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Arbeitnehmervertretung
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten wird 150 Jahre alt

Heute ist sie eine der großen Arbeitnehmervertretungen in Deutschland: die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, kurz NGG. Mehr als 200.000 Beschäftigte werden von ihr vertreten. Viele davon dürften von dem seit fast einem Jahr geltenden gesetzlichen Mindestlohn profitieren. Diese Weihnachten feiert die NGG ihr 150-jähriges Bestehen.

Von Axel Schröder | 23.12.2015
    Eine Bedienung trägt am 29.10.2013 in Erfurt (Thüringen) in einem Lokal ein Tablett mit Bier. Der Mindestlohn gilt auch im Hotel- und Gaststättengewerbe.
    Der Mindestlohn gilt auch im Hotel- und Gaststättengewerbe. (dpa / Marc Tirl)
    Seit drei Jahren ist Otto von Bismarck preußischer Ministerpräsident, ein Jahr liegt der siegreiche Krieg des Deutschen Bundes, von Preußen und Österreich zurück, als 1865 die Tabakarbeiter in Leipzig einen für die damaligen Verhältnisse revolutionären Schritt wagen: Unter Führung von Friedrich Wilhelm Fritzsche gründeten sie den Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiterverein. Seit er neun Jahre alt ist, hat Friedrich Wilhelm Fritzsche in Leipziger Zigarrenmanufakturen gearbeitet, mit 40 Jahren ruft er mit seinen Mitstreitern die Keimzelle der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, kurz: NGG, ins Leben. Das erzählt Michaela Rosenberger, die Vorsitzende der Gewerkschaft, am Hauptsitz der NGG, in Hamburg:
    "Das waren politisch sehr interessierte Männer, die immer auch so ein bisschen Paradiesvogel gewesen sind. Ganz auffällig gekleidet, bunte Westen an. Und Farben waren damals, so knallige Farben wie grün oder rot schon etwas Ungewöhnliches. Man hat es ihnen schon von außen angesehen sozusagen, dass sie Zigarrenarbeiter sind. Ein Historiker hat vor einiger Zeit über diese Zigarrenarbeiter von einst gesagt: "Na, so ein bisschen waren das die Punker von damals." Und ich glaube, dieser Vergleich stimmt auch."
    Einen Arbeiterverein zu gründen, die Rechte der Belegschaften zu vertreten, Gegenmacht aufzubauen in einem ungestüm erwachenden Kapitalismus, der kein Streikrecht, dafür 20-Stunden-Schichten kannte, der für die Arbeiter einen Bettellohn abwarf, war ein heikles Unterfangen:
    "Streik bedeutete damals, dass die Leute keinen Lohn bekommen haben. Die haben den Streik nur durchführen können, weil Freunde, Bekannte für sie gesammelt haben. Streik hat vor allem aber bedeutet, dass man die Stadt, in der man gelebt hat, verlassen musste, weil man in dieser Stadt keine Arbeit mehr bekommen hat."
    Die Gewerkschaft hatte regen Zulauf. 1878, 13 Jahre nach ihrer Gründung war sie größte unter den Einzelgewerkschaften. Im gleichen Jahr wurden mit dem Sozialistengesetz die Arbeitervereine verboten. Die Bildung der Arbeiter in den stickigen, frühkapitalistischen Produktionshallen durch ihresgleichen, die Bewusstwerdung der eigenen Klasse und Schicht durch die Exegese der entscheidenden Texte von Marx oder Lasalle blieb aber ein Anliegen der organisierten Arbeiterschaft:
    "Die haben aus ihrer Mitte denjenigen gewählt, der lesen und schreiben konnte, haben den von der Arbeit entlastet, haben den gebeten, ihnen vorzulesen, was er dann auch gemacht hat. Aus Büchern, Romanen, vor allem aus politischen Schriften. Und die Zigarrenarbeiter, die dann zugehört haben während sie gearbeitet haben, haben dann diesen Vorleser aus dem eigenen Lohn bezahlt und haben damit diesen Vorleser finanziert."
    Noch heute taucht dieser Vorleser als Grafik neben dem Gewerkschaftslogo auf. Heute, 150 Jahre nach Gründung des Vorläufervereins, kämpft die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten auf ganz anderen Feldern.
    "Ein ganz dickes Brett, das wir bohren müssen, das ist die Frage der bevorstehenden Altersarmut."
    Denn der Mindestlohn von 8,50 Euro reicht nach Berechnungen der Bundesregierung noch lange nicht aus, um ein Leben über der Grundsicherung möglich zu machen. Auch nach 150 Jahren gewerkschaftlicher Arbeit bleibt noch einiges zu tun.