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Antisemitismus in Deutschland
Historiker Peter Longerich beleuchtet Judenhass

Schüsse auf die Synagoge in Bochum, der Anschlag auf die Synagoge in Halle: Antisemitismus und Judenhass sind in Deutschland nach wie vor präsent. Der Historiker Peter Longerich schreibt über die unterschiedlichen Formen der Judenfeindschaft in Deutschland von der Aufklärung bis heute.

Von Otto Langels | 03.05.2021
Das Buchcover von Peter Longerich: "Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte" die Gedenktafel Anschlag Halle 2019
Peter Longerich schlägt in seiner Antisemitismus-Geschichte den Bogen von der Aufklärung bis heute (Cover Siedler Verlag / Hintergrund dpa- Zentralbild)
Peter Longerich leitet seine umfangreiche Darstellung mit einer ebenso nüchternen wie deprimierenden Bemerkung ein: Alle bisherigen Anstrengungen hätten nicht dazu geführt, den Antisemitismus in Deutschland wirksam zu bekämpfen und auf ein bloßes Randphänomen zu reduzieren. Judenfeindschaft sei nach wie vor mitten unter uns und anscheinend unausrottbar.
Der Münchner Historiker, ein ausgewiesener NS- und Holocaust-Forscher, trägt eine erdrückende Fülle von Beispielen zusammen, die den Antisemitismus der Deutschen in Wort und Tat belegen; ob als harmlos daherkommende Betonung kultureller oder religiöser Unterschiede, ob als mörderischer Antisemitismus in Anschlägen und Pogromen oder schließlich im Holocaust.
"Sollen wir sie, die Juden, kreisweise zusammentreiben, niederschießen oder totschlagen oder ersäufen – Alle, ohne Ausnahme, Männer und Frauen, Greise und Kinder, Kranke und Gesunde?"
Ein Zitat, das dem Stürmer, dem Hetzblatt der Nazis entnommen sein könnte, tatsächlich aber aus der Feder Fürchtegott Leberecht Christliebs aus dem Jahr 1816 stammt. Der gottesfürchtige Name hielt den Autor nicht davon ab, krude Gewaltphantasien zu entwickeln. Als Alternative empfahl er:
"Eine gelindere Vorgehensweise, indem wir die Juden kreisweise zusammentreiben, auf die Grenze führen, sie hinüberstoßen, und Jenen zurückschlagen, der etwa wagt umzukehren – Alle ohne Ausnahme."

Verweigerung von Gleichberechtigung

Dies waren nur Gedankenspiele, aber sie zeigen eben doch, dass bereits vor 200 Jahren die physische Vernichtung der Juden in der Debatte um ihre rechtliche Gleichstellung erwogen wurde.
Antisemitismus in der Sprache
Mischpoke, mauscheln, schachern – jiddische Wörter sind Teil der Alltagssprache geworden. Der Journalist Ronen Steinke erklärt, wie vormals neutrale Bezeichnungen judenfeindlich aufgeladen wurden.
Während der Judaist Peter Schäfer in seiner jüngst erschienenen "kurzen Geschichte des Antisemitismus" die religiösen Motive betont, rückt Longerich die nationale Identität "der Deutschen" in den Vordergrund: Sie konnten und können Juden nicht als gleichberechtige Mitbürger ertragen.
"Wenn man sich damit beschäftigt, warum eine Mehrheit immer wieder eine Minderheit ablehnt, dann muss man sich mit der Verfasstheit dieser Mehrheit beschäftigen. Und wenn man das mal über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahrhunderten macht, dann sieht man, dass da eine Kontinuität besteht. D.h. dass immer wieder völlig absurde Gründe gesucht werden, die die Juden als die Anderen erscheinen lassen, die man aus der eigenen Gemeinschaft, die man so dringend sucht und herstellen will, ausschließen will."
Peter Longerich hat seine deutsche Geschichte des Antisemitismus vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart chronologisch angelegt. In klarer Sprache wendet er sich an ein breites Publikum, auch an Menschen, die mit dem Thema nicht vertraut sind. Ausführlich referiert er Kernaussagen aus Schlüsselwerken des Antisemitismus wie aus weitgehend unbekannten Schriften. Daraus entsteht ein Gesamtbild, wonach der deutsche Antisemitismus kein vorübergehendes Phänomen ist, sondern ein tief in unserer Geschichte und Kultur verwurzeltes Vorurteil.
"Das hat damit zu tun, dass die Juden hier seit sehr langer Zeit leben und als eine Minderheit, die unter uns lebt, abgelehnt wird. Und zwar nicht nur als eine Minderheit, die irgendwie fremd und anders ist, sondern gleichzeitig als eine Minderheit, die einer Verschwörung angehört, auch noch einer internationalen Verschwörung, und die übermächtig erscheint."

Die Sündenbock-These greift zu kurz

Nach einer landläufigen These dienen "die Juden" in Krisenzeiten als Sündenböcke, um von den eigentlichen sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Problemen abzulenken. Der Antisemitismus fand demnach Zulauf z.B. während der revolutionären Wirren nach dem Ersten Weltkrieg oder in der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre. Diese Erklärung hält Peter Longerich für unzureichend:
"Sie erklärt nämlich nicht hinreichend, warum immer die Juden das Opfer solcher Krisen waren. Voraussetzung dafür, dass die Nationalsozialisten sich mit der Forderung nach einer antijüdischen Sondergesetzgebung im Jahre 1933 durchsetzen sollten, war aber die gesellschaftliche Ausbreitung des Antisemitismus in den stabilen Jahren der Weimarer Republik innerhalb des konservativen politischen Spektrums, aus dem die Regierungspartner der NSDAP 1933 kamen."
Einen fruchtbaren Nährboden fand der Antisemitismus bereits lange vor 1933 im deutsch-nationalen Lager, in Wehr- und Wirtschaftsverbänden, großen Teilen der Studentenschaft, in der Justiz und der protestantischen Kirche. Der Autor belegt an vielen Beispielen, dass es sich eben nicht ausschließlich um ein Krisenphänomen handelt, sondern um die negative Seite einer nationalen Identitätssuche: "der Jude" als das Zerrbild des heimatverbundenen, patriotischen Deutschen. Antisemitismus ist demnach auch keine Frage von Randgruppen. Um 1900 war das Bildungsbürgertum Trägerschicht der Judenfeindschaft.

Antisemitismus heute

Ein Jahrhundert später konstatiert Longerich eine Verschärfung des antisemitischen Tons durch Intellektuelle und Politiker, die nicht einem extremen Lager zuzurechnen sind, die aber nach der Wiedervereinigung vehement den Wunsch nach einem neuen selbstbewussten Deutschland äußern, unbelastet von den Schatten der NS-Vergangenheit.
"Es ist schon erschreckend, dass der Antisemitismus heute nach wie vor vorhanden ist, es spricht einiges dafür, dass er anwächst, er hat heute vor allem die Form einer mit Antisemitismus aufgeladenen Feindseligkeit gegenüber Israel, und er äußert sich als sogenannter Post-Holocaust-Antisemitismus. Das kann man am besten mit dieser bitter-ironischen Formel beschreiben: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen."
Der Autor streift kurz die aktuelle Debatte um Israelkritik, Boykottaufrufe und Antisemitismus, vermeidet aber in der überhitzten Auseinandersetzung als distanzierter Betrachter ein eindeutiges Urteil.
"Jerusalemer Erklärung" - Eine neue Definition für Antisemitismus
Antisemitismus ist weltweit auf dem Vormarsch, doch der Kampf gegen ihn ist überlagert von einem Streit, der die Lager tief spaltet. Es geht um den sogenannten israelbezogenen Antisemitismus. Jetzt hat eine Gruppe von 200 internationalen Holocaustforschern eine neue Definition dazu vorgelegt.
Peter Longerichs Buch trägt den Untertitel: Eine deutsche Geschichte. Gleichwohl streift er die Entwicklung in anderen europäischen Ländern wie Österreich, Ungarn, Polen oder Italien; nicht um den mörderischen Antisemitismus der Nazis zu relativieren, aber um darauf zu verweisen, dass Judenfeindschaft auch anderswo existiert. Die Vorurteile und diskriminierenden Maßnahmen in anderen Staaten erleichterten dem NS-Regime die Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs.
Wollte man dem Autor einen Vorwurf machen, dann wäre es ein methodischer Einwand: Der Verzicht auf Gegenentwürfe, auf Beispiele von Emanzipation, Freundschaft und Solidarität macht das Buch zu einer bedrückenden Lektüre. Doch damit ist seine Darstellung letztlich auch ein Warn- und Weckruf: Um den über Jahrhunderte gewachsenen, fest verankerten und gleichzeitig wandlungsfähigen Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, bedarf es mehr als moralischer Entrüstung und hilfloser Appelle.
Peter Longerich: "Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute"
Siedler Verlag, 640 Seiten, 34 Euro.