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Anonym - doch weltbekannt

Man redet sich immer nur beim Vornamen an, betet häufig und spricht dauernd über die Folgen: Seit 70 Jahren leisten die Hilfe zur Selbsthilfe. In Akron, US-Bundesstaat Ohio, wurde die Bewegung am 10. Juni 1935 gegründet und ist heute in über 150 Ländern aktiv - spendenunabhängig und mit denselben Statuten wie am Tag ihrer Gründung.

Von Ralf Geißler | 10.06.2005
    Die Goldenen Zwanziger Jahre: Die New Yorker Börse boomt. Der 33-Jährige Bill Wilson macht tagsüber dicke Geschäfte und feiert abends in den illegalen Jazz-Kellern der Stadt. Weil Alkohol in Amerika während der Prohibition verboten ist, besorgt sich Wilson geschmuggelten Schnaps. Doch dann kommt im Oktober 1929 der Schwarze Freitag: Börsencrash. Nun begießt Wilson nicht mehr seine Erfolge, sondern seinen Kummer.

    " Wie so viele meine Freunde war auch ich ruiniert; "

    schreibt Wilson in seinen Erinnerungen.

    " Die Zeitungen berichteten, dass Menschen von den hohen Dächern der Finanzburgen in den Tod gesprungen waren. Das widerte mich an. Ich würde nicht springen. Ich ging in die Bar zurück. Beim Trinken kehrte meine alte, verbissene Entschlossenheit zurück. "

    Wilson ist 1929 längst alkoholabhängig. Doch er braucht noch sechs Jahre, bis es ihm gelingt, vom Suff wieder loszukommen. Er macht mehrere Entziehungskuren, wird aber immer wieder rückfällig. Im Frühsommer 1935 trifft Wilson in Akron – im US-Bundesstaat Ohio – zufällig den Chirurgen Bob Smith. Auch er ist dem Alkohol verfallen.

    Beide reden stundenlang über ihre Sucht – und beide merken, dass ihnen das hilft. Das Gespräch mit einem Leidensgenossen gibt ihnen Kraft und Hoffnung. Der Tag, an dem nach Wilson auch Smith sein letztes Glas trinkt, gilt als Gründungsdatum der Anonymen Alkoholiker. Es ist der 10. Juni 1935.

    Seit diesem Tag sind die Prinzipien der Anonymen Alkoholiker unverändert geblieben. Regelmäßig treffen sich Alkoholkranke, um über ihre Sucht zu sprechen. Jedes Mitglied muss vor den anderen eingestehen, gegen den Alkohol machtlos zu sein. Die Gespräche sollen helfen, den Weg zurück in einen normalen Alltag zu finden. Trockene Alkoholiker übernehmen dabei die Patenschaft über notorische Trinker.

    Anfangs luden Bill Wilson und Bob Smith andere Alkoholkranke noch in ihre Wohnungen ein. Doch der Platz reichte schon bald nicht mehr aus: 1939 gehörten zur Gruppe etwa 100 trockene Alkoholiker. Einige von ihnen beschlossen, ihre Erfahrungen aufzuschreiben.

    Das Buch erschien unter dem Titel "Alcoholics Anonymous" und gab der Vereinigung ihren Namen. Die Anonymität wurde zum Grundprinzip. Sie sorgte dafür, dass sich immer mehr heimliche Trinker meldeten. Vor allem Wilson wollte die Gruppe weltweit bekannt machen.

    " Wir träumten plötzlich von schönen und gut bezahlten Jobs. Wir ersannen ganze Ketten von Krankenhäusern und Tonnen kostenloser Literatur für andere Alkies. Im Herbst 1937 trafen wir John Rockefeller Junior. Wir waren schrecklich pleite und hofften nun auf Millionen. "

    Doch Rockefeller speiste die Anonymen Alkoholiker mit ein paar Dollar ab und etablierte so ein bis heute gültiges Prinzip der Organisation: Von Außenstehenden werden keine Spenden angenommen, um nicht in neue Abhängigkeiten zu geraten. Doch auch ohne Großspenden entwickelten sich die Anonymen Alkoholiker zur größten Selbsthilfebewegung der Welt. In New York wurde eine Zentrale eingerichtet, die sich um den Vertrieb der Bücher kümmerte. Auch die Zusammenarbeit mit den regionalen Gruppen wurde von dort aus koordiniert.

    Grundlage ihrer Arbeit sind die so genannten Zwölf Schritte. Sie sollen dem Abhängigen helfen, abstinent zu werden und zu bleiben. In den zwölf Schritten gesteht sich der Alkoholiker seine Sucht ein, sucht Hilfe bei Anderen und schöpft Hoffnung im Glauben an Gott. Das Programm trägt stark religiöse Elemente. Trotzdem betonen die Anonymen Alkoholiker, für alle offen zu sein.

    Im Herbst 1953 fand das erste Treffen in Deutschland statt. Amerikanische Soldaten hatten Alkoholkranke ins Münchner Leopold-Hotel eingeladen. Mitte der achtziger Jahre entstand sogar in der DDR eine Gruppe – dank der Initiative eines Hallensers. Claus aus Halle:

    " Mir wurde von allen Seiten gesagt: Es ist verboten gemäß Vereinsgesetz der Deutschen Demokratischen Republik. Ich habe die Präambel gelesen und mir gedacht: Na, wer will da was dagegen haben. Dann habe ich in der Kirchgemeinde gefragt. Die waren vorsichtig. Der Pfarrer sagte, da müssen sie mir Herrn Kuppke sprechen, das ist der Gemeinde-Kirchenratsvorsitzende. Und der hat sofort verstanden, um was es geht. Der hat gesagt: Hinter dieser Tür können Sie machen, was sie wollen. "

    Heute sind die Anonymen Alkoholiker in rund 150 Ländern vertreten. Alle fünf Jahre versammeln sich die Engagiertesten Mitglieder zu einem Welttreffen. Das nächste beginnt am 30. Juni im kanadischen Toronto. Über die Mitgliederzahlen der Anonymen Alkoholiker gibt es wegen der Anonymität nur Schätzungen. Inzwischen sollen es weltweit mehr als zwei Millionen sein.