Samstag, 20. April 2024

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Arbeitsmediziner zu Belastungen im Job
Gesetzgeber hinkt der rasanten Veränderung der Arbeitswelt hinterher

Die Zunahme an Fehltagen im Job wegen Überlastung sei eine bedenkliche Entwicklung, sagte der Arbeitsmediziner Hans Drexler im Dlf. Arbeitnehmer seien massiven Belastungen ausgesetzt, und der Arbeitsplatz verändere sich so rasant, dass weder Arbeitsmedizin noch Gesetzgeber hinterher kämen.

Hans Drexler im Gespräch mit Jörg Biesler | 07.05.2018
    Ein Mensch im Dunkeln.
    Erkrankungen wegen Überlastung nehmen zu (Unsplash.com/Benjamín Castillo)
    Jörg Biesler: Eine starke Zunahme bei den Fehltagen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat das Bundesgesundheitsministerium gezählt. Am Wochenende wurden die Zahlen veröffentlicht, und demnach wurden vor allem wegen Überlastung viel mehr Mitarbeiter krankgeschrieben. Wir haben uns in Münster angeschaut, wie diejenigen arbeiten, die Vorsorge treffen sollen, damit Erkrankungen am Arbeitsplatz möglichst vermieden werden.
    Ein Besuch bei Arbeitsmedizinern in Münster. Die sind vor allem, wie wir gehört haben, vorsorgend unterwegs und sollen dabei helfen, Erkrankungen zu vermeiden. Am Wochenende aber rechnete das Bundesgesundheitsministerium vor, dass sich die Zahl der Fehltage wegen Erkrankungen drastisch erhöht hat. Die größte Steigerung von 10,5 Millionen 2012 auf fast 17 Millionen 2016, die gibt es mit der Diagnose Erschöpfung. Ich habe vor der Sendung Professor Hans Drexler, den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin gefragt, ob das eine bedenkliche Entwicklung ist.
    Hans Drexler: Ja, es ist bedenklich. Also zunächst mal darf man auch die Belastungen am Arbeitsplatz gar nicht kleinreden. Es ist eigentlich schon gut belegt, dass die Arbeitsorganisation, wenn sie schlechte Arbeitsorganisation ist, mit Fehltagen korreliert, und es ist auch ganz klar, dass sich unsere Arbeit verdichtet hat. Also die Belastungen nehmen schon zu, aber auf der anderen Seite gibt es natürlich auch die Wechselwirkung, dass bestimmte Tätigkeiten eigentlich gar nicht mehr zulassen, dass ein Mensch mit einer Depression die Tätigkeit machen könnte, weil die Anforderungen sich gewandelt haben. Eine einfache Tätigkeit am Fließband oder auf dem Bau kann ich vielleicht mit einer milden Depression noch machen. Dort, wo Kreativität und Einfallsreichtum gefordert ist oder Kommunikation, da ist es schon nicht mehr möglich.
    "Psychische Erkrankungen sind entstigmatisiert"
    Biesler: Gucken wir uns die Statistik noch mal an: Es gibt eine Zunahme, muss man sagen, in Sachen Erschöpfung und Überbelastung. Sie haben jetzt gerade schon gesagt, das liegt auch daran, dass das einfach stärker wird heutzutage, weil sich das Arbeitsumfeld verändert hat.
    Drexler: Na ja, wir schreiben ja nicht wegen Erschöpfung krank, sondern wegen Diagnosen, und da ist eben die Diagnose eigentlich dann meistens Depression, und dann muss man jetzt wiederum dazusagen, dass diese Diagnose früher halt vielleicht ein bisschen zu selten gestellt worden ist. Also wir haben im Studium noch von der lavierten Depression gelernt, das sind Menschen, die haben eine Depression, kommen aber zum Arzt mit Rückenbeschwerden, sind dann vielleicht wegen Rückenbeschwerden vor 20 Jahren krankgeschrieben worden, obwohl es genauso eine Depression war wie jetzt.
    Jetzt wird das Kind beim Namen genannt. Psychische Erkrankungen sind entstigmatisiert, werden zunehmend richtig bekannt. Auch das trägt dazu bei, dass diese Diagnosen als Ursache für Arbeitsunfähigkeitszeiten häufiger in Erscheinung treten.
    Biesler: Also die Diagnostik hat sich verbessert.
    Drexler: Ja.
    Biesler: Das auf der einen Seite. Hat sich denn - oder merken Sie das in Ihrem Alltag, auch die Arbeit stark verdichtet, sodass möglicherweise so eine Depression dann auch eher beruflich bedingt ist?
    Drexler: Also in vielen Bereichen hat sich die Arbeit massiv verdichtet. Das weiß jeder von uns. Wenn man einfach mal die Zahl der beruflichen E-Mails zählt, die man vor zehn Jahren bekommen hat und die man jetzt bekommt, und ich sage immer: Kein Mensch hätte früher so viele Briefe geschrieben und beantwortet, wie jetzt ein Durchschnittsbüroarbeitnehmer an E-Mails zu beantworten hat. Das ist sicherlich eine Belastung.
    Die zweite Belastung ist natürlich dann auch subjektive Empfindung von Ungerechtigkeit, und wenn man nicht mehr abschalten kann, das ist, glaube ich, etwas, was noch viel zu wenig erforscht ist. Da fehlen uns auch harte Fakten, auch die permanente Erreichbarkeit, die permanente Verfügbarkeit – ob das mehr Schaden oder mehr Nutzen für den einzelnen Arbeitnehmer bringt, das weiß man ja nicht –, aber der Arbeitsplatz ist auch nicht mehr so geschützt wie in der Vergangenheit. Also früher, wer zur Arbeit ging, der war ja vom Privatleben meistens abgekoppelt. Mit den modernen Mitteln der Telekommunikation, also Smartphone und E-Mails, ist natürlich der Arbeitnehmer auch mit privaten Belastungen während der Arbeitszeit erreichbar.
    "Der Arbeitsplatz verändert sich rasant"
    Biesler: Also es verändert sich eine ganze Menge.
    Drexler: Der Arbeitsplatz verändert sich rasant, und wir von der Wissenschaft und noch weniger die Gesetzgebung kommt noch hinterher, hat man ein ganz anderes Gefühl.
    Biesler: Ja, das wäre jetzt die Frage. Wir haben ja gerade gehört, worum sich ein Arbeitsmediziner so kümmert – um die richtigen Stühle zum Beispiel, um die Luftzusammensetzung. Kann ein Arbeitsmediziner überhaupt einschätzen, wie hoch die Arbeitsbelastung ist, möglicherweise, wie verdichtet die Arbeit ist oder wie viel Kreativität ständig von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gefordert wird? So tief kann der sich ja gar nicht in den jeweiligen Arbeitsplatz hineinknien. Was heißt das für die Arbeitsmedizin der Zukunft?
    Drexler: Es ist ja, sagen wir mal, die psychische Gefährdungsbeurteilung ist ja eine gesetzliche Aufgabe für den Arbeitgeber und auch ein Aufgabegebiet der Arbeitsmedizin. Der Betriebsarzt kann mit den Einzelnen sprechen, und wenn der aus einer Abteilung immer wieder gleichlautende Informationen erhält, dann kann er sich sehr wohl ein Bild machen über die Führung der Abteilung, über die Organisation und auch über die Quantität der Arbeit. Also nicht, wenn ein unzufriedener Arbeitnehmer kommt, aber wenn er das immer wieder hört, und dann muss der Betriebsarzt sowohl für die Primärprävention sorgen, das heißt, er muss Kontakt mit den Arbeitgebern aufnehmen und muss sagen, in dieser Abteilung läuft irgendwas falsch, sei es die Führung, sei die Organisation, sei es die Arbeitsmenge, und er muss natürlich auch gefährdete Arbeitnehmer rechtzeitig erkennen und die vielleicht zu einer frühzeitigen Psychotherapie bringen oder einfach Coaching oder Hilfe zur Selbsthilfe, damit manifeste Erkrankungen erst gar nicht entstehen
    Arbeitsunfähigkeitstage nehmen zu
    Biesler: Zum Schluss noch mal einen Blick auf die Zahlen: Von 10,5 Millionen auf 16,9 Millionen, die Fehltage wegen Depression, haben Sie jetzt gerade als Diagnose genannt. Ist das schon eine Steigerung, wo Sie sagen müssen, da läuft was falsch?
    Drexler: Mich würde zunächst mal interessieren, ob es eine Steigerung der Diagnosen überhaupt gibt. Das ist aus meiner Sicht wissenschaftlich nicht beantwortet – also die Frage, nehmen psychische Erkrankungen zu.
    Was wir sehen, dass Arbeitsunfähigkeitstage zunehmen, und auch hier sehen wir, dass die Tendenz der Krankheitsdauer immer in die Höhe geht. Also es werden nicht nur mehr Menschen wegen psychischer Erkrankungen krankgeschrieben, sondern die Menschen, die wegen psychischen Erkrankungen krankgeschrieben werden, werden auch länger krankgeschrieben, aber die Frage, ob psychische Erkrankungen als solche zunehmen in der Gesellschaft, die müsste beantwortet werden, und dann muss man nach den Ursachen forschen, und dann muss man die Ursachen angehen.
    Biesler: Zur Statistik des Bundesgesundheitsministeriums, was die Zahl der Fehltage wegen Erkrankung angeht, war das Professor Doktor Hans Drexler, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin. Danke, Herr Drexler!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.