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Anselm Kiefer und wie er "Elektra" sieht

Aus mythischen Zeiten kommt diese Geschichte um die Königstochter Elektra zu uns, die zusammen mit ihrem Bruder Orest den Mord an ihrem Vater Agamemnon rächen will. Im herrlichen Teatro San Carlo von Neapel wird sie uns jetzt in einer höchst sehenswerten Aufführung wieder geboten.

Von Henning Klüver | 04.12.2003
    Das Bühnenbild von Anselm Kiefer orientiert sich an einer Installation, an der er bereits seit Jahren in seiner französischen Wahlheimat Barjac arbeitet. Dort entsteht auf einem Hügel eine Art Freilichttheater aus grauen Betoncontainern. Hier in Neapel bilden diese aus Kunststoff nachempfundenen Container den Königspalast, in dem sich Elektras Racheträume blutig erfüllen sollen. Eine Art Ruine, die ebenso gut aus der Antike stammen könnte wie aus dem Irak, aus Palästina oder aus einem anderen Kriegsgebiet von heute. Kiefer und Grüber befreien die Handlung vom Mythos, ohne sie jedoch zwanghaft zu aktualisieren. Aus der Griechen-Geschichte wird universale Menschheitsgeschichte. Das drückt sich auch in den Kostümen aus, die gleichsam zeitlos erscheinen. Klytämnestra etwa trägt einen mit Gips gehärteten Mantel, der ihren Charakter sinnbildlich unterstreicht. In Neapel erzählt man stolz, dass Anselm Kiefer diesen Mantel mit seinen eigenen Händen gemacht habe.

    Mit der Inszenierung von Klaus Michael Grüber und dem Bühnenbild von Anselm Kiefer setzt das San Carlo eine Programmlinie fort, bei der Gegenwartskünstler der Oper neue Impulse geben sollen. Der Intendant Goacchino Lanza Tomasi versucht seit ein paar Jahren diese Linie in Neapel durchzusetzen, indem er zum Beispiel den Maler Mimmo Paladino "Tancredi" von Rossini oder den Bildhauer Arnaldo Pomodoro "Capriccio" von Strauss ausstatten ließ. Der 69-jährige Lanza Tomasi hat als Musikwissenschaftler, als künstlerischer Leiter vieler Einrichtungen und auch als Direktor des italienischen Kulturinstituts von New York den Opern- und Kulturbetrieb im In- wie im Ausland studieren können.

    Bei dieser Programmlinie verbinden sich der Mut zum Experiment mit einer geschickten Öffentlichkeitsarbeit. Ziel ist es, Publikumsstrukturen aufzubrechen, die an vielen Opernhäusern Italiens und Europas ähnlich sind, wie Gioacchino Lanza Tomasi beschreibt:

    In meiner Jugend gab es in Italien rund 10.000 Personen die Musikkenner waren und in die Oper gingen. Heute kommt von diesen 10.000 vielleicht noch die Hälfte. Die andere Hälfte sind eher zufällige Besucher. Wir müssen uns in Neapel allgemein mit einem alten Publikum auseinandersetzen, das die Tradition der Sänger-Oper liebt. Mit den neuen Regie- und Bühnenformen ist es uns aber auch gelungen ein jüngeres Publikum zu gewinnen, eines das vom Sprechtheater geprägt ist. Und mit dieser von Kiefer gestalteten Bühne werden auch noch alle Kunstliebhaber, Galeristen und Sammler Neapels in die Oper kommen.

    Die dramatische, bis an die Grenze der Polytonalität vordringende Musik von Strauss, die aber zugleich auch mit lyrischen Elementen das Publikum gefangen hält, bildet dafür geradezu ein idealen Partner, mit dem sich Künstler wie Anselm Kiefer auseinandersetzen können.