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Anpassungsdruck
"Moral hat sich verselbstständigt"

Vom Übermenschen, der nur nach eigenen Interessen entscheidet, träumte Nietzsche. Diese Sorte Mensch dominiert heute, behauptet die finnisch-deutsche Schriftstellerin Beile Ratut in ihrem Buch "Kompendium des Übermenschen". Sie sagt: "Auch moralische Maßstäbe werden einer Nutzen-Agenda unterworfen".

Beile Ratut im Gespräch mit Christiane Florin | 19.04.2018
    Die finnische Schriftstellerin Beile Ratut
    Die finnische Schriftstellerin Beile Ratut (Beile Ratut)
    Christiane Florin: Wir kommen von China nach Finnland, aber nehmen zunächst einmal einen Umweg über Deutschland, das Land der Großphilosophen. Wer schon einmal Zitatdatenbanken der Philosophie anzapft, weiß bei den nächsten Stichworten sofort Bescheid: christliche Sklavenmoral, toter Gott, Übermensch – das ist Nietzsche. Der Übermensch, das war für den Philosophen ein souveränes Individuum, das seine persönlichen Ziele erkennt und ihnen dient. Höhere Ziele, überpersönliche Ideale galten ihm als Zeichen von Schwäche.
    Man muss Nietzsche nicht gelesen haben, um zum Übermenschen zu werden, sagt die finnische Schriftstellerin Beile Ratut. Sie fühlt sich von Übermenschen umzingelt und schildert dessen Herrschaft in einem Buch mit dem Titel "Kompendium des Übermenschen". Beile Ratut lebt in Finnland und veröffentlicht in deutscher Sprache. Ich habe mit ihr vor der Sendung gesprochen.
    Christiane Florin: Was ist ein "Übermensch" im Jahre 2018?
    Beile Ratut: Nach Nietzsche ist ein Übermensch ja auch ein Mensch, der den Gedanken der ewigen Wiederkunft erträgt. Also der damit umgehen kann, dass wir in einem Kosmos der ständigen Wiederholung oder Gesetzmäßigkeit leben. Nietzsche war ja in der Hinsicht jemand, der das Materielle über alles gestellt hat, der Übermensch ist einfach jemand, der sich mit den Möglichkeiten des Diesseits die ganze Welt unterwerfen will nach seinem Nutzen, nach seiner Agenda, wie immer die dann auch ist.
    "Der Mensch sehnt sich danach, aus seiner Verkettung herauszubrechen"
    Florin: Und von diesen Übermenschen sehen Sie heute viele?
    Ratut: Wahrscheinlich ist der Mensch immer so, und man selber kann sich da wahrscheinlich auch gar nicht ausnehmen, weil wir ja in dieser Welt leben und natürlich auch immer versuchen, Erfüllung und einen Nutzen in dieser Welt zu finden. Das ist ja auch nicht verboten, dass man glücklich sein will und dass man sich selbst verwirklichen will und dass man das Beste aus dem Leben macht. Aber wenn man Dinge nur mit den Möglichkeiten dieser Welt zu erreichen versucht, also wenn man zum Beispiel das Leben, die Wahrheit und den Sinn nur vom Menschlichen her versucht zu definieren, dann kippt das ganze auch schnell.
    Florin: Woraus beziehen Sie Sinn?
    Ratut: Nietzsche hat ja insofern Recht, dass wir wirklich in einer Verkettung von Ursache und Wirkung leben. Es gibt natürliche Gesetzmäßigkeiten in der Physik, aber es gibt natürlich auch in unserem Leben immer Gesetzmäßigkeiten. Man verliebt sich auch aufgrund hormoneller Situationen oder man lebt in einer Verkettung von Racheakten oder von Abhängigkeiten. Also die Dinge werden immer fortgetragen. Ich glaube, dass der Mensch sich aber danach sehnt, aus dieser Verkettung herauszubrechen, dass etwas geschieht, das diese Verkettung durchbricht. Und das ist vom Menschen her eben gar nicht so einfach möglich.
    Wenn Sie in die Bibel schauen, da ist es ja so, dass ganz viele Dinge außerhalb der Gesetzmäßigkeiten entstanden sind, also Jesus ist aus einer Jungfrau geboren worden. Oder David wurde erwählt, obwohl er vom Menschlichen her überhaupt nicht wahrscheinlich war. Also da waren andere Brüder waren viel schicker als David und wurden aber eben nicht gewählt. Ich denke, der Mensch hat, wenn er irgendwo gesund oder ausgereift ist, eine Sehnsucht nach der Durchbrechung dieser Kette. Danach, dass etwas in unser Leben kommt, das wir eben nicht verdient haben, weil wir instinktiv spüren, dass wir viele Dinge, die wir haben, nur haben, weil wir schön sind oder erfolgreich sind, weil es uns aufgrund unserer Leistung zugefallen ist. Aber letzten Endes spüren wir ein Unbehagen darüber.
    Der Glaube an das Gute übersieht das Böse
    Florin: Ein Übermensch ist auch jemand, der sich anderen moralisch überlegen fühlt. Wo begegnen Sie denen?
    Ratut: Viele Menschen sind vielleicht latente Übermenschen, aber man sieht es nicht so sehr, solange man nicht aneinandergerät, solange es ein funktionierendes Gleichgewicht von Interessen und Nutzen gibt. Aber wenn Sie nicht so sind, wie Sie sein sollen oder wie das für den Übermenschen interessant ist, dann sehen Sie ganz schnell, dass der Übermensch eben das Interesse an jemanden verliert oder wütend wird oder sich einfach abwendet, ohne sich überhaupt erklärt zu haben, weil es solchen Menschen eben auch gar nicht wichtig ist, sich überhaupt zu erklären. Sie antworten dann Ihnen einfach nicht, wenn sie sie fragen.
    Florin: Was ist verwerflich daran, andere moralisch zu bewerten?
    Ratut: Moral ist im Prinzip erst mal etwas Gutes. Also Moral brauchen wir ja auch, um den Gang der Gesellschaft irgendwie zu ordnen. Aber sobald Moral sich selbstständig macht, sobald sie entsteht aus einem Glauben an das Gute, dann wird es eben schnell zum Moralisieren.
    Florin: Sie wollen sich vom Glauben an das Gute verabschieden? Habe ich das richtig verstanden?
    Ratut: Die Welt ist ja vergänglich. Es bleibt ja nichts hier in dieser Welt bestehen, was wirklich auf Dauer ist. Wunderschöne Häuser können morgen verschwunden sein und unsere Leistungen, unser Reichtum, das kann alles morgen verschwunden sein. Und es gibt eben auch das Böse. Wenn man das Böse aber nur als Trivialität oder als Randerscheinung sieht - und nicht das Wesen dieser Welt erkennt, dass es eben ein Teil dieser Welt ist, das Böse und die Vergänglichkeit und die Sünde - dann gerät man schnell ins Moralisieren hinein.
    Florin: Wer ist denn 'man' in diesem Zusammenhang?
    Ratut: Wir alle. Also ich denke, man kann sich da schwer ausnehmen.
    Florin: Religionen arbeiten mit Gut und Böse, mit Sünde und Tugend. Ist das, was Sie beschreiben, eine Folge davon, dass der Einfluss des Christentums in Europa schwindet?
    Ratut: Natürlich ziehen sich Rollen und Institutionen immer mehr zurück, und die Verantwortung für das Leben fällt immer mehr dem Menschen zu. Darin liegt natürlich auch eine große Chance. Aber es ist auch eine wahnsinnig große Herausforderung für den Menschen, der ja in allen Bereichen seines Lebens zunehmend unabhängig von irgendwelchen Rollenzuweisungen oder institutionellen Lenkungen Entscheidungen treffen muss. Dadurch entstehen natürlich auch wahnsinnig viele Möglichkeiten zum Missbrauch. Der Übermensch, der eben seinen eigenen Nutzen nur sucht, hat heute viel mehr Möglichkeiten als vor 100 Jahren, wo seine Rolle fiel und seine Verpflichtungen ja noch auch daraus viel strenger reglementiert waren.
    Florin: Vor 100 Jahren war die Welt in einem Weltkrieg, also ganz bestimmt nicht besser als heute. Das ist eine sehr kulturpessimistische Sicht, die Sie da verbreiten.
    Ratut: Das denke ich nicht, weil ich sehe es ja gerade als Chance, wenn wir nicht darin stecken bleiben, eben nur unseren eigenen Nutzen zu suchen, sondern wenn wir eben auch eine radikale Selbstkritik anlegen können und wollen und nach Wahrheit auch streben, dann macht ja die Suche nach persönlichem Glück und Sinnerfüllung auch Sinn.
    Natürliche Demut statt öffentlicher Moralisierung
    Florin: Sie sprachen vorhin von der Gegenwart des Bösen. Wer definiert, was gut und was böse ist?
    Ratut: Natürlich kann man sich da auch selbst schnell belügen in der Frage, was gut und was böse ist, und insofern leben wir ja auch in einer Zeit, wo man das schnell tut, wo man eben aus einer Moralität heraus oft Dinge beeinflussen will und bewerten will. Aber ich glaube, dass es schon etwas gibt außerhalb des Menschen, über das wir aber auch nicht selber verfügen können, wir können das nicht benutzen, aber wir können es erkennen, wenn wir eben danach forschen und auch sehr vorsichtig mit unserer eigenen Wahrnehmung und mit unseren Instinkten sind.
    Florin: Es ist auffallend, dass Moral heute wie ein Vorwurf klingt. Flüchtlingshelfer zum Beispiel, die wurden regelrecht diffamiert als diejenigen, die sich angeblich moralisch überlegen fühlen. Stimmen Sie da ein?
    Ratut: Ich glaube, Moral ist öffentlich gesehen sehr schwer zu beurteilen, weil sie ja dann sehr, sehr schnell vor einem hergetragen wird, um andere zu beeindrucken. Ich denke, wenn man Gutes tut, dann ist es immer sinnvoll, das auf eine leise, verborgene Art zu tun, und gar nicht unbedingt so öffentlich. Das ist natürlich für ein Staatswesen oder für öffentliche Personen ein bisschen schwierig, aber es ist ja nicht jeder Politiker oder irgendeine öffentliche Person. Wenn man hilft, dann merkt man ja eigentlich auch, dass man die Not dieser Welt gar nicht lindern kann. Das Helfen kann also immer nur exemplarisch sein. Wenn man an einer Stelle geholfen hat, dann gibt es eben 1.000 andere Stellen, wo man überhaupt nicht helfen kann. Ich glaube, wenn man sich dessen bewusst ist, dann hat man ja auch eine natürliche Demut, dann ist man, glaube ich, ein Stück weiter entfernt vom Moralisieren, als wenn man das öffentlich vor sich her trägt und noch stolz drauf ist, dass man jetzt gerade dem Obdachlosen eine Suppe gegeben hat oder den Flüchtlingen geholfen hat.
    Florin: Tue Gutes und Rede darüber - das ist also ein Merkmal des Übermenschen?
    Ratut: Das kann ich natürlich nicht beurteilen. Also das muss jeder selbst verantworten, und ich bin ja keine moralische Instanz, die jetzt sagt, das ist gut und das ist nicht gut. Ich kann nur von mir selber sagen, wie ich es handhaben würde und wo die Gefahren liegen. Also ich glaube, wir Menschen sind alle so, dass wir schnell kippen, wenn wir falsch entscheiden.
    "Es gibt keine Gesellschaft, in der abweichendes Verhalten nicht geahndet wird"
    Florin: Wir haben es in dem Beitrag aus China vorhin gehört. Es gibt ein staatliches Interesse an moralischer Überwachung der Bürger, es gibt aber auch bei Bürgern eine Bereitschaft, mitzumachen. Womit erklären sie sich diese Bereitschaft?
    Ratut: Ich denke, es ist ja irgendwo auch menschlich und natürlich, dass Menschen daran mitwirken wollen, wie die Gesellschaft organisiert wird. In irgendeiner Form haben sie das immer, eine Kontrolle über das Verhalten von Menschen, das ist ja auch völlig natürlich. Bei Tieren wird das Verhalten instinkthaft gesteuert, und der Mensch ist relativ frei von Instinkten. Er ist also darauf angewiesen, dass die Gesellschaft Werte in irgendeiner Form vorgibt, und man kann das auf verschiedene Weisen tun. Wenn der Staat das tut, hat er eine unglaubliche Machtfülle, und das ist dann auch sehr gefährlich. Aber an sich ist das ja auch nicht verwerflich, wenn Menschen die Möglichkeit haben, daran mitzuwirken.
    Florin: Aber die Konsequenzen dieser Bewertung sind sehr hart. Man bekommt keine Wohnung, keinen Studienplatz, wenn andere einen schlecht bepunkten.
    Ratut: Das hat es ja überall. Ich glaube, es gibt keine Gesellschaft, wo abweichendes Verhalten in irgendeiner Form nicht geahndet wird. Wir tun natürlich immer sehr freiheitlich, aber natürlich, wenn ein Mensch in irgendeiner Form aus dem Rahmen fällt, dann muss man das bewerten und prüfen, womit hat man es da zu tun. Ist das eine Gefahr für den sozialen Frieden? Oder ist das eine Herausforderung und etwas Gutes? Das ist oft auch gar nicht so leicht zu enttarnen, womit man es da zu tun hat. Aber ich denke, dass das in jeder Gesellschaft so ist, dass es einen gewissen Druck hin zur Konformität gibt, und irgendwie müssen sie das miteinander festlegen.
    "Moralische Maßstäbe werden einer Nutzen-Agenda unterworfen"
    Florin: Aber ist das nicht ein Widerspruch: Sie sagen einerseits, der Übermensch will Macht, er entscheidet nur nach seinem Nutzen. Andererseits gibt er so viel von sich preis, dass es leicht ist, mit Wissen über ihn Macht über ihn zu bekommen.
    Ratut: Es ist ja nicht so, dass der Übermensch immer automatisch als Sieger hervorgeht, aber er versucht eben, mit den Mitteln, die er weltlich gesehen hat - also materiell gesehen, die für ihn greifbar sind -, seinen Nutzen zu maximieren. Ihm geht es nicht um Inhalte, dass er einen wichtigen Gedanken hat, den er mitteilen möchte, sondern ihm geht es darum, eben diesen Gedanken zu benutzen, um persönlich weiter zu kommen, um sich persönlich zu etablieren zum Beispiel und Einfluss zu gewinnen. Ob er das schafft, ist ja dann eine andere Frage, aber der Übermensch wird in jeder Gesellschaft versuchen, seine Agenda zu fahren, egal, welche er vorfindet.
    Florin: Was war für Sie der Antrieb, dieses Kompendium des Übermenschen zu schreiben?
    Ratut: Ich habe das einfach so oft beobachtet, und eben auch beobachtet, dass diese Form des Verhaltens gerade nicht geahndet wird, dass man das oft durchgehen lässt, und eben nur, moralische Maßstäbe oft eben nur in bestimmten Bereichen anlegt und in anderen wieder nicht. Also dass auch moralische Maßstäbe eben einer Nutzen-Agenda unterworfen werden. Und vieles, was an Unrecht geschieht, das wird eben so weggewischt.
    Florin: Was wird weggewischt, was wird geahndet?
    Ratut: Also bei der MeToo-Debatte können Sie das ja sehen. Vielleicht vor 20 Jahren, wenn ein Mann einer Frau an den Popo gefasst hat, da hätte jeder der Frau gesagt: "Mach dir nichts draus, das ist halt so." Heutzutage ist das völlig anders herum, und da ist dann der Mann der Böse und die Frau ist das arme Opfer. Und daran können Sie ja sehen, wie moralische Werte und Normen auch kippen können.
    Florin: Aber das ist ein völlig normaler Prozess, dass Grenzen neu ausgehandelt werden. Was vor 20 Jahren noch augenzwinkernd hingenommen wurde, ist jetzt zumindest ein Problem, ein Gegenstand der Debatte.
    Ratut: Ja, ich habe auch nichts dagegen. Aber ich denke, heutzutage kippt das in die andere Richtung und man nimmt den Frauen zum Beispiel jetzt die Verantwortung weg, indem man gar nicht erst erwartet, dass sich eine Frau vernünftig verhält. Sie kann ja auch sagen: "Okay, ich gehe nicht zum Regisseur aufs Hotelzimmer". Dann kriegt sie vielleicht die Rolle nicht, aber so ist eben das Leben. Man muss halt überlegen, will man die Spielregeln einer Gesellschaft mitspielen, und dann bewegt man sich ja in der Nutzen-Agenda.
    "Mir ist bewusst, wie schnell man sich selbst belügt"
    Florin: Damit nehmen Sie denjenigen, der eine Machtposition missbraucht hat, in diesem Fall den Regisseur, aus der Verantwortung.
    Ratut: Nein, das will ich auch gar nicht. Worum es mir ging, Sie fragten ja, warum ich das Buch geschrieben habe. Mich interessiert einfach, was motiviert die Menschen im Inneren, warum fahren sie eine Kampagne oder warum wird etwas besprochen oder nicht besprochen, stecken da vielleicht auch wieder Motivationen dahinter, dass man diese MeToo-Debatte oder was auch immer für sich selber eben auch benutzt, weil das Klima gekippt ist. Hätte man früher vielleicht auch was gesagt und sich dagegen gestellt, und hätte dann als Spielverderber dagestanden? Oder hat man dann eben früher mitgemacht? Und jetzt, wo die gesellschaftliche Lage ein bisschen gekippt ist und man eher was sagen kann, dann sagt man es plötzlich, weil es eben viel leichter geworden ist.
    Ich denke, wenn ein Mensch wirklich eine innere Reife hat und in etwas anderem wurzelt, als in diesem Ursache-Wirkungsspiel, in diesen Machtspielen in dieser Welt und in den Spielregeln, dann kann er ja den Sinn oder seine Wertigkeit aus etwas ganz anderem ziehen und kann dann eben, egal, wie diese gesellschaftliche Situationen es sagen: Nein, das finde ich jetzt nicht richtig.
    Florin: Wie schützen Sie sich davor, Übermensch zu werden?
    Ratut: Mir ist sehr bewusst, dass man sich sehr, sehr schnell belügt. Ich denke, wenn einem das schon mal bewusst ist und wenn man auch weiß, wie schnell sich Dinge verändern können, und wie brüchig die Wirklichkeit ist, dann steht man vielleicht schon mal ein bisschen vorsichtiger da und geht zumindest einmal nicht davon aus, dass man keiner wäre.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.