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Anti-Terror-Einsätze in der EU
"Es gibt immer noch nationalstaatliche Egoismen"

In puncto Sicherheit habe das Schengen-Abkommen sein Versprechen nicht eingelöst, sagte Jörg Radek, Vizechef der Polizeigewerkschaft GdP, im DLF. Das sehe man im Umgang mit dem inzwischen getöteten Terroristen der Paris-Anschläge Abu Oud: Innerhalb Schengens habe es so gut wie keinen Datenaustausch zu Abu Oud gegeben. Das liege an einem nationalstaatlichen Egoismus, sagte Radek.

Jörg Radek im Gespräch mit Jochen Spengler | 20.11.2015
    Jörk Radek blickt in die Kamera, hinter ihm hängt das Logo der Gewerkschaft GdP.
    Jörg Radek, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft der Polizei (GdP). (dpa/Steffen Kugler)
    Jochen Spengler: Spätestens die Terror-Attacken in Paris machen deutlich: Es hapert beim Anti-Terror-Kampf in der EU. Warum? - Das wollen wir nun mit einem Praktiker erörtern, und das ist Jörg Radek, der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei. Seien Sie willkommen, Herr Radek.
    Jörg Radek: Herzlich willkommen.
    Spengler: Herr Radek, der in St-Denis getötete Terrorist Abu Oud, er ist ja offenbar unbehelligt kreuz und quer durch Europa gereist. Als man das grenzenlose Europa eingeführt hat und das Schengen-Regime - ab 1985 war das -, da hieß es, dass das keine Einschränkung der Sicherheit bedeuten würde. Das stimmt ja nicht! Ist Schengen, sind die offenen Binnengrenzen inzwischen ein Sicherheitsrisiko für uns?
    Radek: Ein Teil des Versprechens, was Schengen abgegeben hat, ist nicht eingelöst worden: das Versprechen nach einem Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit. Spätestens bei dem Punkt der Sicherheit hat Schengen dieses Versprechen nicht eingelöst. Und es ist unverständlich! Es muss für den Außenstehenden unverständlich sein, wenn ein Gewalttäter von dieser Qualität quer durch Europa reisen kann und es nicht möglich ist, dass es einen Datenaustausch zwischen den Schengener Mitgliedsstaaten geben kann beziehungsweise dass es keine Informationsweitergabe gibt.
    Kein Datenaustausch in Schengen-Ländern
    Spengler: Woran liegt das denn Ihrer Ansicht nach?
    Radek: Es liegt einmal daran, denke ich, dass Schengen auf einem System der Solidarität basierte, als es geschaffen wurde, und diese Solidarität ist schon in der Geburt eigentlich nicht mit weiterentwickelt worden, und das setzt sich jetzt nach wie vor mit den nationalstaatlichen Egoismen weiter fort. Jede Datenbank ist nur so gut, wie auch die Daten eingegeben werden, dass andere sich an diesen Daten bedienen können und ihre Erkenntnisse daraus ziehen können.
    Spengler: Was würden Sie denn als Dringlichstes vorschlagen, Sie als Polizist, als Praktiker? Was könnte man tun, damit Schengen einigermaßen funktioniert?
    Radek: Wir müssen schauen, dass an der Außengrenze die Kontrollen der Gestalt funktionieren, dass auch diejenigen, für die die Außengrenze geschaffen worden ist, nämlich für die Binnenländer, dass die auch aktiv sich an den Kontrollen einbringen können. Der Nationalstaat organisiert dort die Grenzkontrollen nach seinen Prinzipien. Das müssen nicht die gleichen Prinzipien sein, wie wir sie in den Kernländern Frankreich, Dänemark, Deutschland anwenden. Ich muss eine Möglichkeit haben, wenn ich als deutscher Polizist erkenne an der Außengrenze, nach deutschen Standards würde ich ihn hier nicht einreisen lassen, oder ich würde hier noch weitere Nachfragen haben , hinsichtlich seiner Herkunft, hinsichtlich dem Verbleib seiner Reisedokumente.
    Spengler: Das heißt konkret: Deutsche Grenzschutzbeamte zum Beispiel an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei?
    Radek: Das ist nicht nur ein personelles Problem; es ist zunächst mal auch ein Problem der rechtlichen Ausgestaltung. Und lassen Sie mich das mit einem Beispiel belegen, wo auch mir die Sinnhaftigkeit des politischen Handelns zurzeit überhaupt nicht eingängig ist. Wenn der schwedische Ministerpräsident fordert, dass er demnächst nur noch Einreisen mit biometrischen Pässen für sich in Schweden gültig machen will - 70 Prozent derjenigen, die zurzeit über die deutsch-österreichische Grenze kommen, haben gar keine Pässe -, dann merkt man, dass das Wissen voneinander überhaupt nicht vorhanden ist. Daran müssen wir auch arbeiten, wenn wir die Solidarität wiederherstellen wollen.
    Spengler: Aber um noch mal auf die Frage zu kommen: Heißt das, dass man im Prinzip auch deutsche Bundesgrenzschutzbeamte, also die heutige Bundespolizei, an die Grenzen, an die Außengrenzen nach Italien, nach Griechenland, wo auch immer hinschicken sollte?
    Radek: Das macht nur einen Sinn, wenn auch rechtlich die Möglichkeit besteht, dort als deutscher Polizist handeln zu können. Es macht keinen Sinn, das ist zu wenig, zur jetzigen Lage ist es zu wenig, dass die nur Berichterstatter werden über etwaige Migrationsströme und womöglich etwaige Gefährdergruppen. Das wäre viel zu wenig. Da würden wir wiederum Personal an einer völlig falschen Stelle verschleißen.
    Spengler: Das heißt, aber doch, dass die Forderung, die Sie gerade vor zwei Minuten selber aufgestellt haben, eigentlich völlig irreal ist, dass man gar nicht damit rechnen kann, dass Deutsche da irgendwo an die Grenzen kommen.
    Radek: Voraussetzung wäre, wenn dort das Recht so geschaffen würde, dass wir auch handeln könnten.
    Spengler: Sehen Sie dafür irgendeinen Anhaltspunkt?
    Radek: Das ist das Problem. Darauf, glaube ich, ist auch gerade dieser innereuropäische Konflikt aufgebaut, dass es immer noch zu stark die nationalstaatlichen Egoismen gibt, etwas an die EU abzugeben, um auch ein Handeln möglich zu machen. Da können wir jetzt Konferenzen einberufen so viel wir wollen; das fängt an zu ärgern. Es ärgert die Kollegen auch, dass diese Konferenzen abgehalten werden und nichts Greifbares für sie dabei herauskommt.
    "Europa bietet zurzeit zu viele Widersprüche, als dass es Lösungen anbietet"
    Spengler: Jetzt erleben wir ja in den letzten Monaten bei der Flüchtlingskrise, dass die nationalen Egoismen nicht etwa abgebaut werden, was nötig wäre, sondern im Gegenteil noch zunehmen. Müssen wir dann uns nicht irgendwann der Realität stellen und sagen, dass die EU, diese Konstruktion, die wir uns erträumen, erwünschen, dass die nicht mehr zu haben ist?
    Radek: Ich erlebe es als einen ganz krassen Widerspruch. Auf der einen Seite richtet man wieder ein Europa der Schlagbäume auf und auf der anderen Seite vereinbart man, dass man sich viel mehr wieder Daten sammeln muss, Fluggastdaten etc. pp. Das ist auch ein Widerspruch in sich und daran muss Europa arbeiten. Europa bietet zurzeit zu viele Widersprüche, als dass es Lösungen anbietet.
    Spengler: Jetzt haben ja die Holländer zum Beispiel vorgeschlagen, man solle zurück zu einem Mini-Schengen, so wie es am Anfang 1985 war: Beneluxstaaten, Frankreich, Deutschland. Das habe einigermaßen funktioniert. Halten Sie so ein Gesundschrumpfen für sinnvoll?
    Radek: Es wäre ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, was wir ja auch schon diskutiert haben. Wenn es hilft, einen Beitrag zur inneren Sicherheit zu leisten, wenn es hilft, dass wir die Freizügigkeit, die wir ja als Erfolg erlebt haben - und darum geht es mir, dass diese Freizügigkeit erhalten bleibt -, wenn das ein Lösungsansatz sein soll, dann ist das ein Diskussionsbeitrag, über den man sprechen muss.
    Spengler: Das war Jörg Radek, der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei. Herr Radek, herzlichen Dank für dieses Gespräch heute Mittag bei uns.
    Radek: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.