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Antihelden der Finanzkrise

Die Geschichte der Finanzkrise mag noch jung sein - aber sie ist so spektakulär, dass sie facetten- und kenntnisreich erzählt werden kann. Der kalifornische Publizist Michael Lewis fragt in seinem Buch nach den Akteuren dieser Krise und nach den Verantwortlichen, die die Blase immer weiter aufblähten, bis sie schließlich platzte.

Von Katja Ridderbusch | 23.08.2010
    Michael Lewis hatte schon immer ein Herz für unkonventionelle Geschichten. Mit seinem Buch "Wall Street Poker" sezierte er den Börsenboom der 80er-Jahre, mit seinem Football-Bestseller "The Blind Side" lieferte er die Vorlage für den Oscar-prämierten Film mit Sandra Bullock. In "The Big Short", seinem neuesten Werk, interessiert er sich nicht für den chronologischen Ablauf der Ereignisse, die detaillierte Analyse des Zusammenbruchs oder die Einordnung in Täter und Opfer. Vielmehr bedient sich Lewis eines zwar nicht ganz neuen, aber dennoch höchst wirkungsvollen Tricks: Er erzählt die Geschichte der großen Krise aus der Sicht einiger weniger Individuen. Seine Protagonisten sind allesamt sture Außenseiter an der Wall Street. Sie erkennen den Wahnsinn des überhitzten und faulen Marktes früher als andere, wetten auf dessen Zusammenbruch - und verdienen damit Millionen. Was sind sie also, Helden oder Antihelden?

    "Sie sind jedenfalls ungewöhnliche Helden. Wenn alle an der Wall Street die Realität so gesehen hätten wie meine Protagonisten, dann wäre es nie zur Finanzkrise gekommen. Aber sie wären eben auch nicht reich geworden."
    Die Hauptfiguren in "The Big Short" – was so viel heißt wie "Der große Leerverkauf" - sind alles andere als Sympathieträger. Neben einem kühlen Realismus verbindet sie vor allem eines: der Mangel an sozialer Kompetenz. Da ist zum Beispiel Steve Eisman, Finanzanalyst mit schlechten Manieren, provokantem Pessimismus und einem scharfen Verstand. Oder Michael Burry: ein ehemaliger Arzt, der den Job wechselt und Hedge-Fund-Manager wird. Burry leidet unter einer milden Form des Autismus und mischt sich deshalb nicht gerne unter Menschen. Stattdessen studiert er, sorgfältig und ein bisschen besessen, die Broschüren über Subprime-Kredite, also Kredite zweiter Wahl – und sieht hinter den schillernden Zahlen die Gewitterwolken der kommenden Katastrophe. Für Autor Lewis ist Burry der anständigste unter seinen Protagonisten, ein Einäugiger unter Blinden - und zwar im Wortsinn:

    "Der der einzige, der während der Krise wirkliches Vertrauen ausstrahlte, war ausgerechnet ein Typ mit Asperger-Syndrom und Glasauge. Er wurde zum moralischen Zentrum der Geschichte."
    Aus der Perspektive dieser zweifelhaften Helden entfaltet sich dem Leser die absurde Logik eines wahnwitzigen Systems: Der Hype von minderwertigen Immobilienkrediten, Kreditausfall-Versicherungen, die die Schrottanleihen klonen und die Blase weiter aufblähen. Rating-Agenturen, die mit dem Gütesiegel "Triple A" gleichzeitig ihren Segen für das toxische Geschäft geben. Schließlich die Wetten auf den Kollaps des Marktes - und am Ende der Kollaps selbst. Doch Michael Lewis teilt das Personal seines Finanzlehrstücks nicht in Bösewichte und Wohltäter auf. Seine Helden sehen das Desaster kommen, warnen davor und werden gerade dadurch zu Krisengewinnlern, zu Profiteuren des Crashs. Und selbst die Spekulanten und Investmentbanker, die das Kreditmonster überhaupt erst züchten und immer weiter mästen, werden dabei nicht wirklich von krimineller Energie getrieben, meint Lewis. Sondern?

    "Es war weniger eine Geschichte von systematischen Verbrechen als vielmehr von systematischem Wahn. Die Akteure an der Wall Street setzten sich die Fakten der Finanzwelt zu einem hübschen, schillernden Bild zusammen, das aber leider eine Täuschung war. Warum sie das taten? Ganz einfach, weil all die Verlockungen, all das Geld sie blind für die einfachen und offensichtlichen Tatsachen machten."
    Vielleicht sind Verblendung und Dummheit noch schlimmer als Schurkentum. Das zumindest legt die Lektüre von "The Big Short" nahe. Schließlich mag auf die meisten Leser zutreffen, was Lewis über zwei seiner Protagonisten schreibt:

    Sie hatten irgendwie immer angenommen, dass es dort draußen ein paar Erwachsene gab, die das Finanzsystem überwachten und die wussten, was sie taten. Aber dann wurde ihnen klar, dass es so jemanden nicht gab.

    "The Big Short" stieß in den USA auf selten einhellige Begeisterung. Die "New York Times" vergleicht Michael Lewis' farbenreiche Erzählung mit der Prosa des Schriftstellers Tom Wolfe. Die "Washington Post" schreibt, das Buch lese sich "stellenweise wie ein Moralstück, stellenweise wie eine moderne Farce" – und sei die wohl treffendste Beschreibung dessen, was an der Wall Street schiefgelaufen ist. Haben Politik und Finanzwelt mittlerweile wirksame Reformen eingeleitet? Michael Lewis hat früher selbst als Broker an der Wall Street gearbeitet. Nach dieser Erfahrung – und nach seinen Recherchen für "The Big Short" ist ihm der Optimismus wohl ein wenig abhanden gekommen.

    "Ich sehe keinen wirklichen Wandel. In gewisser Weise ist es heute sogar schlimmer als früher. Früher haben die Firmen an der Wall Street mit dem Geld der Aktionäre gespielt. Heute spielen sie mit dem Geld, das ihnen von den Steuerzahlern garantiert wird. Man kann nur ahnen, welche Risiken sie bereit wären einzugehen."

    Katja Ridderbusch über Michael Lewis: The Big Short. Inside the Doomsday Machine. Erschienen ist das Buch im Verlag W. W. Norton and Company: New York. Es hat 266 Seiten und kostet ca. 17,95 Euro, ISBN: 978-1-846-14257-4.