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Antarktika
Überleben unter Eis

Vor 38 Millionen Jahren schoben sich die ersten Gletscher über einst tropische Wälder und verwandelten die Antarktis in eine Eiswüste: Ein toter Kontinent am Ende der Welt. Doch dann bohrten Forscher auf der Suche nach Überlebenden durch kilometerdickes Eis – und entdeckten eine fremde, einzigartige Welt.

Von Dagmar Röhrlich | 01.01.2018
    Antarktischer Gletscher des schmelzenden Larsen B Eisschelfs (Antarktische Halbinsel) mit Rissen
    Die Antarktis: doch kein so toter Kontinent, wie lange gedacht (imago / blickwinkel)
    Ross-Schelfeis, Dezember 2012. Der Lärm der zwölf Raupentraktoren zerreißt die Stille. Seit Tagen sind wieder die schweren Maschinen unterwegs, folgen der mit Wimpeln abgesteckten Route durch diese endlose, weiße Welt. Nur ein feiner, blassblauer Streifen am Horizont trennt Schnee und Wolken. Ihr Ziel, erzählt Chefwissenschaftler Ross Powell, ist Lake Whillans.
    "Lake Whillans is one of the unique lakes in the world."
    Die Raupentraktoren ziehen Dutzende massiver Schlitten, die beladen sind mit 500 Tonnen Ausrüstung: Heißwasserbohrgerät, mobile Laboratorien, eine Werkstatt, Zelte, Generatoren.
    "Lake Whillans liegt unter 800 Metern antarktischem Eis ganz nah am Südpol."
    Kein Kontinent hat sich so sehr verändert
    Antarktika - der Name beschwört Bilder herauf von einem seit Ewigkeiten gefrorenem Land. Doch dieses Bild trügt: Kein anderer Kontinent hat sich so tiefgreifend verändert. Seit 360 Millionen Jahren umkreist Antarktika den Pol, liegt mal etwas nördlich, mal genau darüber. Lange Zeit übertraf der Kohlendioxidgehalt moderne Werte um ein Vielfaches. Wie eine Decke hielt die Atmosphäre den Planeten warm. Und so gediehen selbst am Pol Wälder und Sümpfe, durch die schon die Ahnen der Säugetiere streiften.
    Antarktika war damals Teil eines sehr viel größeren Kontinents, der zu zerbrechen begann. Erst drifteten Afrika und Indien nach Norden, später Australien. Neue Gebirge stiegen auf: der Himalaya, die Alpen, die Anden. Die frischen Steine kurbelten die Verwitterung an, die mehr und mehr Kohlendioxid aus der Luft sog. Der Treibhauseffekt ließ nach.
    Ein Eisberg im Rossmeer.
    Ein Eisberg im Rossmeer (imago)
    Vor 40 Millionen Jahren bildeten sich auf Antarktika die ersten Gletscher. Als vor 23 Millionen Jahren die Verbindung der Antarktis mit Südamerika riss, rauschte ein Ring aus kaltem Meerwasser um das "Land über dem Pol": Das Eis siegte. Doch unter dem Eis blieb eine Landschaft aus Seen und Flüssen erhalten.
    Auf dem Weiß der glatten Schneeebene
    Lake Whillans, Januar 2013. Die Mannschaft hat das Camp aufgebaut. Auf dem Weiß der glatten Schneeebene über dem See wirkt es wie Kinderspielzeug: leuchtend orangefarbene Zelte in der einen Ecke, in der anderen die blauen Generatoren und Werkstätten, - etwas abseits - der gelbe Labortrakt und dann der große, rote Bohrungsbereich.
    Die Bohrtechnik für dieses WISSARD genannte Projekt ist extra entwickelt worden, erzählt ExpeditionsleiterJohn Priscu von der Montana State University in Bozeman:
    "Wir setzten Heißwasserbohrungen ein: Wir schmolzen Schnee von der Oberfläche, erhitzten ihn auf 90 Grad, leiteten das heiße Bohrwasser über mikrobielle Filter und sterilisierten es anschließend mit UV-Licht. Alles, um sicherzustellen, dass wir weder den See noch unsere Proben kontaminieren."
    "Wir interessieren uns für den Lebensraum unter dem Eis. Leben, das vielleicht seit Hunderttausenden von Jahren von der Außenwelt isoliert ist."
    Seen unter dem Eis
    Satellitenbilder, Radar und seismische Kartierungen hatten Ende des 20. Jahrhunderts bewiesen, dass es unter dem Eis tatsächlich Seen gab - und die Idee, darin nach Leben zu suchen, war zu verlockend.
    "Das Seewasser entsteht in erster Linie direkt unter dem mächtigen Eispanzer: Der staut den Wärmefluss aus dem Erdkörper wie eine Decke, und das Eis am Kontakt zum Boden beginnt zu schmelzen."
    Wie auf jedem anderen Kontinent auch, sammelt sich das Wasser zu Bächen und Flüssen, strömt in Richtung Meer und bildet in Senken Seen, erklärt Ross Powell von der Northern Illinois University in Dekalb:
    "Direkt auf dem Felsgrund sitzt unter dem Eisschild also ein komplexes, aktives Flusssystem. Lake Whillans ist Teil davon. In ihm sammelt sich langsam über die Jahre hinweg Wasser an, bis irgendwann der Druck zu hoch wird, das Wasser ausbricht und flussabwärts strömt."
    Im Januar 2013 ist der Wasserstand in Lake Whillans niedrig:
    "Lake Whillans war gerade erst vor ein paar Jahren abgeflossen, so dass das Eis nur etwa zwei Meter über dem Sediment schwamm."
    Bevor der Winter kommt
    Als sich die Bohrung dem See nähert, bereitet die Lenkung Probleme. Die Nerven des WISSARD-Teams - zum Zerreißen gespannt. Nichts darf schief gehen:
    "Wir hatten eine Dead-line: Wir mussten das Camp abgebaut haben und raus sein, ehe der Winter kam."
    Im Winter sinken die Temperaturen für Menschen ins Unerträgliche ab. So weit im Landesinneren überleben höchstens winzige Fadenwürmer und Springschwänze - und die Flechten, die die Nunatak überziehen, die Spitzen von alpenhohen Gebirgsketten, die aus Tausenden Metern Eis herausragen. Selbst an den Küsten, wo im Sommer Pinguine und Robben ihre Jungen groß ziehen, bleiben dann nur die Kaiserpinguine zurück.
    Nicht weit von der Antarktische Halbinsel, die wie ein Finger in Richtung Südamerika weist, liegen zwei Inseln, die unter Paläontologen berühmt sind: Vega- und Seymour Island. Obwohl nur ein enger Meeresarm die beiden trennt, könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Während Vega Island von Eiskappen und Gletschern beherrscht wird, fegt auf Seymour-Island ein scharfer Wind den Schnee von den Felsen. Beide Inseln sind fossilreich: Sie erzählen von der Zeit, als Entenschnabelsaurier dort lebten und Beuteltiere, und von einem warmen Meer, in dem Plesiosaurier Ammoniten jagten. Sie erzählen auch, wie sich das Klima allmählich verschlechterte, von einer Totengemeinschaft - und den Überlebenden.
    Das Skelett eines Plesiosauriers
    Skelett eines Plesiosauriers (dpa /picture alliance / Georg Oleschinski/Science Advances)
    Eine Nadel im Heuhaufen
    "Wir suchen auf den Inseln nach jeder Art von Fossilien, doch am meisten interessieren uns die von Landwirbeltieren, die am Ende der Saurier- und zu Beginn der Säugetierära gelebt haben. Die Steine, in denen wir graben, wurden zum größten Teil im Meer abgelagert. Ein paar entstanden auch in der Gezeitenzone oder Flussmündungen. Nur die Antarktische Halbinsel war damals festes Land, und von dort schleppten die Flüsse die Knochen von Landwirbeltieren an, deren Fossilien wir suchen wie die Nadel im Heuhaufen."
    Wie seine Kollegen an Lake Whillans fahndet auch Matthew Lamanna nach Leben unter dem Eis. Allerdings interessieren den Paläontologen vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh die versteinerten Zeugnisse dieser früheren Welt: eines Ökosystems, das sonst nirgends auf der Erde existiert.
    "Der Kontinent war während der Saurierzeit ein vollkommen anderer Ort, obwohl er ungefähr dieselbe geographische Position innehatte wie heute."
    Fossile Pollen, Blätter und Hölzer bezeugen Wälder, in denen Nadelbäume wuchsen, Scheinbuchen und Gingkos, Moose, Farne und Schachtelhalme. Es muss regnerisch gewesen sein, und ein Binnenmeer sorgte dafür, dass das Klima auch im Landesinneren mild war.
    "Am Ende der Saurierzeit vor 70 Millionen Jahren waren die Durchschnittstemperaturen in der Antarktis wohl mit denen in Seattle oder Vancouver vergleichbar."
    Warm und dunkel
    Unvorstellbar: Vancouver oder Seattle, die monatelang in der Dunkelheit der polaren Winternacht versänken.
    "Heute gibt es nirgends auf der Welt einen warmen Ort, an dem gleichzeitig so lange Dunkelheit herrscht."
    Und doch zogen dort Titanosaurier durchs Land, langhalsige Pflanzenfresser, die zu den Giganten der Kreidezeit zählten.
    "Um Pflanzenfresser von einer solchen Körpermasse zu ernähren, müssen viele Pflanzen wachsen."
    Auch wenn es damals genauso gut große Tierwanderungen gegeben haben dürfte wie heute - ein Titanosaurier hätte sich des Winters wohl nicht auf die lange Reise nach Südamerika in hellere Gefilde aufmachen können.
    Schon wie Pflanzen in warmen Polargebieten überleben, ist ein Rätsel, erklärt Ross MacPhee vom American Museum of Natural History in New York. Ein halbes Jahr ohne Photosynthese, ohne Primärproduktion - und dann ein halbes Jahr in der immer hellen Mitternachtssonne, ohne die Photosynthese-Pause in der Nacht.
    "Was die Pflanzen angeht, können wir vielleicht von der Arktis heute lernen. Dort machen sie am Ende der Wachstumsperiode sozusagen zu, und obwohl es extrem kalt wird, können sie aufgrund ihrer Anpassungen überleben und warten bis es wieder warm wird. Dann treiben sie aus und das Leben geht weiter."
    Winterschlaf, um die lange Nacht zu überstehen
    Auch bei den Tieren haben Paläontologen einen Ansatzpunkt gefunden:
    "In einigen Knochen Dinosaurier vom Pol sehen wir Hinweise darauf, dass sie ihr Wachstum einstellten. Wir vermuten, dass das jährlich passierte."
    Sie könnten Winterschlaf gehalten haben, um die lange Nacht zu überstehen.
    Es ist Hochsommer, doch der Nebel hüllt Seymour-Island wieder einmal in nasskalte Watte. Während im Winter die scharfen Winde die gefühlten Temperaturen auf −60 °C absinken lassen, steigt das Thermometer nun auf +1 °C. Der Permafrost beginnt zu tauen, und der Boden verwandelt sich in eine Schlammwüste, die das Laufen mühsam macht. Doch das hält die Paläontologen nicht ab, denn Seymour Island gilt als Rosetta-Stein für die Erdgeschichte. Unter anderem zieht sich eine seltsame Lage quer über die Insel durch den Fels: Sie scheint nur aus toten Fischen zu bestehen und abgestorbenen Muscheln.
    "Seymore Island ist einer der wenigen Plätze auf der Welt, wo wir eine durchgehende Sequenz von fossilführenden Schichten haben, die vom Ende der Saurierzeit in die der Säugetiere reicht. Datieren konnten wir sie anhand einer Iridium-Anomalie."
    Unmengen an toten Fischen
    Matthew Lamanna spricht nicht von irgendeiner Iridium-Anomalie, sondern der Iridium-Anomalie, die vom Chixculub-Einschlag eines Asteroiden vor 66 Millionen Jahren stammt.
    "Diese Lage, die aus toten Fischen, aus Unmengen an toten Fischen besteht, liegt direkt oberhalb dieser Iridiumanomalie. Einige Paläontologen haben deshalb darüber spekuliert, dass die Tiere in dieser Lage durch die Fernfolgen des Einschlags im Golf von Mexiko starben. Ich glaube nicht, dass die direkten Konsequenzen des Einschlags über so große Distanz hinweg tödlich waren, sondern dass sie an den global wirksamen Folgen gestorben sind. Wir könnten hier die Opfer des Massenaussterbens am Ende der Kreidezeit vor uns haben."
    Vor 66 Millionen Jahren lösten der Staub der zertrümmerten Gesteinsmassen und der Ruß der globalen Flächenbrände einen planetaren Winter aus: In einer Welt, die kein Eis kannte, fielen die Temperaturen stark ab, monatelang wurde es nicht hell. Am Ende fegte ein Massenaussterben die Dinosaurier von der Erde und viele andere Tiere, darunter auch fast alle Vogellinien. Bis auf eine.
    Auf dem benachbarten Vega-Island gibt es Fossilien, die die Geschichte weitererzählen. Es ist die Geschichte der Überlebenden - der Vögel.
    "Wir wissen nicht, warum die Ahnen der modernen Vögel das Massenaussterben überlebt haben, während alle anderen hinweggerafft wurden. Da bietet uns Vega einmalige Einblicke, denn von dieser antarktischen Insel stammen die besten Fossilien, von denen wir wissen, dass sie mit den modernen Vögeln heute verwandt sind."
    Stammen die modernen Vögel aus der Antarktis?
    Es geht um Vegavis iaai, erzählt Julia Clarke von der University of Texas in Austin. Ihr Spezialgebiet ist die Evolution der Vögel.
    "Die Geschichte dieses Fossils reicht 30 Jahre zurück. Argentinische Paläontologen haben Fossilien eines Vogels auf Vega entdeckt. Ich habe die Fossilien untersucht und herausgefunden, dass es eine neue Art ist, eben Vegavis iaai."
    Vegavis iaai fliegt quakend durch einen Küstenwald von Vega Island
    Vegavis iaai fliegt quakend durch einen Küstenwald von Vega Island (Nicole Fuller/Sayo Art for UT Austin)
    Inzwischen ist klar: Vegavis ist der älteste bekannte Vertreter der modernen Vögel - und er lebte eindeutig vor der Iridiumlage. Damit könnte er Erdgeschichte schreiben.
    "Da wir keinen fossilen Vogel von irgendeinem anderen Ort der Welt kennen, der das Ende der Kreidezeit überlebt hätte, ergibt sich die faszinierende Möglichkeit - und ich zögere noch, das auszusprechen -, dass die modernen Vögel aus der Antarktis stammen."
    Die Hypothese: Die Ahnen der modernen Vögel überlebten in der Antarktis, weil sie bereits an die lange Nacht und das kühle Klima gewöhnt waren, das nach dem Einschlag herrschte, erläutert Matthew Lamanna:
    "Dass ausgerechnet diese damals so "unbedeutende" Vogelgruppe von Vega-Island überlebt hat, ist möglicherweise kein Zufall, sondern sie waren bestens gerüstet fürs Überleben."
    Während die Sommersonne Vega- und Seymour-Island wärmt, sind auf dem antarktischen Eisschild in der Feldsaison 2012/2013 drei Teams unterwegs, um den Beweis für Überlebende unter dem Eis zu erbringen. Neben dem WISSARD-Team beteiligen sich Briten an dem Wettlauf und Russen. Das Ziel der Russen ist Lake Vostok, sie stehen kurz vor der Probennahme. Die Briten wollen in den Lake Ellsworth vordringen. Doch schon Weihnachten 2012 erreicht die Amerikaner die Nachricht, dass ihre britischen Kollegen wegen technischer Probleme aufgegeben haben.
    Durchbruch in den See
    Lake Whillans, 27. Januar 2013. Auf dem Computerschirm im Kontrollcontainer schnellt eine Linie empor: Der Wasserstand im Bohrloch ist um 28 Meter gestiegen. Der See ist erreicht: Das unter Hochdruck stehende Wasser nach oben geschossen. Seine Temperatur: −0.5 °C. Eine Kamera wird herabgelassen. Im Kontrollcontainer drängen sich die Mitglieder des Whillans-Teams.
    Die Kamera setzt auf dem Seeboden auf.
    Am Tag darauf. Alle tragen weiße, sterile Anzüge, durch die die Polarkleidung schimmert. Die erste Probe soll gezogen werden. Als die beiden Arbeiter den baseballschlägerlangen Behälter aus dem Bohrloch ziehen, ist die Spannung mit den Händen zu greifen. Hat der Zylinder auf der 800 Meter langen Reise zur Oberfläche dicht gehalten? Im Labor dann: die ersten Untersuchungen.
    Die im Moment wichtigste Frage: Hat sich die Mühe gelohnt? Gibt es Leben in dem See unter dem Eis? Jubel beim Blick durch das Mikroskop: Zellen leuchten auf. Zellen in unterschiedlichsten Formen. Sie stammen also von vielen unterschiedlichen Mikroorganismen. Erste Tests beweisen: Sie leben!
    Nein, John Priscu ist nicht überrascht, Leben unter dem Eis zu finden. Damit hat er gerechnet.
    "Was mich überrascht hat, ist die Vielfalt: Es waren allein mehr als 4000 Bakterienarten - alle an die Kälte angepasst."
    Nur ein Teil stammt aus dem Eis
    Die Analysen in den Universitätslaboren werden später zeigen, dass nur ein Teil der Mikroorganismen aus dem Eis stammen kann: Viele sind marinen Ursprungs.
    "Unsere geochemischen Daten belegen einen marinen Einfluss, dass also das Meer bis hierher vordringt, wenn das Klima wärmer ist. Das Seewasser selbst ist Süßwasser, nur ganz leicht salzig, doch im Sediment ist der marine Einfluss deutlich. Und darin finden wir auch große Mengen organischen Kohlenstoffs, den wir einer alten marinen Phase zuschreiben."
    Wie in der Tiefsee dient auch in Lake Whillans die geochemische Energie der Primärproduktion von Biomasse:
    "Dieser See hat seit mehr als 100.000 Jahren kein Tageslicht mehr gesehen, und die Bakterien überleben durch Geochemie, in dem sie Energie und Nährstoffe aus den Steinen am Grund des Eispanzers ziehen. Ich sage gerne, dass sie Steine essen, um zu leben."
    Winzige Methanspuren im Wasser verraten ein komplexes Zusammenspiel, das im Sediment darunter abläuft.
    Das Methan entsteht, weil Mikroorganismen unter dem See die organische Substanz zersetzen, die das Meer im Sediment zurückgelassen hat.
    Das Methan steigt auf und wird zum "Futter" für die Bakterien, die im See leben, und die treiben das nächste Ökosystem an, beschreibt John Priscu:
    "Um zu überleben, bilden die Mikroorganismen ein Konsortium, in dem das Abfallprodukt des einen die Lebensgrundlage des anderen ist. Solche Beziehungen finden wir oft in extremen Ökosystemen, wo die Organismen nur durch gegenseitiges Geben und Nehmen überleben können."
    "Es ist wirklich ein einzigartiges Ökosystem, das ich mit den Black Smokern in der Tiefsee vergleichen möchte. Dort hängt das Leben vom Schwefelwasserstoff ab, der an hydrothermalen Quellen aus dem Boden kommt - hier ist es das aus der Erde aufsteigende Methan."
    Etwa so groß wie Frankreich
    Die Analysen verraten, dass in Lake Whillans viel organisches Material entsteht. Alle paar Jahre wird es in Richtung Meer ausgespült - samt aller Nährstoffe. Könnte es also sein, dass das See- und Flusssystem unter dem westantarktischen Eisschild eine andere finstere Welt düngt: die unter dem Ross-Schelfeis, einer schwimmenden Eisplatte, in etwa so groß wie Frankreich? Zwei Jahre nach dem großen Erfolg war das WISSARD-Team wieder auf dem Eis. Diesmal nicht über einem subglazialen See, sondern dort, wo der Whillans-Eisstrom unter 750 Metern Eis ins Meer mündet: auf dem Ross-Schelfeis. Die Bohrung läuft problemlos. Am 8. Januar 2015 ist es so weit: Eine Kamera überträgt erstmals Bilder aus der Gründungszone des Schelfeises, zeigt grauen Schlamm, wild durchsetzt mit Steinen - und etwas, mit dem niemand gerechnet hätte.
    "Als wir die Kamera hinabgelassen haben, hat es mich umgeworfen: Dort unten schwammen überall Fische herum, wir sahen Flohkrebse und Quallen. Wir waren 1200 Kilometer vom Rand des Schelfeises entfernt, und trotzdem lebt dort eine erstaunliche Vielzahl an Tieren - Tieren, die wohl niemals Licht gesehen haben."
    "Wir schlossen aus unseren Daten, dass die organischen Kohlenstoffe, die von den Mikroorganismen in Lake Whillans und den anderen Seen unter dem Eis produziert werden, die Bakterien unter dem Schelfeis ernähren, und die wiederum bilden die Nahrungsgrundlage für Flohkrebse, Quallen und Fische."
    Ein Kreis schließt sich: Was das Meer in wärmeren Zeiten an Nährstoffen zurückgelassen hat nährt heute noch Leben unter dem schwimmenden Eis, mehr als tausend Kilometer vom offenen Ozean entfernt.
    Längst sind nicht alle Fragen beantwortet. Brauchen die Ökosysteme das Meer? Oder reicht ihnen die chemische Energie der Steine? Diese Frage könnte beantwortet werden, wenn John Priscu und sein Team in einen anderen verborgenen See bohren: in Lake Mercer weiter im Landesinneren, am Abhang des Transantarktischen Gebirges. Dorthin ist das Meer seit Ewigkeiten nicht mehr vorgedrungen. In einem Jahr rechnen die Forscher mit Ergebnissen.
    Antarktika: Überleben unter dem Eis
    Von Dagmar Röhrlich

    Es sprachen: Nicole Engeln, Hendrik Stickan, Anne Esser und Tom Jacobs
    Technik: Sylvia Kraus
    Regie: Axel Scheibchen
    Redaktion: Christiane Knoll
    Eine Produktion des Deutschlandfunk 2018