Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Anständige Lebensbedingungen für alle schaffen"

Es gehe ihr nicht darum, die Alten anzuklagen, antwortet die französische Aktivistin Ophélia Latil auf Karl-Markus Gauß. Sie fordert stattdessen eine gerechtere Gesellschaft, in der jeder die Möglichkeit erhält, sein Leben selbst zu meistern.

Von Ophélie Latil | 09.08.2011
    Lieber Karl-Markus,

    ich bin weit davon entfernt, die Älteren anzuklagen und mich zum Anwalt eines Generationenkonfliktes zu machen. Ich plädiere dafür, dass jeder Einzelne Verantwortung übernehmen muss. Und doch sind Reformen dringend notwendig.

    Was heißt das für uns, die wir uns empören? Wir müssen neue Gruppen bilden, solidarische Kollektive gründen, Gegenkulturen formen – wir müssen unser Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.

    Nur so können wir das große Ganze, den Staat, dazu zwingen, sich zu reformieren, um die Implosion unserer Gesellschaften zu verhindern. Lokal handeln und global denken – nur so können wir Druck von unten nach oben ausüben.

    Ich wünsche mir, dass wir neue Prioritäten setzen: Wir müssen uns mehr Zeit nehmen. Für den Dialog zwischen den Generationen. Für Bildung. Für ein neues Gemeinschaftsgefühl.

    Ich wünsche mir, dass wir unsere Arbeitswelt auf neue, menschlichere Grundlagen stellen. Arbeit muss gewürdigt werden. Leistung muss honoriert werden. Profit darf nicht zulasten der Gemeinschaft gehen. Die Jungen brauchen faire Chancen. Das ist alles mit den Gesetzen der Globalisierung vereinbar – wir müssen sie nur nach ethischen Grundsätzen ausrichten.

    Ich wünsche mir, dass Fehlentwicklungen korrigiert werden. Wie kann es sein, dass die Ärmsten besteuert werden und die Reichen sich aus der Verantwortung stehlen? Wie kann es sein, dass sich eine Minderheit Privilegien herausnimmt, die zulasten der Mehrheit gehen? Wie kann es sein, dass die Korruption immer weiter um sich greift? Dass das Rechtsempfinden verhöhnt und das Gerechtigkeitsgefühl immer weiter untergraben wird?

    Geld regiert die Welt? Dann lasst uns jene scharf besteuern, die junge Leute arbeiten lassen, ohne sie zu bezahlen! Die Mieten sind nicht mehr bezahlbar? Dann lasst uns Höchstgrenzen festsetzen! Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer? Dann lasst uns Mindestlöhne und Höchsteinkommen einführen, damit die soziale Schere nicht noch weiter aufgeht. So können wir die Arbeit jedes Einzelnen aufwerten, die Anstrengungen für die Gemeinschaft honorieren, anständige Lebensbedingungen für alle schaffen und die Egoisten in ihre Schranken weisen.

    Es geht mir um ein gerechteres Gesellschaftsmodell: Als Kind habe ich durchaus nicht von einem Staat geträumt, der großzügig Hilfen verteilt und beim kleinsten Hindernis zur Stelle ist. Ich habe davon geträumt, dass ich mein Leben selbst meistern und mich verwirklichen kann: im Beruf, in der Familie, in Vereinen und so weiter.
    Ich würde mir wünschen, dass ich einmal auf ein reiches Leben zurückschauen kann. Ich wünsche mir, sagen zu können: Es hat sich gelohnt, für eine gerechtere Zukunft einzutreten. Um es mit Margret Mead zu sagen, der amerikanischen Anthropologin: "Unterschätze nie, was eine kleine Gruppe engagierter Menschen tun kann, um die Welt zu verändern. Tatsächlich ist das das Einzige, was je etwas bewirkt hat."

    Ich grüße Sie herzlich
    Ihre Opélie Latil