Dienstag, 19. März 2024

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Anselm Neft: "Die bessere Geschichte"
Sehnsucht und Scham

In „Die bessere Geschichte“ verarbeitet Anselm Neft die Missbrauchsfälle an deutschen Schulen, die in den vergangenen Jahren bekannt geworden sind. Tilman Weber verliert seine Mutter früh. An einem reformpädagogischen Internat gerät er in den Bann des Schulleiters und wird Opfer von Missbrauch und Manipulation.

Von Maik Brüggemeyer | 03.05.2019
Anselm Neft: "Die bessere Geschichte" Zu sehen ist das Buchcover und der Autor.
Anselm Neft: "Die bessere Geschichte" - eine eindrückliche und komplexe Erzählung (Cover: Rowohlt Verlag / Foto: Maren Kaschner)
Tilman Weber war ein sensibler Junge. Jedenfalls beschreibt der nun erwachsene Mann sich so. Er ist der Ich-Erzähler von Anselm Nefts Roman "Die bessere Geschichte". Und er ist selbst Schriftsteller. Er erzählt uns, wie aus dem sensiblen Jungen wurde, was er heute ist: ein in seinen Traumata gefangener, an Multipler Sklerose leidender Mann, der sich in ein abgelegenes Haus in Schweden zurückgezogen hat, um sich und andere vor sich zu schützen.
Tilmans Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. Sein überforderter Vater, ein Lehrer, konnte ihm kein emotionales Zuhause geben. Die mangelnde Geborgenheit versuchte der Alleinerziehende stattdessen mit Bildung zu kompensieren. Als Tilman 13 Jahre alt ist, kommt es im Bett seines Vaters zu einer Annäherung, die er Zeit seines Lebens verdrängen wird.
Kurz darauf verlieben sich sowohl Vater als auch Sohn. Der Vater findet eine neue Partnerin und Tilman die Geschichten des amerikanischen Horrorautors Edgar Allen Poe.
"Ich las wie im Rausch und lief danach mit mir selbst redend durch die verändert wirkenden Straßen unseres Viertels. In der Art, wie der Autor sich dem Grauen näherte, fand ich – zunächst mehr als Ahnung denn als klare Idee – einen Weg für mich, mit den Schrecken der Welt umzugehen: Ich würde ihnen nicht mehr ausweichen, und ich würde nicht ihr dummes Werkzeug werden. Ich würde mich weder auf die eine noch auf die andere Weise als ihr Opfer fühlen. Vielmehr würde ich sie erforschen und ihr unbestechlicher Chronist werden, mit nicht nachlassender Neugier und ohne zu werten. Ich würde in lichtlose Abgründe steigen, tiefer als all die angeblich abgehärteten Jungen mit ihrem dummen Gerede."
Missbrauch und Manipulation durch den Schulleiter
Die neue Frau im Leben seines Vaters ist die treibende Kraft, Tilman in einem reformpädagogischen Internat an der Ostsee unterzubringen – der Freien Schule Schwanhagen, kurz: FSS.
Der Junge fühlt sich tatsächlich wohl in der neuen Umgebung, wo kein Leistungsdruck herrscht, die Bedürfnisse der Schüler im Mittelpunkt stehen und er in einer der Ersatzfamilien untergebracht ist. Nach einiger Zeit landet Tilman sogar in der als besonders freigeistig geltenden Familie des Schulleiters Salvador Wieland und seiner Frau Valerie. Hier lebt auch Tilmans Mitschülerin Ella, in die sich der Junge verliebt hat.
Die Jugendlichen werden Teil der okkulten Rituale und Zeugen der einnehmenden Reden Salvador Wielands, die vor allem Tilman das Gefühl geben, zu Höherem berufen zu sein.
"'Hast du von der Schamanenkrankheit gehört, Tilman', fragte er und sah mich ernst und lange an. Ich schüttelte den Kopf. Daraufhin erzählte Salvador von Stämmen in den Steppen Sibiriens und ihren spirituellen Führern, den Schamanen. Laut Salvador konnte niemand Schamane werden, der nicht vorher die Krankheit durchlitten hatte … Entscheidend sei für den Schamanen nicht die Krankheit, sondern was er daraus mache. Nur durch die Krankheit könne der Schamane den gewohnten Kreis der Wahrnehmung verlassen und lernen, was Heilung ist. Das müsse mir einleuchten: Jeder wahre Künstler, jede bedeutende Forscherin, jeder Mensch, der Außergewöhnliches leiste, sei durch innere oder äußere Umstände aus der allgemeinen Konsens-Trance gerissen worden. Erst ein Schock, ein Trauma, eine das Gewohnte schmerzhaft in Frage stellende Andersartigkeit befähige dazu, den antrainierten, allgemein üblichen Blickwinkel aufzugeben."
Salvador und Valerie Wieland gelingt es mit ihren manipulativen Strategien, den Schülern das Gefühl zu geben, Auserwählte zu sein und sie zugleich gefügig zu machen. Während sich zwischen Tilman und Ella eine unschuldige Liebe entwickelt, wird der junge Teenager von seinen Ersatzeltern mit pädagogischen und lebensphilosophischen Scheinargumenten zum Sex mit ihnen genötigt. Schließlich, bei einer Orgie im Keller des Wieland-Hauses, auch zum Sex mit Ella, die alles reglos erträgt und wenig später aus dem FSS verschwindet.
Auch als Erwachsener im Bann der Wielands gefangen
Erst 27 Jahre später sollte Tilman sie wiedersehen, auf der Beerdigung einer ehemaligen Wieland-Schülerin, die sich das Leben genommen hatte. Die Freunde von einst finden wieder zusammen, und schnell wird klar, wie ihre an der FSS erlittenen Traumata sie im weiteren Leben verfolgten.
An niemandem ist die Internatszeit spurlos vorbeigegangen. Tilman scheint allerdings noch immer im Bann der Wielands gefangen. Widerwillig lässt er sich überreden, seine Prominenz als Schriftsteller dafür einzusetzen, die Missbrauchsfälle öffentlich zu machen und aufzuklären, um Salvador und Valerie zu Fall zu bringen.
Insgeheim glaubt er aber immer noch, sein Erfolg als Autor sei eine Bestätigung von Salvadors Schamanen-Theorie, sein Trauma Bedingung für seine Außergewöhnlichkeit. Selbst mit der daraus resultierenden Parthenophilie, seinem erotischen Interesse an pubertierenden Mädchen also, scheint er sich arrangiert zu haben. Bis er Ellas Tochter Lucia begegnet.
"'Lucia' sagte ich immer wieder leise vor mich hin, kostete den Namen auf meiner Zunge und schämte mich nicht. Natürlich wusste ein Teil von mir, was ich mir da ausmalte und welche Konsequenzen ich billigte, wenn ich mich nicht sofort und konsequent von meinen Wünschen lossagte. Aber: Wie Wasser Hindernisse ungerührt umfließt, findet der Verliebte einen Weg zur Geliebten und wird sich durch Widrigkeiten seiner Verliebtheit nur umso bewusster."
Opfer und Täter zugleich
Dieser Tilman Weber ist eine komplexe, widersprüchliche Figur, die in der Jugend zwischen Neugier, Sehnsucht und Ekel, in den Erwachsenenjahren zwischen Verdrängung und Reflexion seiner Beobachtungen schwankt. Der Schriftsteller ist Opfer und potenzieller Täter zugleich. Und er ist seinem Jugendidol Edgar Allen Poe nahe: als unbestechlicher Chronist des Grauens und als ehemaliger Internatszögling, der sich von pubertierenden Mädchen angezogen fühlt.
Doch natürlich reichen die Parallelen zu realen Begebenheiten noch weit darüber hinaus. Man muss etwa an die in den vergangenen Jahren öffentlich gewordenen Missbrauchsfälle an der hessischen Odenwaldschule denken. Und am Aloisiuskolleg in Bad Godesberg, das der Autor Neft selbst besuchte.
Er war auch Teil einer Gruppe, die sich nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle mit deren Aufarbeitung beschäftigte. Das schwingt vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit. Denn während er das brisante Thema des sexuellen Missbrauchs zu Beginn in eine eindrucksvolle Erzählung des Internatslebens einwebt, überschatten schließlich die hierzu von Medien, Psychotherapeuten und Politik geführten Diskurse die Geschichte.
Ein klug konstruierter Text
Während der Lektüre glaubt man zunächst, darin eine Schwäche des Romans zu erkennen. Doch am Ende muss man feststellen, dass dieses Auseinanderfallen der Erzählung ein wesentlicher Teil dieses klug konstruierten Textes ist – denn auch der Erzähler selbst, Tilman Weber, der seinen eigenen Fall an die Öffentlichkeit gebracht hat, muss schließlich kapitulieren:
"Ich habe nichts mehr aufzuschreiben, hier nicht und in keinem anderen Text. Ich bin des Beschreibens und Erfindens müde. Hier endet es. Bald werde ich kein Erzähler mehr sein, sondern nur noch etwas Erzähltes: ein paar verwickelte und sich möglicherweise widersprechende Geschichten. Aus irgendeinem mir verborgenen und wahrscheinlich lächerlichen Grund hoffe ich, dass sie nicht so schnell vergessen sein werden."
"Die bessere Geschichte" ist ein einfühlsamer Roman über jugendliche Sehnsüchte und deren Manipulation, die darauf folgende Scham und Sprachlosigkeit. Anselm Neft zeigt hier ohne Zeigefinger und Moralisierungen mit literarischen Mitteln, wie komplex die Aufarbeitung solcher Missbrauchsfälle ist. Ein Buch, das uns alle angeht.
Anselm Neft: "Die bessere Geschichte"
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 480 Seiten, 22 Euro.