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Arbeitslosendrama und Gründungsmythos des Ruhrgebiets

Volker Lösch zählt zu den umstritteneren Regisseuren. Jetzt inszenierte er in Essen "Rote Erde" nach dem Roman von Peter Stripp, eine Arbeitersaga, die den Gründungsmythen des Ruhrgebiets gewidmet ist. Die Uraufführung war wenig skandalträchtig.

Von Christiane Enkeler | 28.09.2012
    Am Anfang kann man – gemeinerweise – schon mal denken: Hm. "Gorillas im Nebel". Den Hintergrund bedeckt zunächst eine begrünte Wand für den ersten Auftritt. Und dann: so viele stolzgeschwellte Männerbrüste, nackte Oberkörper, die ganze chorische Brüllerei, die auf Knopfdruck von der Nebelmaschine überzischt wird, bis endlich dichter Nebel ist. Aber es spielen auch drei Frauen mit.

    Der Rhythmus - treibt. Die Kalkulation - treibt. Die Maschine - treibt. Der Mensch - treibt. Treibt - sich selbst. Weil er verdienen muss.

    Schwarz angeschmiert "treibt", schiebt und drückt jeder sein Brikett-Bündel über die Bühne Richtung Publikum, mit großer Anstrengung. Hier ist es, sozusagen, Kulturarbeit.

    Volker Lösch hat sich in Essen die Aufgabe gestellt, den Strukturwandel im Ruhrgebiet zu untersuchen, also die Situation heutiger junger Männer und Menschen auf die von Bruno Kruska prallen zu lassen, Held des Ruhrgebietsepos "Rote Erde", das in den 80ern auch als Serie im Fernsehen gezeigt wurde.

    Mit 17 kommt Bruno 1887 vom pommerschen Hof ins Ruhrgebiet, um Bergmann zu werden. Dort heiratet er Pauline, deren Bruder als Reichstagsabgeordneter der Sozialdemokraten politische Karriere macht. Es geht um Standesunterschiede und Autoritätsgehabe zu Kaiserzeiten, um Bezahlung, Arbeitszeiten, Arbeitssicherheit, um das Sich-Abarbeiten unter der Erde und das Höher-Kommen-Wollen über der Erde. Gegen "die da oben" hämmern die Bergleute lange wie gegen harten Fels, weil die Armut, Solidarität und Streik im Weg steht.

    "Ich hab mir so Gedanken über mein Leben gemacht und was ich dann machen soll. Web-Design. Aber da ich einen schlechten Abschluss habe, nur Realschule, werde ich wohl erst ein Praktikum absolvieren müssen, um da reinzurutschen. Ich bin nicht so jemand, der gerne kämpft."

    Volker Lösch hat rund 40 Interviews mit Essenern geführt, auch mit einigen der zwölf jungen Männer, die das Ensemble als Chor auf der Bühne verstärken. "Ich bin nicht so jemand, der gerne kämpft", der Satz wirkt aufreizend zu der Wucht, mit der er trotz allem im Chor über die Rampe schlägt.

    Aber es prallen weniger Gegensätze aufeinander: Hier der fleißige Bergmann, dort der Kaffee kochende Dauerpraktikant. Eher werden Praktikum, Lehre, Kreativjob zum Bergwerk, in dem man sich abarbeitet – um am Ende kein Stück weitergekommen zu sein. Sich zu wehren oder zu organisieren, ist schwierig, weil man fürs Überleben weiterarbeiten muss.

    Ans Ruhrgebiet schmeißt sich Lösch ganz schön ran. Die Inszenierung spricht aber, was "Arbeit" und "Arbeitslosigkeit" angeht, über das Ruhrgebiet hinaus. Nichts Neues dabei, aber es wirkt wie Balsam für die verletzte Würde, dass Lösch das Abstrampeln zwischen Häppchen-Jobs oder im Kreativ-Praktikums-Butterfass mit harter "Arbeit" parallel setzt.

    "Gibt es noch andere Möglichkeiten, Werte zu schaffen, als nur mit der reinen Arbeit. Und wenn die reine Arbeit nicht mehr da ist und die Arbeitslosigkeit andere Werte schafft, ist keine Perspektive mehr da! Weil alle sagen: Wer keine Arbeit hat, ist nichts mehr wert!"

    Wenn Lösch, wie er auf der Homepage des Theaters Essen sagt, "Rote Erde" als "Reibungsmaterial" nutzen wollte, dann ist davon nicht viel übrig geblieben.

    Die Ebenen Fiktion und Dokumentartheater hat er ja eng miteinander verschnitten. Und fast fließend werden die Chöre zu Bruno und Bruno zum Chor. Lösch inszeniert eher ein allgemeines Anrennen und –sprechen von energetisch aufgeladenen Gruppen gegen Autorität und Willkür, jeder die Spitzhacke in der Hand.

    Wobei Brunos Freund selbst so autoritär agiert wie seine Vorgesetzten. Oder linker Aufbruch fast nach Neoliberalismus klingt: "Ich bin das, was ich aus mir mache."

    Vielleicht hat Lösch mit seiner Dramaturgin da zwei Abschnitte zu eng aneinander geschnitten, vielleicht hat er da auch die "Reibung" versteckt. Man muss sie schon suchen. Es kommt ja alles mit einem einzigen Schwung über die Rampe. Noch mal näher hinsehen kann die Kritik nicht, weil sie den Text nicht bekommt.

    Allerdings: Viele der dokumentarischen Interviewpassagen sind auf Einzelne verteilt, sodass durchaus hinter den rhythmisierten, wütenden Gestalten individuelle Geschichten auftauchen. Vor allem sieht man auf der Bühne den Spaß am Spielen.

    Damit macht Volker Lösch ein ästhetisches Angebot gegen Entfremdung jeder Art. Und gar nicht mal ein so kleines.