherer, und niemand sieht es mir morgens an, daß ich allnächtlich den stillen Wohltäter das Hauses mache und auf Wasser und Feuer zwar nicht achte, aber doch achten würde, wenn dergleichen Dinge hierzulande nicht unschädlich wären, wie ich wohl schließen muß, wenn ich jeden Abend Knecht und Magd mit flackernden Lampen in Heuböden und Ställen umherwirtschaften sehe. Diese alten Mauern (...)! seltsames, schlummerndes Land! so sachte Elemente! so leiser, seufzender Strichwind, so träumende Gewässer! eo kleine friedliche Donnerwetterchen ohne Widerhall! und so stille, blonde Leutchen..."

    So anmutig, manchmal auch bissig verquer liest sich fast alle Prosa der Droste. Und straft jeden Versuch, sie umstandslos dem konservativen Lager zuzuschlagen, Lügen. Ihre Ironie gegenüber dem schlummernden Land ist dem Vormärz verwandt, und die blonden Leutchen könnte man auch, wie es Fallersleben, Herwegh oder Heine taten, als schlafergebene deutsche Philister deuten. Emanzipation heißt hier dem adligen Ich-Erzähler, daß er auf elementare Ausbrüche zwar nicht achtet, aber achten würde - und dann folgen einige Wenn-Sätze, deren ironische Verschrobenheit fast an die Galgenlieder Morgensterns gemahnt.

    Der Kommentar der Ausgabe im Klassiker-Verlag hebt, wie es sich gehört, vor allem den realkundlichen Ansatz der Prosa hervor. Für die Droste war es ganz wichtig, sich vertraut genug mit den ihr notwendig erscheinenden realen Grundlagen zu fühlen. So entscheidet sie sich vor allem für Stoffe, die in Westfalen spielen. Es ist schön, daß wir eine ausführliche, sorgsam edierte und nun auch als Taschenbuch von dtv-klassik erschwinglichere Ausgabe ihrer Briefe haben. Die erlauben einen Blick in die Werkstatt ihres Denkens, bezeugen einen vielseitigen, ungeduldigen, ja ungestümen Geist, der immer wieder zu Konzessionen bereit ist, wenn es andern weh tun könnte, und der alle Vorfälle, vor allem im Freundes- und Bekanntenkreis, notiert und von mehreren Seiten zu sehen sich bemüht. Das fährt zu einer geschmeidigen und gestisch starken Prosa. Unbedingt muß man hier, fast wie bei Kleist, die Briefe mit zum Oeuvre rechnen und nicht bloß als Zeugnisse gelten lassen. - In einem Schreiben an den Philosophen Christoph Bernhard Schlüter in Münster trägt sie im Dezember 1838 ihr Prosa-Projekt in Frageforn vor:

    "Oder soll ich eine Reihe kleiner in sich geschlossener Erzählungen schreiben? die keinen andern Zusammenhang haben, als daß sie alle in Westphalen spielen, und darauf berechnet sind, Sitten, Charakter, Volksglauben und jetzt verloren gegangene Zustände desselben zu schildern? dies ist schwieriger, bedarf weit reicherer Erfindung, und schließt alle Meditationen und Selbstbeobachtungen fast gänzlich aus, - dagegen ist es weniger verbraucht, läßt höchst poetische und seltsame Stoffe zu, die jener andern Form des täglichen Lebens unzugänglich sind ..."

    Ja, möchte man lauthals rufen: solche Erzählungen bitte, eine nach der anderen! Doch viele sind es nicht geworden, nur eine eigentlich, und der Aufenthalt auf der Meersburg, die Entfernung vom heimatlichen Westfalen spielte dabei eine entscheidende Rolle. Wie der antike Riese Antäus brauchte die Droste die unmittelbare Berührung mit dem Heimatboden als Kraftquelle, um ihre Geschichten gedeihen zu lassen. Aber auch ein wenig mehr Zustimmung hätte nicht geschadet: Ihre "Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder" erregen, anomym erschienen, erbitterten Widerspruch im Münsterlande, wo man sie zu kritisch angesetzt fand. Warum blieb z.B. die Erzählung "Joseph. Eine Kriminalgeschichte" Fragment? Die Droste erläutert das in einem Brief an Levin Schücking 1844 so: "Mit den Erzählungen will es nicht recht voran, ich bin noch an der ersten, - recht schöner Stoff, aber nicht aus westphälischem Boden, und nun fehlen mir alle Quellen, Bücher wie Menschen, um mich wegen der Localitaeten Raths zu erholen, so fällt mir alle Augenblicke der Schlagbaum vor der Nase zu; - wär ich in Hülshoff! - aber hier kucken mich meine kahlen Wände an und sagen kein Wort..."

    Für die Dichterin Droste war die anschaubare Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit in ihrer Heimatlandschaft eine Voraussetzung fürs Dichten. Das große Gedicht "Die Mergelgrube" aus den "Heidebildern", nicht nur von Ezensberger zu den größten in deutscher Sprache gezählt, steht für diesen Zusamenhang. Der Kommentar der Insel-Ausgabe macht das wieder einmal zugänglich und einsichtig:

    "Im Münsterland wurde der kalkhaltige Mergel, ein Gemenge von Lehm und kohlensaurem Kalk, ausgegraben und als Dünger auf die Äcker gestreut."

    Des weiteren erläutert der Kommentar, daß "Gant" Versteigerung und "Grand" Kies heißt; erklärt uns Gneus, Spatkugeln, Porphyre und Ockerdrusen; die Droste hat uns halt einige mineralogische Studien voraus; aber auch der "Weihel" als "Schleier der Nonnen" dürfte nicht jeden mehr bekannt sein. Das Großgedicht, das den Abstieg in die Grube schildert, enthält Zukunftsvisionen, die an Realitätsgehalt die doch schon sehr wahrhaftige Beschreibungskunst der Droste fast überbieten:

    Vor mir, um mich der graue Mergel nur, Was drüber sah ich nicht; doch die Natur Schien mir verödet, und ein Bild erstand Von einer Erde, mürbe, ausgebrannt; Ich selber schien ein Funken mir, der doch Erzittert in der toten Asche noch, Ein Findling in zerfall’nen Weltenbau. Die Wolke teilte sich, der Wind ward lau; Mein Haupt nicht wagt' ich aus dem Hohl zu strecken, Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken, Wie Neues quoll und Altes sich zersetzte - War ich der erste Mensch oder der letzte?

    Hier findet das Erbe Schillers, eine hochpathetische Lyriksprache, endlich einen würdigen Gegenstand: die offensichtlich schon damals erkennbare Verwüstung der Natur, die den Lebensraum Erde verödet, Leben unmöglich machen wird. Es ist charakteristisch für die allzu kultivierte Droste, daß sie diese harten Verse nicht einfach so stehen läßt, sondern eine kleine Verserzählung drumherum baut, worin einem Hirten selbstironisch erlaubt wird, sie, das hohe Fräulein, für verrückt zu erklären. Immerhin, und das ist ein ganz gewichtiges Immerhin, ist das nicht passiert. Bei ihren großen Anlagen und deren Stau, der Unmöglichkeit, ihnen wirklich Raum zu schaffen, hatte ein Übertritt in einen - wie man damals sagte - ‘anderen Zustand’, eine sogenannte Geisteskrankheit, nahe gelegen. "Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren", ließ Lessing seine Gräfin Orsina sagen; und es gab Momente im Leben der Droste, wo sie dieser Situation gewiß nahe war. Sie fand Halt in ihrer Kaste und vor allem in ihrer künstlerisch weit gefächerten Produktion, die auch wegen dieser psychischen Bedingungen erst spät die Konvention verließ. Halt boten ihr auch die Korrespondenzen und die täglich neu übernommenen praktischen Tätigkeiten. Die neue Zeit, die 1848 zu siegen schien, hat sie nicht begrüßt; sie hat sie nicht positiv wahrnehmen können. Am 24. Mai 1848, nachmittags zwischen zwei und halb drei Uhr", ist sie gestorben.

    Das große Gedicht "Die Taxuswand" hatte die alte Denkfigur ‘Schlaf als Bruder des Tods’ aufgenommen: "0, schlafen möcht’ ich, schlafen,/ Bis meine Zeit herum!" Vielleicht ist ja nun diese Zeit herum und kann eine neue Zeit mit anderem Kunstverständnis dem zerstückelten Leben und Werk dieser großen Dichterin ein tieferes Verständnis entgegenbringen.