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Anschläge in Paris
Fragwürdige Informationsgesellschaft

Journalisten telefonieren mit den Geiselnehmern, während die Sondereinheiten der Polizei noch im Einsatz sind - so geschehen im Fernsehkanal BFM während der Geiselnahme in Frankreich. Doch nicht nur BFM, auch andere französische Medien stehen wegen ihrer Berichterstattung rund um die Terroranschläge nun in der Kritik.

Von Ursula Welter | 17.01.2015
    Internationale Zeitungen am Tag nach dem Ende der Geiselnahmen von Paris
    Die Zeitung "Le Monde" schrieb an ihre Leser: "Unsere Journalisten sehen es als ihre Aufgabe an, so schnell und umfassend wie möglich zu informieren - aber sie verbieten sich, in den ungebremsten Wettlauf der Medien einzutreten." (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    "Sie haben einen großen, großen Fehler gemacht, BFM."
    Die Ehefrau eines Mannes, der sich mit anderen, vom Geiselnehmer unbemerkt, im Kühlraum des Supermarktes für jüdische Lebensmittel versteckt gehalten hatte, beklagte sich bitter. Der Informationskanale BFMTV strahlte die Klage selbstkritisch aus. "Der Terrorist hat BFM geschaut", sagte die Frau. "Er dachte, im Untergeschoss sei niemand mehr, aber BM hat gemeldet, fünf Personen und ein Baby."
    Der Fernsehsender verteidigte sich. Er habe gemeldet, dass es eine Person im Keller gebe, weil die Einsatzkräfte versichert hätten, die Menschen im Kühlraum, von denen der Täter nichts wusste, seien außer Gefahr. Eine vermeintlich zuverlässige Quelle, aber eben nur eine, und ein erfahrener Journalist, der - das räumte der Direktor der Redaktion, Hervé Beroud, im Sender France Inter ein - schließlich nachgedacht und entschieden habe, dass es nicht nötig sei, die Information über die Existenz weiterer Personen im Keller des Supermarktes zu wiederholen.
    Nicht nur der Fernsehkanal BFM steht in der Kritik. Etablierte Zeitungen gingen mit Eilmeldungen an den Markt, die sich als falsch herausstellten; das Wochenblatt "Le Point" zeigte das Foto der Ermordung eines am Boden liegenden Polizisten; Journalisten verbreiteten via soziale Netzwerke den Namen eines 18-Jährigen, der angeblich mit zu den Angreifern auf die Redaktion gehörte, der aber zur Tatzeit in der Schule saß; und schließlich meldeten alle großen Kanäle, von privaten bis öffentlichen, dass es im Innern der Druckerei eine Geisel gebe – tatsächlich hielt sich ein Mann versteckt vor den Tätern.
    Französische Medienaufsicht prüft Sanktionen
    Und schließlich, die Interviews des Fernsehkanals BFMTV mit den Tätern: "Ja, wir haben uns für die Operationen abgestimmt", verbreitete etwa der Geiselnehmer Coulibaly über die Antenne, einer der Brüder Kouachi wird vom selben Sender in der Druckerei von Dammartin per Telefon interviewt. Ist es Sache eines Journalisten, mit einem Täter zu telefonieren, während die Sondereinheiten ihre Arbeit tun? Der Chef der Redaktion, Hervé Beroud, antwortet im Sender "France Inter": "Ja ".
    Die französische Medienaufsicht sieht es kritischer, sie rief zum ersten Mal in ihrer Geschichte alle Verantwortlichen der einschlägigen Medien zu sich: Fernsehen, Radio, Agenturen, Internetportale. Im Februar will sie entscheiden, ob Sanktionen verhängt oder jedenfalls Verwarnungen ausgesprochen werden.
    Die Konkurrenz sei groß, verteidigen sich die einen; wo beginnt die Informationspflicht und wo werden Einsätze der Polizei gefährdet, fragen die anderen. Innenminister Cazeneuve berichtet, er habe so viele Anfragen wie noch nie von Journalisten erhalten, weil derartig viele Falsch- und Fehlmeldungen kursierten. Zumal an allen Orten Zeugen zum Twitter-Account oder Telefonhörer griffen und ihre Version der Ereignisse verbreiteten.
    Am Freitagmorgen, auf dem Höhepunkt der Geiselnahme in Paris und des Einsatzes rund um die Druckerei von Dammartin, in der sich die Brüder Kouachi verschanzt hatten, hatte die Medienaufsicht bereits zur Besonnenheit aufgerufen. Auch das war ein Novum. Der Informationsfluss wurde umgehend langsamer, versiegte aber nicht, und als die Sondereinheiten den Supermarkt und die Druckerei stürmten, hielten die Kameras wieder drauf.
    "Zu viel Information tötet die Information"
    Von Spannungen angesichts des Wunsches, möglichst umfassend zu informieren auf der einen und der Gefahr, die aus der anwachsenden Zahl von Meldungen für die Sicherheitskräfte, die Geiseln, die Opfer erwachsen kann, auf der anderen Seite, spricht Olivier Schrameck, der Präsident der französischen Medienaufsicht: "Die CSA wird ihre Rolle ausfüllen, wird kontrollieren und gegebenenfalls Sanktionen verhängen", sagt er.
    Die Zeitung "Le Monde" schrieb gestern an ihre Leser: Zitat: "Unsere Journalisten sehen es als ihre Aufgabe an, so schnell und umfassend wie möglich zu informieren – aber sie verbieten sich, in den ungebremsten Wettlauf der Medien einzutreten. Alle unsere Informationen werden stets überprüft." Zitat Ende.
    Die Ehefrau der Geisel, die das Attentat auf den Supermarkt für koschere Lebensmittel überlebt hatte, brachte die mediale Nachlese der Dramen von Paris auf diese Formel: "Zu viel Information tötet die Information."