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Antarktis
Liebe unter dem Gefrierpunkt

Von Michael Marek und Sven Weniger | 14.05.2015
    Marcel Lichtenstein ist ein Spaßvogel, Geschichtenerzähler und Entertainer. Heute haben es ihm die See-Elefanten angetan. Lichtenstein ist Naturforscher, Botaniker und jüngster Spross einer weitverzweigten Familie von Wissenschaftlern, die überall in der Welt Flora und Fauna nachstellen. Und das seit Generationen. Der 42-jährige, bullige Costa Ricaner mit dem schwarzen Vollbart steht auf einem steinigen Küstenhang in Hannah Bay auf Livingston Island. Hier, etwa 1.000 Kilometer von der Südspitze Südamerikas entfernt, versammelt sich um ihn herum eine kleine Gruppe Touristen.
    Livingston Island liegt in der Westantarktis. Im 19. Jahrhundert kamen Walfänger und Robbenjäger hierher, heute sind es Touristen: verpackt in Thermohosen und knallroten, dick gefütterten Windjacken mit dem Logo eines Kreuzfahrtschiffes.
    Menschen sehen sie so gut wie nie, Angst haben sie keine. Das hier ist ihr Territorium, das machen die See-Elefanten laut grunzend klar. Denn das hier ist die Antarktis. Und hier, auf Livingston Island, ist auch der Schauplatz erotischer Eskapaden, erzählt Marcel Lichtenstein begeistert:
    "You got the Antarctic Hairgrass."
    "Hier habt Ihr die Antarktische Schmiele und den Perlwurz. Ich bin ja Botaniker, für mich ist das jetzt der Moment höchsten Glücks! Klar, beide sind sehr klein. Aber schaut Euch um, hier gibt es sonst fast nichts, das ist der lebensfeindlichste Ort des Planeten. Und diese beiden wachsen trotzdem hier. Sie sind die beiden einzigen Pflanzen des Kontinents, die sich über Samen vermehren. Diese beiden hier haben Sex in der Antarktis!"
    Gebannt blicken die Touristen auf den Boden, als müsse dort gleich ungeheures passieren: freie Liebe unter dem Gefrierpunkt.
    "Wir finden unter Wasser eine unvorstellbare Artenvielfalt, die von Muscheln, Krebsen, Würmern über ein Fischreichtum bis hin zu den bekannten Säugetieren geht, verschiedenen Walarten, Robbenarten, aber auch Seevögeln, Pinguine, Albatrosse, Sturmtaucher und dadurch sehr sensibel reagiert gegenüber tatsächlichen oder potentiellen menschlichen Störungen oder Eingriffen."
    Tim Packeiser ist Meeresschutzexperte beim World Wide Fund For Nature, WWF, eine der weltweit größten internationalen Naturschutzorganisationen:
    "Der Tourismus ist aus unserer Sicht von zwei Seiten zu betrachten: Zum einen freuen wir uns über das Interesse die Region dort zu erkunden, um sich dort die Szenerie und Naturspektakel anzuschauen. Allerdings hat der Tourismus in den letzten Jahren stark zugenommen. Anfang der 1990er-Jahren sind es knapp 7.000 Menschen gewesen, die die Region besucht haben, und die Zahlen sind hochgegangen bis zuletzt 40.000 Besucher pro Jahr. Und da treten Fragen auf: Wie werden Reisen in die Region geregelt, gemanagt, d.h. welche Vorschriften gibt es für Besucher?"
    Seit 2006 dürfen, wenn sie jeden der etwa 160 festgelegten Landeplätze der Antarktis besuchen wollen, nur noch kleinere Motorschiffe mit geringem Tiefgang und maximal 200 Passagieren an Bord bis zu 100 Touristen gleichzeitig an Land bringen. Schiffe mit über 500 Passagieren dürfen gar keine Landgänge mehr durchführen. So präzise und scharf sind die Regularien. Zurzeit sind nur 25 Kreuzfahrtschiffe bei der IAATO, beim internationalen Verband der Antarktis Reiseveranstalter, für Landgänge registriert.
    "Das erste, was ich heute Morgen gesehen habe, als ich meinen Vorhang in der Kabine zurückzog, waren Wale. Einfach fantastisch! Da war diese Walflosse, die ins Wasser klatschte."
    Start zur ersten Expedition, wie die täglichen Ausflüge in den robusten Schlauchbooten des französischen Kreuzfahrtschiffes heißen. Wie Hühner auf der Stange drängen sich zehn Vermummte auf den Gummiwülsten, der Mann am Steuer dreht die Außenborder auf. Ein dünner Schleier aus eisigem Meerwasser überzieht die Passagiere. Das Schelfeis der Wilhelmina Bay kommt näher.
    "Die Gefahr besteht sicherlich, je mehr Menschen Lebensräume, Regionen erkunden, dass damit auch Schäden einhergehen. Es gibt ein Sicherheitsnetz für die Antarktis, die schlichtweg extremen klimatischen Bedingungen, die dort herrschen, die uns Menschen zumindest davon abhält, diese Region der Erde zu bewohnen und zu benutzen. Nichtsdestotrotz ist der Mensch in der Antarktis angekommen, über die Forschung, über die Nutzung von Ressourcen vor allem Fischerei und neuerdings auch den Tourismus. Und da müssen wir genau gucken, welche Schäden wir vermeiden können."
    Glasklar ist die Luft in der etwa einen Quadratkilometer weiten Wilhelmina Bay. Ringsherum erheben sich kantige Gebirgszüge. In kurzen Abständen werden sie von zahlreichen funkelnden Gletschern durchbrochen, die bis zum Ufer der Bucht reichen. Wie zersprungenes Glas treiben kleine und große Eisschollen in der Bay. Einsam und wie verloren liegt das Schiff in dieser ungeheuren, lautlosen Weite vor Anker.
    "Wie Ihr sehen könnt, versuchen die Jungen den Eltern hinterherzurennen, um gefüttert zu werden."
    Meeresbiologe José Sarica erklärt:
    "Die haben dazu aber keine Lust mehr, weil die Jungen schon älter sind. Sie stoßen die Kleinen ins Wasser, damit diese selbst fischen. Da hinten sitzen auch einige Kormorane auf den Felsen. Es gibt also zwei Vogelarten hier, von den sechs Pinguinarten leben an diesem Ort aber nur die Eselspinguine."
    Touristen und Guides spazieren zwischen den Pinguinen und ihren Jungen herum. Die Tiere der Antarktis kennen keine Scheu vor Menschen. Zu selten sehen sie welche. Während der zehn Tage, die der Kreuzfahrer durch die Inselwelt kurvt, bekommen ihre Gäste nur ein weiteres Kreuzfahrtschiff aus der Ferne zu sehen. Nach mehreren Havarien erklärte die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO, eine UNO-Agentur, 2011 die Gewässer südlich des 60. Breitengrades zum Sperrgebiet - und zwar für Schiffe, die mit billigem Schweröl betrieben werden und einen enorm umweltschädlichen CO2-Ausstoß haben. Stattdessen dürfen seitdem nur Schiffe, die das teuere Leichtöl verbrauchen, die Region befahren:
    "Lob an die internationale Seeschifffahrtsorganisation, diese Maßnahme getroffen zu haben - zumindest für das Südpolarmeer verabschiedet zu haben. Diese Vorschrift muss es für alle Weltmeere gelten. "
    Für Schiffe mit mehr als 2.000 Passagieren, die früher die Küstengewässer der Antarktis regelmäßig auf und ab kreuzten, auch ohne ihre Gäste an Land zu bringen, wurden die Treibstoffkosten danach zu hoch. Doch IMO und IAATO-Maßnahmen konnten den Boom nur kurzzeitig deckeln.
    "Wir werden Eure Stiefel dekontaminieren, ganz einfach, indem Ihr durch eine Wanne mit Desinfektionsmittel lauft, bevor Ihr die Zodiacs besteigt. Es werden keine Lebensmittel mit an Land genommen, um jegliche Kontamination zu vermeiden."
    Rafael Sané, ein drahtiger junger Franzose mit schwarzem Strubbelbart, ist der Expeditionsleiter. Er fasst in einem Grundsatzvortrag an Bord die allgemeinen Bedingungen zusammen, die jeder strikt befolgen muss, der antarktischen Boden betreten will.
    "Wasser ist kein Problem, dafür geben wir hier Flaschen aus. Natürlich wird auch nichts eingeritzt wie "Nadine und Roger waren hier" oder so. Das geht gar nicht! Und natürlich wird auch nichts, was wir mitbringen, z.B. Wasserflaschen, dort gelassen und nichts von dort mit zurückgebracht - gar nichts! Keine Pflanzen, keine Steine, keine Tierknochen! Das einzige, was Ihr zurückbringen könnt, sind die Fotos, die Ihr macht! Wir treten auch nicht auf die Moose dort auf den Felsen. Und dann die Tiere: Sie sind wild, sie jagen und werden gejagt, möglicherweise auch wenn wir mitten unter ihnen sind. Aber wir greifen niemals ein. Wir laufen durch Kolonien mit Tausenden von Pinguinen, Sturmvögeln, Möwen, die uns kaum beachten. Das ist fantastisch. Wir wollen aber unbedingt vermeiden, sie zu stören. Das ist ihr Zuhause, wir verhalten uns so, als seien wir bei Leuten zu Besuch, die wir nicht kennen. Das bedeutet auch, ihnen nicht zu nah zu kommen und immer aufmerksam zu sein!"
    Penibel führen Sané und seine Kollegen Protokoll über alles, was ihnen während jeder Expedition auffällt. Jeder noch so kleine Vorfall wird in ihren IAATO-Logbüchern vermerkt.
    "Natürlich es gibt es für fast alles ein Formular. Wenn man mit einem Wal kollidiert, wenn neue Gletscherspalten auftauchen, wo Touristen an Land gehen, wird das gemeldet. Wir hatten gerade einen Schneesturmvogel, der auf dem Vorderdeck gelandet ist, unverletzt, er war nicht gegen ein Fenster geflogen, sondern wollte sich wohl nur ausruhen. Einmal flog uns auch ein Albatros gegen ein Seil, den wir dann einfingen und später wieder freilassen konnten. Auch dafür mussten wir ein Formular ausfüllen."
    "Warum wir uns um den Schutz dieser Region kümmern, ist die Tatsache, dass das Südpolarmeer bis heute eines der am wenigsten beeinträchtigten oder beeinflussten Meeresregionen der Erde darstellt. Eine Tatsache, die auf den Weltmeeren eine Ausnahme ist. Konkrete Änderungen in der Region kommen ganz bestimmt durch den Klimawandel. Der zweite Einfluss ist die Fischerei. Die geschätzten Bestände des Blauwals, die Ende des 19. Jahrhundert bei etwa 230.000 Individuen geschätzt wurden, hat die Waljagd geschafft, es auf 2.300 herunterzuwirtschaften. Klassisch sind das Russland, Japan, Südkorea und Norwegen, die Fischereiinteressen vertreten."
    IAATO-Prüfer kommen regelmäßig an Bord der Schiffe, um die Einhaltung der Regeln zu kontrollieren. Ist Antarktis-Tourismus also eigentlich eine gute Sache? 29 Kreuzfahrtschiffe, die mit leichtem Schiffsdiesel betrieben werden, sind zurzeit IAATO-Mitglieder - aber eben nicht alle. Schätzungsweise ein paar 1.000 Touristen im Jahr werden von Schiffen an Land gebracht, die nicht der Internationalen Vereinigung der Antarktis Reiseveranstalter angehören. Diese unterliegen dann nur den Vorschriften der IMO und deren Kontrolle durch Offshore-Steueroasen, unter deren Flagge viele registriert sind. Und die dürfte, so vermutet Expeditionsleiter Rafael Sané, oft eher lax sein. Dazu kommen japanische Walfänger und Cargoschiffe des weltweiten Seehandels, die ebenfalls im Südpolarmeer unterwegs sind.
    "Der Tourismus ist nicht die Hauptbedrohung für die Antarktis. Die Versuchung, die Bodenschätze dort auszubeuten, ist eine weit größere Bedrohung. Kohle und andere wertvolle Rohstoffe unter dem 4.000 Meter dicken Eispanzer, Öl und Gas im Meer sind eine große Versuchung. Der Tourismus mit all seinen Regularien ist da durchaus nachhaltig. Und ich sehe auch keine Anzeichen dafür, dass diese gelockert werden. Sie werden eher immer strikter. Ich bin in diesem Punkt sehr sensibel, aber für mich ist das bis jetzt in Ordnung."
    Es ist dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, das jeden ergreift, der die Antarktis besucht. Was Menschen vor 100 Jahren sahen, sieht heute noch genauso aus. Ein Raum, immens groß, an dem die Industrielle Revolution, Kultur- und Religionskämpfe, heiße und kalte Kriege, das Internet, Reichtum und Armut, Elend und Überfluss, all der Wandel, den die Menschheit über den Planeten Erde gebracht hat, spurenlos geblieben sind.
    "Das hier ist uns Menschen so fremdartig, dass wir nicht länger Bürger eines Landes sind. Wir sind Bürger eines Planeten. Man verliert hier seine Nationalität. Keiner stempelt deinen Pass, du kommst in kein Land, das hier gehört niemandem, sondern uns allen. Wir sind keine Costaricaner mehr, keine Franzosen, nur noch Homo Sapiens, die die letzte Grenze besuchen."
    Abends sitzt Marcel Lichtenstein beim Bier in der luxuriösen Lounge des französischen Kreuzfahrtschiffs. Allein, ohne Publikum, sein Arbeitstag ist vorbei. Der Schiffsdiesel wummert leise. Draußen senkt sich die Nacht über die Erde. Spaßmacher Marcel ist müde, nur der Philosoph Lichtenstein ist noch hellwach.
    "Ich glaube an den Neid. Er ist ein starker Charakterzug der menschlichen Natur. Ich denke, dass er auch an diesem Ort greift - leider! Der Antarktisvertrag wird deshalb Bestand haben, weil niemand will, dass der andere etwas bekommt. Da ist er eher bereit, selbst darauf zu verzichten. Die Argentinier wollen nicht, dass die Briten ein Stück Land bekommen und umgekehrt. Die Russen wollen nicht, dass die US-Amerikaner etwas kriegen. Niemand gönnt dem anderem irgendetwas. Und diese Kraft ist stärker als die Gier, selbst etwas zu besitzen. Ich hoffe, das bleibt so. Dann wird dieser Kontinent nie jemandem gehören."