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Antifranzösisches Pamphlet

Als die Franzosen vor einem knappen Jahr in einer Volksabstimmung den europäischen Verfassungsentwurf ablehnten, geriet der Berliner Finanzwissenschaftler Markus C. Kerber außer sich. Der Anti-Franzose wollte beim Frankfurter Suhrkamp Verlag ein Buch unter dem Titel "Europa ohne Frankreich?" herausbringen. Die Lektoren ließen das Manuskript fünf Jahre lang liegen und teilten Kerber dann mit, es sei nicht mehr aktuell. Der zog daraufhin vor Gericht und erstritt die Veröffentlichung. Nun also ist Kerbers Polemik auf dem Markt, und Albrecht Betz hat sie gelesen.

Von Albrecht Betz | 10.04.2006
    Als Jurist mit deutscher und französischer Ausbildung, als Absolvent der Pariser Kaderschmiede ENA, der berühmten Ecole Nationale d’Administration, als Berater von Firmen beider Länder, hat Markus C. Kerber Verhaltensweisen und Mentalitäten bestimmter Kasten von innen kennen gelernt. Das führt zu einem anderen Blick als dem von Essayisten und Feuilletonisten, die - davon ist er überzeugt - den offenkundigen Reizen, dem Raffinement der "civilisation francaise", allzu leicht erliegen. Erlaubt aber diese andere Sicht auf die "Französischen Zustände" jenen Grad von Verallgemeinerungen, zu denen der Autor neigt? Anders gesagt: Wird die Unterscheidung durchgehalten zwischen jener Pariser Oligarchie, jenen 10.000 Angehörigen eines Elitekartells, dem es nur um die eigene Machterhaltung gehe, und den Franzosen, die ihren kritischen und rebellischen Geist in kurzen Abständen immer wieder in die Öffentlichkeit und auf die Straßen tragen, die Offenheit, Witz und Diskussionslust praktizieren, unter freiem Himmel? Die Aufhebung des Kündigungsschutzes sofort als ein ebenso materielles wie psychologisches Problem begriffen haben, denn es würde die jungen Leute zwingen zum Kuschen um jeden Preis? Wie stehen die Deutschen da in diesem Punkt? Wäre nicht eher Grund zur Freude, dass es die Franzosen gibt in Europa? Selbst wenn sie bei ihrem Referendum mehrheitlich - jedenfalls vorerst - gegen eine europäische Verfassung optierten? Soviel zur Schwierigkeit mit einem Titel wie "Europa ohne Frankreich", wenn damit die Pariser "Oligarchie" gemeint ist.

    Welches sind die Hauptthesen in Kerbers von ihm selbst als Pamphlet bezeichneten Schrift, der es an polemischen Ausfällen und Überspitzungen nicht mangelt? Da ist zunächst das Festhalten an der französischen Ausnahmestellung, der "exception francaise", einer Art säkularisierter Auserwähltheitsvorstellung, verbunden mit dem daraus abgeleiteten absoluten Vorrang nationaler Interessen - so, wie die Oligarchie sie versteht und sich mit ihnen identifiziert. Der Widerstand gegen die Globalisierung, das Festhalten an einem längst toten Staatskapitalismus sei, so Kerber, genauso Illusion, wie umgekehrt der Glaube an eine noch immer universelle Strahlkraft der französischen "Ideen".

    Dem hohen rhetorischen Rang der Gleichheit stehe in Frankreich eine Praxis bizarrer Ungleichheit gegenüber, ein System kaum mehr überschaubarer Privilegien; eine schleichende Refeudalisierung mithin, bei weiterlaufenden jakobinischen Tiraden. All dies hindere die Oligarchie nicht, so Kerber, eine Hegemonialstellung in Europa anzustreben oder, soweit sie bereits besteht (etwa in den Brüsseler Institutionen), zu verteidigen: Völlig kontraproduktiv vor dem Horizont des europäischen Einigungsprozesses. Die deutsche Bereitschaft, derlei zu akzeptieren, der Verzicht auf Politik im Sinn angemessener Wahrung eigener Interessen, sei Folge des schlechten Gewissens gegenüber Frankreich - seit dem letzten Krieg.

    Weit origineller und die eigentlich starken Teile des Buches sind die Diskussionen zur staatlichen und zur präsidialen Souveränität seit dem Maastricht-Vertrag: Hier ist der Jurist in seinem Element und kann neu sichtbar werdende Probleme aus ungewohnten Perspektiven beleuchten. Wo hingegen versucht wird, kulturelle oder kulturpolitische französisch-deutsche Reliefs zu entwerfen, wirkt vieles eher angelesen und willkürlich zusammengefügt.

    Spitzt man Pro und Kontra dieses Buches zu, ergibt sich: Die Insider-Beobachtungen und Analysen von Denkweisen und Verhalten des Pariser "Elitekartells" lohnen die Lektüre ebenso wie die Erörterung der erwähnten Probleme der Souveränität. Hingegen sind die Gegenüberstellungen von Französischem und Deutschem oft ressentimentgeladen und erinnern nicht selten an die "Wesensschau" der Zwischenkriegszeit, die einen "Nationalcharakter" deutend erkennen wollte.

    Markus C. Kerber: Europa ohne Frankreich?
    Deutsche Anmerkungen zur französischen Frage
    Edition Suhrkamp, Frankfurt 2006, 221 Seiten, 9,50 €