Freitag, 19. April 2024

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Bundesbeauftragter für jüdisches Leben
"Antisemitische Bedrohung kann nicht mehr verneint werden"

Der Verfassungsschutz habe den rechtsextremistischen Terror in der Vergangenheit unterschätzt, sagte Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung im Dlf. Klein forderte mehr "repressive und präventive Maßnahmen", antisemitische Straftaten sollten künftig eigener Straftatbestand werden.

Felix Klein im Gespräch mit Sebastian Engelbrecht | 26.01.2020
Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, während der Bundespressekonferenz zum Thema Juedisches Leben in Deutschland - 21.01.2020
Zeigt sich zuversichtlich, dass der Antisemitismus in Deutschland überwunden werden kann: Felix Klein (imago images / IPON)
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, will alles tun, um jüdisches Leben in Deutschland zu erhalten. Im Interview der Woche mit dem Deutschlandfunk sagte Klein, es gebe unter Jüdinnen und Juden im Lande eine "große Bereitschaft zu bleiben". Diese ließen sich vom wachsenden Judenhass nicht einschüchtern, sagte der Beauftragte der Bundesregierung angesichts von Diskussionen innerhalb der jüdischen Gemeinden, ob man Deutschland verlassen solle.
Anschlag auf Synagoge in Halle ein "Einschnitt"
Klein zeigte sich zuversichtlich, dass der Antisemitismus überwunden werden könne. Bei der Überwindung konfessioneller Vorurteile sei dies auch gelungen. Es sei eine "absolute Erfolgsgeschichte", dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland heute wieder so stark geworden seien.
Den Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober nannte Klein einen "Einschnitt". Die deutsche Gesellschaft müsse sich bewusst werden, dass antisemitische Angriffe sie als ganze bedrohten. Man müsse nun eine gute Kombination aus "repressiven und präventiven Maßnahmen" gegen den Judenhass finden.
Antisemitismus als eigener Strafbestand
Die Bundesregierung plane, antisemitisch motivierte Straftaten ausdrücklich als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Dies solle "handlungsleitend" für Richter, Staatsanwälte und die Polizei werden. Gerichten solle künftig die Möglichkeit gegeben werden, solche Taten hart zu ahnden. "Wir müssen unsere Instrumente schärfen, damit aus Gedanken nicht Taten werden können", sagte Klein.
Der Antisemitismusbeauftragte kritisierte, der Verfassungsschutz habe den rechtsextremistischen Terror in den vergangenen Jahren unterschätzt und "viel zu stark" auf islamistische Gefahren geblickt. Deshalb werde der Dienst jetzt personell verstärkt.
Klein regte an, auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) solle einen Antisemitismusbeauftragten ernennen. Es sei nicht zu akzeptieren "was jeden Samstag in den Fußballstadien los ist", erklärte Klein im Blick auf antisemitische Haltungen und Parolen von Fans.

Engelbrecht: Herr Klein, am 27. Januar vor 75 Jahren befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Diesem Gedenktag gilt in Deutschland große Aufmerksamkeit. Die Stimmung im Umfeld dieses Gedenktages in diesem Jahr ist aber nicht ruhig, sondern nervös. Wir haben genau vor einem Jahr an dieser Stelle miteinander gesprochen. Seither ist viel passiert. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober, der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni, von einem Rechtsextremisten begangen, und unzählige, alltäglich gewordene Angriffe auf Juden in diesem Land, ganz zu schweigen von den allgegenwärtigen antijüdischen Hassbotschaften im Internet. Jeder vierte Deutsche neigt zu antisemitischen Denkmustern, so das Ergebnis einer Umfrage des Jüdischen Weltkongresses vom Oktober. Was tun Sie, Herr Klein, um diesen Antisemitismus in Deutschland unter Kontrolle zu bringen?
"Antisemitische Angriffe bedrohen uns alle"
Klein: Wir müssen dafür sorgen, dass die Gesellschaft in Deutschland sich bewusst wird, dass diese antisemitischen Angriffe und auch diese negativen Einstellungen uns alle bedrohen und nicht nur die jüdische Gemeinschaft in diesem Land. Das ist eine komplexe Aufgabe, die ich habe. Wir müssen deswegen eine gute Kombination finden zwischen repressiven und präventiven Maßnahmen. Im repressiven Bereich, glaube ich, ist es wichtig, dass wir das Strafrecht noch einmal schärfen, den Straftatbestand der Volksverhetzung noch einmal uns anschauen. Das zeigt ja auch die beiden Fälle, die Sie genannt haben, Halle und das Attentat auf Regierungspräsident Lübcke. Das ist ja in beiden Fällen von Tätern gemacht worden, die sich im Internet geäußert haben, die volksverhetzende Inhalte verbreitet haben im Internet und dann zur Tat geschritten sind –also, das ist nicht nur bei diesen Mails geblieben, sondern die sind dann wirklich zur Tat geschritten. Und ich glaube, wir müssen unsere Instrumente schärfen und auch das schon unter Strafe stellen, damit eben aus Gedanken nicht Taten werden können.
Engelbrecht: Können Sie die statistischen Ergebnisse des Jüdischen Weltkongresses im Blick auf Judenhass in Deutschland bestätigen?
Klein: Ich kann die Ergebnisse bestätigen, ja, leider, muss ich sagen. Und der Israel-bezogene Antisemitismus, den Sie gerade nicht erwähnt haben, der ist noch viel höher. Das sind nämlich 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben antisemitische Einstellungen gegenüber Israel. Also, dass zum Beispiel das NS-Regime gleichgesetzt wird mit der israelischen Regierung, auch das, was die israelische Besatzung alles so zur Folge hat, wird verglichen mit der Besatzung der Wehrmacht in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg. Das sind alarmierende Zahlen. Und das müssen wir angehen.
"Wichtig, Verfassungsschutzorgane personell zu verstärken"
Engelbrecht: Der Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober, am jüdischen Versöhnungstag bedeutet aus meiner Sicht eine historische Zäsur in der Geschichte der Gewalt gegen Juden in Deutschland nach der Schoa. Was hat die Bundesregierung seither unterm Strich unternommen, damit so etwas nicht wieder geschieht?
Das Bild zeigt die Synagoge in Halle mit der Kuppel und einem Davidstern auf der Spitze.
Die Synagoge in Halle wurde am 9. Oktober 2019 Ziel eines Anschlags, nur durch eine verriegelte Tür konnte ein Massenmord an den Gläubigen verhindert werden. (imago / Köhn)
Klein: Die Bundesregierung hat Ende Oktober ein Maßnahmenpaket verabschiedet, das jetzt umgesetzt wird. Ganz wichtiges Element darin ist, dass die Betreiber von Internetplattformen verpflichtet werden, nicht nur antisemitische Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu löschen, sondern auch die IP-Adressen der Leute mitzuteilen, die das verbreitet haben und dann an die Polizei und dann auch an die Staatsanwaltschaft herauszugeben.
Das halte ich für ein ganz wichtiges Element. Und davon verspreche ich mir große Erfolge im Kampf gegen Antisemitismus. Auch ist sehr wichtig, dass die Verfassungsschutzorgane personell verstärkt werden. Ich glaube, in den letzten Jahren haben wir den rechtsextremistischen Terror absolut unterschätzt, uns viel zu stark auf islamistische Gefahren konzentriert beim Verfassungsschutz. Ich bin sehr froh, dass der Innenminister jetzt angekündigt hat eine personelle Verstärkung, dass wir das eben auch noch mal genau in den Blick nehmen.
Engelbrecht: In welchem Ausmaß?
Klein: So, wie ich verstanden habe, insgesamt 2.000 Menschen. Und zwar, dass man personell absolut gleichzieht mit dem, was die islamistische Gefahr angeht.
Wort antisemitisch im Strafgesetzbuch
Engelbrecht: Gibt es noch weitere konkrete Konsequenzen?
Klein: Ja, der Paragraph 46, Absatz 2 des Strafgesetzbuches wird erweitert. Das ist eine Strafzumessungsregel, die Gerichten die Möglichkeit gibt, Straftaten besonders hart zu ahnden, wenn sie aus politischer Hassmotivation begangen sind. Das wurde eingeführt, diese Vorschrift, nach den NSU-Morden. Und da steht eben drin, dass das hart geahndet werden kann, zum Beispiel Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen, wenn sie aus ausländerfeindlichen, rassistischen oder sonstigen menschenverachtenden Motiven passieren.
Auf meinen Vorschlag hin hat jetzt die Bundesjustizministerin zugestimmt, eine Erweiterung vorzunehmen und auch das Wort "antisemitische Motive" hineinzunehmen. Das wird handlungslenkend wirken für Richter, Staatsanwälte und die Polizei. Es ist ein ganz wichtiges Signal für die jüdische Gemeinschaft in unserem Land und ist zum ersten Mal auch jetzt, dass wir das Wort antisemitisch oder Antisemitismus im Strafgesetzbuch haben. Das halte ich für einen Durchbruch.
Engelbrecht: Sie nennen viele Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreift. Und doch hat man immer wieder das Gefühl, es reicht nicht aus. Die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, hat Anfang Januar gesagt, täglich spreche sie mit Juden und Jüdinnen, die das Land verlassen wollen. Und, wenn die AfD in einem Bundesland an die Macht komme, dann sagt der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, dann werde er Deutschland verlassen. Können Sie diese Position akzeptieren?
"Alles tun, um jüdisches Leben in Deutschland zu erhalten"
Klein: Solche Aussagen müssen uns alarmieren und die müssen wir sehr ernst nehmen. Ich glaube wirklich auch, dass Halle – Sie sagten ja schon, da kann ich Ihnen nur zustimmen – einen Einschnitt bedeutet, nachdem die antisemitische Bedrohung auch von niemandem in Deutschland nun wirklich jetzt mehr verneint werden kann – das ist ganz handfest Realität in Deutschland. Und am Ende sind ja gar nicht Juden zu Tode gekommen, sondern zwei unbeteiligte Passanten. Das müssen wir uns auch noch mal klar machen. Wir sollten das ernst nehmen, sollten aber auch klar machen der Gesellschaft in Deutschland, wie bereichernd jüdisches Leben ist, wie alarmierend es wäre, wenn das eben nicht mehr fortgesetzt werden könnte in der Art und Weise, wie es wächst.
Es ist ja überhaupt ein Wunder, dass jüdisches Leben in solcher Vielfalt existiert in Deutschland, wenn man sich die Situation 1945 noch einmal vor Augen führt, wo Leo Baeck, der berühmte Rabbiner, bei seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt gesagt hat: "Die Epoche der Juden in Deutschland ist allemal vorbei.". Und das wollen wir doch nicht, dass die Nazis am Ende Recht bekommen würden. Deswegen müssen wir alles tun, um jüdisches Leben zu erhalten. Es ist nicht nur im Interesse der jüdischen Gemeinschaft, sondern im Interesse von uns allen. Das ist Teil unserer deutschen kulturellen Identität, der Vielfalt. Und das wollen wir auch feiern.
Plan des jüdischen Viertels, Rathausplatz in Köln, NRW.
Köln: Die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen lebt
Mit den Römern kamen vor fast 2000 Jahren die ersten Juden in die Stadt am Rhein: als deren Sklaven und als freie römische Bürger, Gewerbetreibende und Lehrer. Die jüdische Gemeinde in Köln gilt als die älteste nördlich der Alpen. Das Museumsprojekt Miqua erinnert an die lange Geschichte.
Im kommenden Jahr werden wir ein deutsch-jüdisches Jubiläumsjahr begehen. 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland wird gefeiert. Das bezieht sich auf ein Dekret des Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321, das die jüdische Gemeinde in Köln betrifft. Und das nehmen wir zum Anlass für eine Vielzahl von Maßnahmen, Konzerten. Jüdische Museen machen Ausstellungen. Es wird ein Gastronomieführer entstehen. Auch werden wir das weltgrößte Laubhüttenfest in Deutschland feiern. Es ist doch ganz wichtig, dass die Menschen, wenn sie an Juden denken, nicht immer nur an den Holocaust denken oder den Nahostkonflikt oder antisemitische Vorfälle, sondern eben auch das positiv konnotiert wird. Ich verspreche mir sehr viel von diesem deutsch-jüdischen Jubiläumsjahr.
Engelbrecht: Wie ist Ihre Kommunikation eigentlich mit Jüdinnen und Juden? Bekommen Sie da Post? Bekommen Sie da E-Mails, Anrufe von Jüdinnen und Juden in Deutschland, die sagen, wenn das so weitergeht, verlasse ich dieses Land?
Klein: Ich führe viele Gespräche mit Jüdinnen und Juden – natürlich, weil ich auch übrigens sehr gerne selber auch in Kulturveranstaltungen oder auch mal in jüdische Gottesdienste natürlich gehe. Ich war auch auf dem Gemeindetag jetzt, der kurz vor Weihnachten stattfand, den der Zentralrat der Juden in Deutschland mit großem Erfolg durchgeführt hat und der übrigens das Motto hatte "In Deutschland zu Hause". Juden lassen sich eben nicht einschüchtern. Das ist auch ein wichtiges Zeichen. Und ich nehme auch wahr, dass eine große Bereitschaft doch auch da ist, hier zu bleiben, sich zu öffnen.
Das ist auch ein wichtiges Merkmal, das ich jetzt gesehen habe, dass jüdische Gemeinden und auch sonstige Institutionen stärker als früher bereit sind, sich zu öffnen, das Judentum auch bekannter zu machen, auch Menschen einzuladen in die Synagogen, die sonst vielleicht nicht hinkommen würden, auch einer Schulklasse mal zu zeigen, wie das aussieht. Das halte ich für ganz wichtig. Und solche Maßnahmen bespreche ich auch mit jüdischen Verbänden, Organisationen und Gemeinden.
Engelbrecht: In Gedenkstätten, wie dem ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen hört man, da bezweifeln Schülerinnen und Schüler neuerdings häufiger die Richtigkeit der Zahlen der Opfer des NS-Regimes. So hat das der Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, Jens-Christian Wagner, gesagt. Er stellt eine Verschiebung des Sagbaren nach rechts fest und führt das auf die stärker werdende AfD zurück. Teilen Sie diese Analyse?
"Müssen Verrohung der politischen Kultur benennen"
Klein: Ich teile die Analyse, dass diese Grenzen des Sagbaren verschoben wurden, ja. Und die AfD hat in großem Maße dazu beigetragen durch ihre Angriffe auf die Erinnerungskultur. Aber hinzu kommen auch Entwicklungen im Internet, in den sozialen Medien, wo Fake News ja sehr verbreitet sind und wo eben auch falsche Zahlen kursieren und dann den Leuten geglaubt wird. Ich stelle fest, dass Schülerinnen und Schüler dem Internet mehr glauben als ihren Lehrern. Und dem müssen wir entgegenwirken und die Verrohung der politischen Kultur und des Umgangs benennen und dieser entgegenwirken und das eben auch bei der AfD ganz klar benennen.
Engelbrecht: Sie antworten Mut machend. Auf der anderen Seite gibt es so viel an Einwänden, die ich dann doch wieder bringen muss, was ich selbst bedaure. Ich höre von Juden in letzter Zeit immer wieder den Satz, den Antisemitismus werde es immer geben, einen Satz, den ich so früher nicht gehört habe. Sie sagen dann, der Antisemitismus lasse sich einfach nicht ganz aus der Welt schaffen. Was denken Sie darüber, wenn Sie das hören?
Die Synagoge in der Oranienburger Strasse in Berlin, spiegelt sich in einem gegenueberliegenden Fenster.
Jüdisches Leben in Berlin: Alltäglicher und organisierter Antisemitismus
Was hat Berlin, angeblich eine tolerante Stadt, mit dem Anschlag von Halle zu tun? Die Lage ist ernst. Auch in der Hauptstadt. Die Stimmung bei Berliner Juden pendelt zwischen Bestürzung und Kampfbereitschaft. Eine Forderung: Die Bundesregierung soll mehr gegen Antisemitismus tun.
Klein: Es bedrückt mich, so eine Aussage. Die ist aber nicht im luftleeren Raum entstanden. Wir müssen uns noch mal klar werden, dass antisemitische Bilder und Traditionen kulturprägend waren leider in Deutschland. Wichtige Persönlichkeiten in unserer Geschichte haben sich antisemitisch geäußert. Immanuel Kant zum Beispiel hat in einer Schrift 1798 die "Euthanasie des Judentums" gefordert, Martin Luther in seiner unsäglichen Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" schlimme Dinge verbreitet. Der Dichter der deutschen Nationalhymne, Hoffmann von Fallersleben, war Antisemit.
Also, das ist schon wirklich sehr bedrückend, was da ist. Aber ich glaube, auch da möchte ich Mut machen, es ist ja nie zu spät, gegen Antisemitismus vorzugehen. Wir müssen das benennen, auch ehrlich im Umgang sein. Das ist, finde ich, gelungen. Auch durch die Einrichtung meines Amtes zeigt die deutsche Politik ja: Wir haben ein großes Problem in Deutschland und müssen das systematisch und koordinierter angehen als bisher.
Dass unsere Gesellschaft in der Lage ist, auch so kulturprägende, negative Entwicklungen zu überwinden, hat sie doch gezeigt zum Beispiel in der Überwindung des Hasses gegen Frankreich. Erbfeindschaft. Diese absurde Vorstellung, dass ich die Feinde erbe von meinen Vorvätern und dann gegen Frankreich vorgehe, das ist doch absolut überwunden. Es war auch kulturprägend und ist auch noch gar nicht so lange her, dass solcher Franzosenhass verbreitet war. Das haben wir überwunden.
Oder andere Dinge, wenn wir darüber nachdenken, wie schwierig es war zum Beispiel für evangelische Familien im tief katholischen Oberbayern, sich niederzulassen, geschweige denn gemischt konfessionelle Ehen dort zu haben, noch vor, sagen wir mal, 50, 60 Jahren, also nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, diese Dinge sind doch – also, nach meiner Wahrnehmung zumindest, absolut überwunden. Und warum sollte uns das beim Antisemitismus nicht auch gelingen?
Engelbrecht: Was nützen uns Antisemitismusbeauftragte bei der Justiz, bei der Polizei, in den Ländern – auch Ihr Amt nenne ich in dem Zusammenhang – wenn eine Synagoge in einer deutschen Großstadt wie Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur nicht bewacht wird?
Klein: Ich halte die Schaffung der Beauftragten für Antisemitismusbekämpfung für extrem wichtig, weil sie innerhalb verschiedener Organisationen eben die Akteure sensibilisieren können und auch beraten können, die wir brauchen. Zum Beispiel Polizei, das ist ganz wichtig. Es muss in jeder Polizeidienststelle, in der eine jüdische Einrichtung gelegen ist, ein jüdischer Kalender hängen mit den Feiertagen. Das war in Halle leider nicht der Fall. Und das ist jetzt die Aufgabe, die vor uns steht.
"Polizei in die Lage versetzen, Antisemitismus zu erkennen"
Engelbrecht:Da muss es doch auch klare Verabredungen geben. Da muss doch nicht nur ein Kalender hängen.
Klein: So ist es, natürlich. Das ist ja aber ganz klar, wenn dann eben der Kalender hängt, und es ist klar, es kommen Menschen zum Gottesdienst, dann ist die Sicherheitslage natürlich eine andere. Wir müssen Polizei, Staatsanwaltschaft in die Lage versetzen, Antisemitismus überhaupt als solchen zu erkennen. Und deswegen sind Beauftragte bei den Staatsanwaltschaften und auch in den Bundesländern so wichtig, weil die das eben koordinieren können. Es gibt eine Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken. Die gehört in den Unterricht, in die Polizeischulen, in die Juristenausbildung, aber auch in die Lehrerausbildung. Und ich glaube, es ist wichtig, dass wir das überall haben.
Aus meiner Sicht kann es gar nicht genug Antisemitismusbeauftragte geben. Ich begrüße sehr, dass auch die evangelische Kirche einen Beauftragten benannt hat, würde mir sehr wünschen, dass auch der Deutsche Fußballbund einen Beauftragten ernennen würde. Denn was jeden Samstag in den Fußballstadien los ist, das sollten wir nicht akzeptieren, und wir sollten die Organisationen aus sich selbst heraus ermutigen, diese Dinge anzugehen.
Engelbrecht: Aber dieses ganze Beauftragtenwesen muss dann ja auch mit Leben gefüllt werden. Und das ist im Konkreten dann oft gar nicht so leicht.
Klein: So ist es. Es ist nicht leicht, aber wir haben große Erfolge zu erzielen. Aber vielleicht der größte Erfolg in meiner anderthalbjährigen Amtszeit ist die Gründung einer Bund-Länder-Kommission "Antisemitismus und jüdisches Leben", wo alle Bundesländer vertreten sind mit ihren Beauftragten. 14 von 16 Bundesländern haben jetzt Beauftragte. Und da können wir eben strategische Dinge formulieren, auch Vorschläge machen, ganz konkret, wie man im Kampf gegen Antisemitismus vorgehen kann.
Wir haben in unserer konstituierenden Sitzung in München im November letzten Jahres zum Beispiel den Beschluss gefasst, dass Umgang mit dem Justizunrecht im Dritten Reich Pflicht werden soll in der Juristenausbildung, damit die Richter und Staatsanwälte, die später über antisemitische Vorfälle befinden müssen, sensibilisiert sind. Und damit werden sich die Justizministerinnen und Justizminister der Bundesländer jetzt beschäftigen. Das sind wichtige Anstöße, die wir geben können. Und das geht weiter bei der Lehrerausbildung, auch in kulturellen Fragen.
Ohnehin ist ja die große Mehrzahl aller Maßnahmen, die im Kampf gegen Antisemitismus in Frage kommen, in der Zuständigkeit der Länder. Der Bund kann oftmals nur sozusagen durch Gesetzgebung tätig werden. Aber diese Menschen zusammenzuführen, auch nicht nur staatliche Akteure, sondern auch Akteure der Zivilgesellschaft, das ist meine Aufgabe, und hier haben wir schon viel erreicht.
Engelbrecht: In einem Interview im Herbst vergangenen Jahres haben Sie mir versprochen, einen nationalen Aktionsplan gegen den Antisemitismus einzuführen. Ich nehme Sie beim Wort. Was verbirgt sich hinter diesem großen Wort, und wann kommt der? Wann werden Sie den veröffentlichen?
Klein: Wir haben auf europäischer Ebene uns sogar verpflichtet, im Dezember 2018, mit allen anderen EU-Staaten so einen nationalen Aktionsplan zu verabschieden. Da sind wir also jetzt in der Pflicht, aber eben auch nicht alleine. Wir werden diese Aktivitäten ganz konkret machen, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt ab 1. Juli nächsten Jahres. Wir werden übrigens im September hierzu in einer großen Veranstaltung in Berlin alle Mitgliedsländer der EU beim Wort nehmen, auch genau diese Frage diskutieren.
Wir selbst hier in Deutschland sind so weit, dass wir alle Bundesressorts sozusagen schon aufgefordert haben, erst einmal aufzuschreiben, was jedes Ministerium im Kampf gegen Antisemitismus unternimmt. Am 29. Januar, also nächste Woche, werde ich diese Maßnahmen vortragen, dem Innenausschuss des Bundestages. Und das ist sozusagen der Auftakt dann auch für den Bericht, den ich abzugeben habe, zu dem der Bundestag mich ja aufgefordert hat. Und das ist sozusagen der Kern des Aktionsplans oder Maßnahmenpakets. Wie man das immer auch nennt, ist egal, Hauptsache wir machen strategische Überlegungen. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das in diesem Jahr hinbekommen.
Engelbrecht: Lassen Sie uns das Thema jetzt noch von einer anderen Seite beleuchten. Jüdische Intellektuelle, wie Micha Brumlik in Deutschland, wie Shimon Stein und Moshe Zimmermann in Israel, fürchten, dass im politischen Diskurs über Antisemitismus die Meinungsfreiheit auf der Strecke bleibt. Und ihre Sorge ist, jedes kritische Wort gegen Israel, jede indirekte Berührung mit der Israel-Boykottbewegung BDS gelte heute gleicht als antisemitisch. Haben diese drei, haben diese Intellektuellen, die in diese Richtung reden, gerade jüdische Intellektuelle, damit nicht auch recht?
Klein: BDS ist in Methoden und Zielen antisemitisch
Klein: Diese drei Intellektuellen sprechen einen sehr wichtigen Punkt an. Und ich merke genau in der Frage Abgrenzung von zulässiger Kritik an israelischem Regierungshandeln und antisemitischen Israel-bezogenen Äußerungen die größte Unsicherheit in Deutschland. Natürlich ist es absolut in Ordnung, im politischen Diskurs die Handlungen von Israel zu kritisieren.
Antisemitisch wird es aus meiner Sicht, wenn Israel delegitimiert wird, wenn es dämonisiert wird, oder wenn doppelte Standards angelegt werden. Und das ist auch vielen Medien nicht immer klar, also auch mainstream-Medien. Ich finde es zum Beispiel schon nicht mehr zulässig, wenn Israel als Apartheid-Staat bezeichnet wird. Es delegitimiert den Staat. Israel ist eine lebendige Demokratie. Das müssen wir uns klar machen. Oder wenn – wie ich vor einiger Zeit mal gelesen habe – die Überschrift "Netanjahu fordert Vergeltung" nach einem Anschlag von Palästinensern. Allein dieses Wort "fordert Vergeltung" ist schon ein doppelter Standard, weil Israel ein Rechtsstaat ist, der dafür sorgt, dass Täter ermittelt und angeklagt werden. Vergeltung ist ein Prinzip, das vielleicht in der Theologie eine Rolle spielt, aber nicht in einem Rechtsstaat.
Niemand würde auf die Idee kommen, zum Beispiel hier in Deutschland nach dem Anschlag von Amri oder nach dem Mord gegen Lübcke von Vergeltung zu sprechen, sondern der Täter muss seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Und hier fängt es schon an. Hier müssen wir aber auch aufklären. Und noch ein Wort zu BDS. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag diese Entscheidung gefällt hat, dass BDS in Methoden und Zielen antisemitisch ist. Denn auch dort wird Israel delegitimiert. Und ich glaube, dass es ein wichtiges Zeichen auch der Solidarität gegenüber Israel war, aber wir müssen natürlich aufpassen. Deswegen sind diese drei Stimmen, die Sie gerade zitiert haben, sehr wichtig, dass wir nicht in Populismus abgleiten und den Diskurs verrohen.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) am 26.09.18 bei einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. 
Thierse: "Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen"
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die Abwahl des AfD-Politikers Stephan Brandner als Vorsitzender des Bundestags-Rechtsausschusses verteidigt. Der Bundestag habe auch die Pflicht, Personen zu bewerten, sagte der SPD-Politiker im Dlf. Brandner habe sich in keinster Weise gemäßig
Engelbrecht: Wie genau nehmen Sie die AfD insgesamt in den Blick bezüglich ihres Antisemitismus?
Klein: Es gibt führende AfD-Vertreter, die durch Holocaust-relativierende Äußerungen Antisemitismus ausgelöst haben. Wenn man zum Beispiel sagt, die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft seien nur ein "Vogelschiss in der Geschichte" gewesen, werden die Gräueltaten, die zur Schoa geführt haben, relativiert. Und das löst ganz klar Antisemitismus aus. Und auch ansonsten hat die AfD einige kritische Positionen.
Zum Beispiel haben sie in ihrem Parteiprogramm die Forderung, dass man rituelles Schächten in Deutschland verbieten sollte. Das würde es orthodox lebenden Juden in Deutschland unmöglich machen, koscheres Fleisch zu essen. Und das muss man so benennen. Das ist dann eine absolut judenfeindliche Position. Das muss sich die AfD klarmachen. Gerade, weil sie ja selber in Anspruch nehmen für sich, dass sie sehr Israel- und judenfreundlich eigentlich auftreten. Und das benenne ich auch. Ich bin selber in keiner Partei Mitglied, nehme mir aber auch die Freiheit, antisemitische Vorgänge in allen Parteien zu kommentieren, wenn ich dazu Anlass habe. Und in dem Fall ist die AfD im Fokus, und das muss sie sich gefallen lassen.
"Jüdisches Leben mit positiven Bildern besetzen"
Engelbrecht: Die Öffentlichkeit sieht Juden häufig nur als Opfer und im Zusammenhang mit der Schoa. Und genau das leistet ja dem Judenhass offensichtlich auch Vorschub. Wie lässt sich diese Verengung des Diskurses auf Juden als Opfer, wie lässt sich das künftig verhindern?
Klein: Wir müssen Begegnungen schaffen und übers Judentum und die jüdische Kultur aufklären und den Menschen in Deutschland klar machen, wie stark, wie Juden auch unser Land geprägt haben, wie groß ihr Anteil war an der kulturellen Diversität, auch am Reichtum unseres Landes. Auch Unternehmer, Wirtschaftslenker waren ja ganz, ganz entscheidend. Wenn man an Rathenau denkt, der die AEG gegründet hat, an Ballin, einer der großen Reeder Deutschlands, also sie haben in vielfältiger Weise beigetragen. Und wir müssen jüdisches Leben mit positiven Bildern besetzen. Dazu bildet das deutsch-jüdische Jahr 2021 Anlass.
Und wir sollten auch noch einmal klar machen, wie groß auch der Anteil an der deutschen Identität ist, den Juden haben. Auch, wenn Sie an die Musik denken, die große Anzahl an auch Schriftstellern, die unsere Kultur geprägt haben, und wo es eigentlich auch völlig egal ist, ob sie Juden waren oder nicht. Sie waren integrale Mitglieder auch von Teams, würde man heute sagen, von Strukturen. Auch die große Anzahl jüdischer Nobelpreisträger ist hier zu nennen. Ein Drittel aller Nobelpreise vor 1933 ging nach Deutschland. Und von diesem Drittel wiederum ein Drittel an jüdische Wissenschaftler. Und die waren ja nicht isoliert, sondern Teile von Organisationen und haben natürlich auch mit nichtjüdischen Kollegen geforscht.
Diese Normalität, die vielleicht im Jahr 1913 ganz normal und allgegenwärtig war, die müssen wir wieder ins Bewusstsein rufen und auch noch mal klar machen, wie gut es unserem Land getan hat, dass wir auch jüdische Immigration nach 1990 hatten hier in Deutschland. Dass die jüdischen Gemeinden wieder so stark geworden sind, ist doch ein gutes Zeichen und das ist eine absolute Erfolgsgeschichte, die wir bekannter machen sollten. Und dafür haben wir jetzt einen Anlass.