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Anti-Nazi-Essay
Karl Kraus - Kämpfer gegen den Untertanengeist

1933 beobachtete Karl Kraus von Wien aus das Vordringen der Nationalsozialisten. Sein Text zu Hitlers Machtübernahme war bereits im Druck, als er im Sommer die Veröffentlichung stoppte. Nun wird "Die dritte Walpurgisnacht" neu aufgelegt. Ein großer literarischer und scharfsinniger Essay.

Von Otto Langels | 23.03.2015
    "Mir fällt zu Hitler nichts ein. Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem Resultat längeren Nachdenkens und vielfacher Versuche, das Ereignis und die bewegende Kraft zu erfassen, beträchtlich hinter den Erwartungen zurückbleibe."
    Der Anfang der "Dritten Walpurgisnacht" ist eine ironisch gefärbte, maßlose Untertreibung, denn den ersten Sätzen folgen 300 Seiten, ein großer literarischer und scharfsinniger Essay über den Nationalsozialismus. Karl Kraus liefert allerdings keine systematische Untersuchung des NS-Regimes, er gliedert seine Darstellung nicht in übersichtliche Kapitel, sondern kombiniert assoziativ zufällige Beobachtungen, ausführliche Zitate, markante Episoden, schmerzliche Einsichten, sprachliche Analyse und historische Vergleiche. Wie eingangs schon angedeutet verhehlt er nicht, dass ihm regelrecht die Worte fehlen, um das Phänomen Nationalsozialismus adäquat beschreiben zu können.
    "Das ist eine Viechsarbeit, der Untersucher gerät vor dem Schlichtesten an alle Probleme der Logik und der Moral, dass ihm der Atem vergeht, Hören und Sehn, das Lachen, die Lust, und wenn sich die Sprache findet, vergeht sie sich wieder im Irrgarten tausendfacher Antithetik."
    Womöglich verzichtete Karl Kraus deshalb auf eine Veröffentlichung seines Essays in der "Fackel", seiner eigenen Zeitschrift. Er fühle sich wie vor den Kopf geschlagen, bekannte Kraus, ein bemerkenswertes Eingeständnis für diesen wortgewaltigen Einzelkämpfer. Aber den Irrsinn der Nazis konnte er mit sprachlichen Mitteln wie der Satire nicht mehr wirksam bekämpfen – anders als noch in seinem imposanten Antikriegsstück "Die letzten Tage der Menschheit", entstanden 1915 bis '22 unter dem Eindruck des Gemetzels auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Überliefert ist ein Ausschnitt aus einer Lesung 1934, zwei Jahre vor seinem Tod.
    "Sie bekommen unvergessliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre."
    NSDAP - zwischen totschlagen und totschweigen
    Doch was als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg noch funktionierte, die literarische Auseinandersetzung mit den absurden und inhumanen Auswüchsen seiner Zeit, versagte angesichts der braunen Diktatur. Sein Sarkasmus, seine Ironie, sein Hintersinn erschienen ihm stumpf gegenüber einem Regime, das dreist und hemmungslos alles niederwalzte, was sich ihm in den Weg stellte. Über Joseph Goebbels, den Propagandaminister, schreibt Kraus:
    "Er scheint den Mosesstab zu haben, der Wasser aus dem Gestein holt. Er lässt Autoren, Direktoren und Verleger zu sich kommen, weist ihnen Richtungen, Wege und Ziele und erschreckt sie durch die Verheißung, den schreibenden schöpferischen Teilen des Volkes würden so viele Probleme entgegen geschleudert, dass man hundert Jahre daran zu arbeiten habe."
    Trotz der vermeintlichen Sprachlosigkeit ist das, was Kraus ausführt, brillant formuliert. Die "dritte Walpurgisnacht" – eine Anspielung auf die beiden berühmten Walpurgisnächte in Goethes Faust - ist gespickt mit pointierten Aussagen und Anspielungen: Die NSDAP, eine Partei, die grundsätzlich zum Totschlagen neigt, im Ausnahmefall aber das Totschweigen vorzieht; Hitler - ein Mann, dessen Weltbild nicht so sehr durch Freud als durch Karl May geformt scheint; Heidegger - ein Denker, der seinen blauen Dunst dem braunen gleichgeschaltet hat. Aber das Buch ist keine leichte Lektüre. Es ist bisweilen mühsam, manchen geschraubten Formulierungen, langatmigen Ausführungen und assoziativen Gedanken zu folgen. Doch dann schreibt Karl Kraus sich wieder die Empörung von der Seele: Ungläubig registriert er, der Sohn jüdischer Eltern, wie die Nazis in der "dritten Walpurgisnacht" die Ausgrenzung der Juden vorantreiben.
    "Und dann geschah, was allen Vergleich mit einem deutschen Mittelalter zur Lästerung macht. Ein Hexengeifer aus Sexualhass und Erpressung erbrach sich zwischen Nürnberg, Ingolstadt, Mannheim, Worms und Kassel, und aus dem journalistischen Dreck erstand täglich der Pranger der rehabilitierten Rasse und der besudelten Natur. Ein Paar wird im Auto durch die Straßen geführt, mit Tafeln um den Hals: Ich habe eine deutsche Frau entehrt. Ich habe mich einem Juden hingegeben. Man las, mit Namen und Adresse, Notizen des Inhalts: ... Sie besitzt die Frechheit, am Arm des Juden in öffentlichen Lokalen zu erscheinen."
    Im Unterschied zu den meisten Zeitgenossen nahm Karl Kraus schon 1933 die mörderische Dimension des Antisemitismus wahr. Und er erkannte auch, Jahrzehnte vor manchem Sozial- und Wirtschaftshistoriker, die Widersprüche des NS-Regimes:
    "Die Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos, Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen, von allem, was es schon und nicht mehr gibt!"
    "Die dritte Walpurgisnacht" ist ein Beispiel dafür, dass man als aufmerksamer Zeitgenosse bereits 1933 das Wesen des Nationalsozialismus erkennen konnte. Man musste nur, wie Karl Kraus, verfolgen, welche Gesetze und Verordnungen das NS-Regime erließ, was in den deutschen Zeitungen stand und welche Meldungen der Propagandaapparat verbreitete, um sich ein Bild zu machen von der Schreckensherrschaft, die über Deutschland und Europa hereinbrach.
    Karl Kraus: "Die dritte Walpurgisnacht"
    Eingeleitet von Bruno Kern
    Marix Verlag, 360 Seiten, 15 Euro
    ISBN: 978-3-737-40970-4