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Antieuropäische Stimmung
"Die bulgarische Kulturszene kapselt sich ab"

In Bulgarien sehen viele Künstler die nationale Identität gefährdet - unter anderem durch die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen. Frankreich und Deutschland werden als Unterdrücker gesehen. Ein Problem: Die Künstler nehmen sich nicht als gleichberechtigten Teil der europäischen Kulturszene wahr.

Von Mirko Schwanitz | 30.12.2018
    Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov.
    Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov. (Deutschlandradio - Philipp Eins)
    Wenn es um die Ablehnung von Flüchtlingen geht, kann sich Bulgariens Regierung auf einen breiten Konsens in der Gesellschaft stützen. Unter Hinweis auf die 500 Jahre währende osmanische Fremdherrschaft warnen Politiker seit langem vor einer neuen muslimischen Gefahr und appellieren so an uralte Ängste der Bulgaren. Dabei können sie sich der Zustimmung vieler Künstler sicher sein. Auch der des Schriftstellers und Theaterdramaturgen Andrej Sekulov: "Wir haben geglaubt, dass wir nach dem Sozialismus in einem anderen Europa leben werden. Der Umgang mit der Verteilung der Flüchtlinge aber hat gezeigt, dass das, was wir heute haben, nichts anderes ist als eine mutierte Variante sozialistischer Planung."
    Wer die Äußerungen bulgarischer Intellektueller in Talkshows oder auch Zeitungen verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass sich die Bulgaren nicht als gleichberechtigte Europäer fühlen. Äußerungen wie die von Andrej Sekulov befeuern eher eine wachsende Anti-EU-Stimmung. "Was passiert hier? Deutschland und Frankreich als große Wirtschaftsmächte saugen die kleineren Ökonomien aus, stehlen unser biologisches Potential. Die von Frau Merkel betriebene Unterdrückung nationaler Identitäten ist eine Sünde. Und dann lud sie jede Menge Mohammedaner nach Deutschland ein. Und um dorthin zu gelangen, hat diese Meute 15 Länder niedergetrampelt."
    "Künstler nehmen nicht an politischen Debatten teil"
    Mit Unruhe beobachtet Svetlana Kuyumdzhieva, wie bedenkenlos namhafte Künstler wie Sekulov den Wortschatz europäischer Populisten übernehmen. Sie kuratiert das Europäische Kulturhauptstadtprogramm Plovdiv 2019. Svetlana Kuyumdzhieva: "Leider nimmt die Mehrheit der zeitgenössischen bulgarischen Künstler nicht an den politischen Debatten unserer Zeit teil. Sie reflektieren die wirklichen Probleme der Gesellschaft viel zu selten und sind auch sozial oder politisch weniger engagiert als andere Künstler in Osteuropa."
    Über die Ursachen macht sich Svetlana Kuyumdzhieva schon lange Gedanken. Schon 2009 organisierte sie für die Plovdiver Woche der zeitgenössischen Kunst eine Ausstellung, die sich mit der Verantwortung von Künstlern in einer globalisierten Welt befasste. "Ich habe das Gefühl, dass sich viele bulgarische Künstler nicht als Teil der europäischen Kunstszene begreifen. Die Freiheit der Kunst scheint mir deswegen weniger durch politische Interventionen gefährdet, als durch die konservative Haltung unserer Künstler und ihre Selbstzensur."
    "Bulgarische Kulturszene ist selbstbezogen"
    Auch der Schriftsteller Georgi Gospodinov ist dieser Meinung: "Es gibt klare Anzeichen, dass sich die bulgarische Kulturszene von Europa abkapselt. Sie ist derart selbstbezogen, dass sie die Desintegrationsprozesse in Europa überhaupt nicht interessiert. Möglich, dass das auch anderswo in Osteuropa so ist, aber am deutlichsten zu beobachten ist dieser Prozess zurzeit in der bulgarischen Kulturszene."
    Die Folgen, so Gospodinov: Die Künstler fielen als Seismografen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen weitgehend aus. Schlimmer noch: Viele beförderten sogar nationalistische und populistische Töne. "Die Zahl von national-historischen, auch nationalistischen Romanen nimmt zu. Die Stimmen gegen Ausländer, Roma und andere Minderheiten auch. Ein Anti-Humanismus macht sich breit. In dieser Situation sehe ich die Verantwortung eines Schriftstellers darin, denjenigen das Wort zu erteilen, deren Stimmen unterdrückt werden und die Geschichten derjenigen zu erzählen, die die meisten am liebsten nicht hören möchten. Wir müssen die Grenzlinie sichtbar machen – hinter der alles Menschliche zu verfallen beginnt."