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Anti-Extremismus-Initiative
Die Gefährder im eigenen Land

Warum hat der Terror auf viele junge Amerikaner eine so große Anziehungskraft? Das soll eine Initiative gegen die Radikalisierung junger Leute herausfinden, das sogenannte "Countering Violent Extremism"-Programm. Damit will die amerikanischen Regierung früher gegen terroristische Gefährder einschreiten. Doch das Pilotprojekt ist umstritten.

Von Anne Raith | 21.05.2016
    Polizisten sichern in San Bernardino in den USA eine Kreuzung.
    Im Dezember 2015 tötete ein US-amerikanisches Ehepaar 14 Menschen. Das FBI kam zum Schluss, dass die Tat vom IS inspiriert worden sei. (pa/dpa/AP)
    "My job was a counterterrorism prosecutor."
    Irfan Saeed sitzt in einem schmuck- und fensterlosen Raum im Department of State, dem amerikanischen Außenministerium. Der großgewachsene Mann im Nadelstreifenanzug hat viele Jahre als Staatsanwalt gearbeitet. Schwerpunkt: Terrorbekämpfung. Lange kannte er dabei nur diesen Dreiklang:
    "I investigated, I arrested, and I put people to jail. "
    Ermitteln, festnehmen und ins Gefängnis stecken. Doch irgendwann, erzählt Irfan Saeed, habe seine Arbeit einen schalen Beigeschmack entwickelt:
    "Früher waren Terroristen noch knallharte Ideologen, die an die Sache glaubten. Heute sind das doch oft noch Kinder, die auf den falschen Weg geraten sind. Und als ich diese Kinder vor Gericht hab weinen sehen, habe ich gedacht: Das ist doch nicht das, was Du tun willst. Es muss doch einen anderen Weg geben, vorher einzugreifen. Präventiv."
    Mit einem Vier-Punkte-Programm gegen den Terror
    Tatsächlich war der bislang jüngste Terrorverdächtige in den USA ein 15-jähriger Junge. Der Großteil der Festgenommenen ist jünger als 25. Auch deswegen steht Irfan Saeed heute nicht mehr im Gerichtssaal, sondern sitzt im Außenministerium und koordiniert das Programm, das dafür sorgen soll, dass sich junge Amerikaner gar nicht erst radikalisieren und straffällig werden.
    "And the four step process starts with research."
    Erst einmal gehe es darum, herauszufinden, warum der Terror auf viele junge Amerikaner eine so große Anziehungskraft hat. Denn auch wenn die Zahl jener, die tatsächlich nach Syrien oder in den Irak ausreisen, sinkt, ermittelt das FBI derzeit in 1.000 Fällen von Online-Rekrutierung. Dann, zählt Irfan Saeed auf und streckt einen zweiten Finger in die Höhe, gehe es um Prävention. Darum, zu verhindern, dass junge Männer und Frauen sich überhaupt erst angezogen fühlen, offen sind, sich von einer Terrororganisation wie dem selbst ernannten Islamischen Staat anwerben zu lassen. Der dritte und der vierte Finger stehen dann für Intervention und Rehabilitation, sollte es doch passieren.
    "Countering Violent Extremism" (CVE) heißt das Programm, dass die Regierung aufgelegt hat – bei dem sie selbst aber möglichst wenig in Erscheinung treten soll. Offline und Online. Irfan Saeed wedelt mit seiner lilafarbenen Krawatte:
    "Schlipsträger wie ich haben da doch überhaupt keine Glaubwürdigkeit, wenn ich was gegen den IS sage. Ich mein, ich hab fünf Twitter-Follower".
    Deswegen setzt die Regierung auf Bundesstaaten, Städte und Gemeinden. Auf die Zivilgesellschaft.
    Auf das Modell Montgomery County zum Beispiel, etwa 25 Meilen nordwestlich von Washington. Montgomery County ist einer der am schnellsten wachsenden Landkreise und hat sich in den vergangenen Jahren enorm verändert. Die Mehrheit der Gesellschaft besteht heute aus Minderheiten. Ein Melting Pot. Woher die Menschen kommen, spiele aber in diesem Zusammenhang keine Rolle, sagt Mehreen Farooq.
    "Es kann jede Familie treffen, 40 Prozent derer, die sich radikalisiert haben, sind Konvertiten."
    Wer intervenieren kann und soll, ist umstritten
    Mehreen Farooq forscht und arbeitet für WORDE, eine gemeinnützige Organisation, mit deren Erfolg sich auch die Regierung gern schmückt. WORDE versteht sich als gesellschaftliches Bindeglied, als Treff- und Knotenpunkt des Countys. Im Büro steht eine Couch, es gibt Kaffee und Früchte.
    200 Religionsgemeinschaften und 100 soziale Dienstleister haben Mehreen Farooq und ihre Kollegen so zusammengebracht, ihr Angebot ist für Einheimische und Zugezogene. Wenn eine Gemeinschaft stark ist, glaubt die junge Frau, dann entziehe sie dem Terrorismus den Nährboden. Sie klickt auf ihrem Laptop ein Video an, in dem ein Aussteiger genau das bestätigt. Es ist ein kleiner Ausschnitt aus einem der vielen Workshops und Trainings, die die Organisation veranstaltet. In denen es zum Beispiel darum geht, wie Eltern und Lehrer erkennen können, dass jemand versucht, ihre Kinder und Schüler zu rekrutieren, oder wie Jugendliche lernen, aufmerksam zu werden, wenn sich ihre Freunde verändern.
    "76 Prozent all jener, die sich radikalisiert haben, haben irgendwie gezeigt, dass etwas nicht stimmt."
    Das heißt für sie auch: Man hätte vorher eingreifen können. Doch wer intervenieren kann und soll, ist umstritten. Die Eltern? Ein Imam? Die Freunde? Begibt man sich damit in Gefahr? Oder macht sich gar strafbar?
    Fragen, die auch Salam Al-Marayati beschäftigen. Während sich draußen die Palmen im Wind wiegen, zeichnet der Präsident des "Muslim Public Affairs Council" von Los Angeles mit wenigen Strichen eine Pyramide an die Tafel, die seine Sicht der Dinge veranschaulichen soll. In welchen Stufen sich Jugendliche radikalisieren, welche Rolle Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Diskriminierung spielen. Er deutet mit dem Stift auf seine Zeichnung:
    "Das Problem ist, dass es hier in der Moschee genau eine Person gibt, die sich bei einer Intervention um alles kümmern soll: der Imam. Der ist aber kein ausgebildeter Psychologe und weiß nicht, wie er damit umgehen soll."
    "Hier wird mit zweierlei Maß gemessen"
    Oft genug, sagt er lakonisch, werde gebetet und gehofft, dass sich das Problem von alleine löse. Denn dass es ein Problem gibt, leugnet Salam Al-Marayati nicht. Deswegen unterstützt er die Bemühungen der Stadt Los Angeles, eine starke Gemeinschaft zu bilden, auch grundsätzlich. Dann kneift er die Augen zusammen. Ein "aber" rollt an.
    "Es kommt natürlich drauf an, wie man das ganze Programm sieht. Ob man die Grundthese, es gebe ein Extremismus-Problem, anerkennt oder ob man sagt: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Es gibt seit dem 11. September sehr viel mehr gewalttätige Zwischenfälle rassistischer weißer Gruppierungen als von Muslimen."
    Tatsächlich haben rechts-gerichtete Extremisten laut einer Untersuchung der Denkfabrik New America seitdem doppelt so viele Menschen getötet wie Islamisten. Und eigentlich ist CVE auf jede Art von Extremismus ausgerichtet. Doch in der Öffentlichkeit hat sich ein anderer Eindruck festgesetzt – auch der harte Ton im republikanischen Präsidentschaftswahlkampf hat dazu beigetragen. Deswegen hätten viele Muslime mit CVE und seinen Interventionen auch noch ein ganz anderes Problem, erklärt Al-Marayati:
    "Hier wird ja auch mit einer Art Täterprofil gearbeitet. Wer sich zum Beispiel gegen die Syrienpolitik der USA ausspricht, wird vielleicht gleich verdächtig."
    In einem Punkt aber ist er sich mit Irfan Saeed in Washington einig: Festnahmen tragen nicht zur Lösung des Problems bei. Es muss also einen anderen Weg geben:
    "You cannot arrest your way out of the problem."
    Die Recherchen für diesen Beitrag entstanden während einer Pressereise mit dem US-Außenministerium.