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Anthropologie
Neandertaler hatten breiten maritimen Speiseplan

Menschen haben das Meer einer Studie zufolge früher als Nahrungsquelle genutzt als bislang angenommen. Eine Studie im Fachjournal „Science“ beschreibt, dass sich schon Neandertaler regelmäßig von Muscheln, Fischen und anderen Meerestieren ernährten.

Von Michael Stang | 27.03.2020
So soll er laut Forschern ausgesehen haben: Die Nachbildung eines älteren Neandertalers.
Die Nachbildung eines älteren Neandertalers im Neanderthal-Museum in Mettmann. (dpa/Federico Gambarini)
Joao Zilhao, so heißt ein Archäologe aus Portugal, der sich zum Ziel gesetzt hat, den Neandertaler zu rehabilitieren. Denn nachdem vor über 150 Jahren erstmals sterbliche Überreste dieser Vettern unserer Vorfahren entdeckt worden waren, im Kreis Mettmann bei Düsseldorf, haftet den Neandertalern der Ruf an, sie seien tumbe Keulenschwinger gewesen und dem modernen Menschen Homo Sapiens kognitiv weit unterlegen.
Inzwischen wissen wir: Völlig zu unrecht. Deshalb arbeitet Joao Zilhao seit Jahren unermüdlich daran, die Neandertaler ins rechte Licht rücken. Heute zum Beispiel mit einem Artikel im Fachmagazin Science, wo er mit Kollegen Fossilienfunde in einer Höhle an der Küste Portugals beschreibt. Bei mir im Studio ist jetzt der Wissenschaftsjournalist Michael Stang. Er ist studierter Anthropologe und hat laut DNA-Analyse drei Prozent Neandertaler-Erbgut in seinen Zellen.
Auf dem Speiseplan: Muscheln, Robben, Wasservögel
Ralf Krauter: Welche neuen Eigenschaften werden unseren in grauer Vorzeit ausgestorbenen Vettern denn nun zugeschrieben?
Michael Stang: Es sieht so aus, dass die Neandertaler vor rund 100.000 Jahren nicht nur durch Zufall bedingt, sondern regelmäßig das Meer als Nahrungsquelle genutzt haben. Das belegen neue Ausgrabungen in Portugal, direkt an der Küste in einer Höhle namens Figueira Brava. Dort hat ein Team um Joao Zilhão dutzendfache Belege dafür gefunden, dass Neandertaler damals – und sie waren seinerzeit die einzigen Menschen in dieser Gegend – einen breiten maritimen Speiseplan hatten: Der reichte von Muscheln, über Fisch, Wasserschildkröten, Robben, Krebstiere und Wasservögel. Außerdem gibt's in Portugal ja auch schon reichlich archäologische Fundstätten von Feuerstellen mit Knochenresten – gut vorstellbar also, dass die Neandertaler schon sehr früh diese Tiere auch gegrillt oder gebraten haben.
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Forscher fanden bis zu 100.000 Jahre alte Essensreste
Krauter: Wie wasserdicht ist die Indizienkette, dass Neandertaler im Meer bzw. an der Küste auf die Jagd gingen? Wurden in dieser Höhle neben den Überresten von Meerestieren denn auch Fossilien von Neandertalern gefunden?
Stang: Nein, das nicht. In der Höhle haben die Archäologen vor allem Spuren des täglichen Lebens freigelegt - unter anderem Werkzeuge, Steinklingen und Schaber, wie sie von vielen anderen Neandertalerfundstätten bekannt sind. Dass sie hier direkt keine Neandertalerknochen gefunden wurden, kann viele Ursachen haben. Neandertaler haben ihre Toten bestattet - vor gut vier Wochen wurden erst neue Funde aus Israel bekannt, wo Neandertaler ihre Toten in Blütengräbern bestattet hatten. Schaut man sich diese kulturellen Errungenschaften an, liegt es auf der Hand, dass diese Frühmenschen ihre Hinterbliebenen nicht in der Küche oder Werkstatt haben liegen lassen - denn nichts anderes ist diese neue Fundstätte letztlich.
Krauter: Ok, man hat also diese Überreste von Meeresgetier in der Höhle und weiß, dass Neandertaler in der Gegend aktiv waren. Wann war das ungefähr?
Stang: Vor rund 100 000 Jahren. Die Datierungen geben ein Alter von 86.000 bis 106.000 Jahren an. Zu diesem Schluss kommt ein Team aus Göttingen um Dirk Hoffmann, der schon häufiger auf der iberischen Halbinsel Datierungen vorgenommen hat, etwa an alten Höhlenmalereien. Datiert haben die Experten Kalzit-Ablagerungen, die wie Stalagmiten aus Tropfwasser entstehen und auf diesen Tierresten und Werkzeugen gewachsen sind. Ihr Alter wurde mithilfe der Uran-Thorium-Methode bestimmt. Dabei wird also ein Mindestalter angegeben, weil die Ablagerungen jünger sind als die Hinterlassenschaften, also die Tierknochen und Steinwerkzeuge, auf denen die Kalzit-Ablagerungen entstanden sind
Meerestiere lieferten Fettsäuren für die Gehirnentwicklung
Krauter: Wie überraschend ist die Erkenntnisse, dass Neandertaler schon vor rund 100.000 Jahren nicht nur regelmäßig Fleisch auf dem Speisezettel hatten, sondern auch Fisch? Und wie verändert das unser Bild von diesen Urzeit-Menschen?
Stang: Ziemlich stark, denn es ist ja nicht nur der reiche Speiseplan, der beeindruckend ist. Sondern nun ist klar: Neandertaler kannten die Gegend gut und waren erfolgreiche Jäger und Sammler. Sie haben routinemäßig Muscheln geerntet, sind fischen gegangen, haben Robben gejagt. In Afrika gibt es aus der mittleren Steinzeit rund 60 Fundstätten der anatomisch modernen Menschen, also Homo sapiens, in Küstennähe. Dort wurde immer gesagt, dass viele Fette oder Öle dieser Meerestiere unseren Vorfahren ausreichend Nährstoffe lieferten und damit eine weitere Gehirnentwicklung ermöglichten. Diese Nährstoffe verbesserten die kognitiven Fähigkeiten unserer Vorfahren - und ebneten damit wohl letztlich den Weg für deren Auszug aus Afrika. Dieses Etikett muss man jetzt also auch den Neandertalern anheften und jeder kann sich jetzt aussuchen, ob das die Neandertaler aufwertet, unsere Vorfahren abwertet - oder ob diese alten Vergleiche zwischen besser oder schlechter nicht einfach mal ad acta gelegt werden sollten.
Sie sehen eine Zeichnung, auf dem Neandertaler einen Höhlenbären jagen.
Klervia Jaouen, Forscherin am MPI - Neandertaler aßen fast "100 Prozent Fleisch"
Neandertaler haben sich hauptsächlich von Fleisch ernährt, so eine Studie von Forschern des Leipziger Max-Planck-Institut. Den Speiseplan von Urmenschen zu erforschen sei wichtig, weil Ernährung und Evolution zusammenhingen, sagte Klervia Jaouen, Mitautorin der Studie, im Dlf.
Krauter: Wie bewerten Archäologen diese neuen Funde und ihre Interpretation? So ganz einig sind die sich ja selten?
Stang: Einige Forschende tun sich etwas schwer mit den neuen Funden. Es gibt in SCIENCE auch noch einen Begleitartikel aus Tübingen. Darin heißt es salopp gesagt, dass das ja jetzt nur eine Fundstelle ist und das daher gar nichts aussagt. Das halten viele Ur- und Frühgeschichtler aber für ein schwaches Argument. Die Arbeitsgruppe in Tübingen ist dafür bekannt, dass man dort Neandertalern sowas wie Kunstfertigkeit eher nicht zutraut – obwohl es Höhlenmalereien und plausible Datierungen gibt, die eigentlich wirklich nur von Neandertalern stammen können. Um diese Kritiker zu überzeugen, bräuchte man wirklich einen "rauchenden Colt" - sprich ein vollständiges Neandertalerskelett mit Pinsel in der Hand oder mit einem Speer in der Hand vor einer toten Robbe. Aber sowas zufinden, ist halt leider utopisch.

Krauter: Also wieder mal ein klassischer Streit um die Frage, wie einzelne Funde zu bewerten sind und ins größere Bild der Archäologen passen?
Stang: Kann man so sehen. Die Gruppe um Joao Zilhão versucht seit Jahrzehnten, die Neandertaler zu rehabilitieren, indem er zeigt, dass sie erfolgreiche Jäger und Künstler waren. Das wollen die Archäologen aus Tübingen aber eben genau nicht so sehen und sagen: Die Beweise sind nicht wasserdicht. Aber bei dieser neuen Studie sieht es für mich doch stark nach einem Punktsieg für die Neandertaler aus.