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Archäologie der fotografischen Weltwahrnehmung

Der Roman "Sechzig Lichter” der Australierin Gail Jones ist ein sinnliches Lesevergnügen, wie man es in seiner Balance von Intelligenz und erzählerischer Vergegenwärtigungskunst selten geboten bekommt. Ihr ist eine ebenso realistische wie fantastische Geisterbeschwörung des britischen Empire gelungen.

Von Wolfram Schütte | 01.04.2008
    "Gegenfüßler” wurden die Australier von den Europäern einmal genannt; und australische Schriftsteller haben es, trotz des britischen Commonwealth, noch heute schwer, bei uns in Europa einen Fuß auf die Erde zu bekommen. Längst vergessen ist, dass einmal der australische Epiker Patrick White, zur allgemeinen eurozentrischen Überraschung, 1973 den Literaturnobelpreis erhielt.

    Die 1955 geborene Gail Jones, die bislang Erzählungen und drei Romane veröffentlicht hat, und in Sydney Kommunikation und Kulturwissenschaft lehrt, hat es immerhin einmal, 2004, zu einer Nominierung für den britischen Booker-Preis geschafft. Ihr verdanken wir es wohl, dass die Hamburger "Edition Nautilus" nun ihren damals nominierten Roman "Sixty Lights", in der brillanten Übersetzung Conny Löschs, auf deutsch vorlegt. Es ist der zweite Versuch, nachdem "Nautilus” 2006 Gail Jones jüngstem Roman "Der Traum vom Sprechen” publiziert hatte, diese ebenso eigenwillige wie originelle australische Schriftstellerin bei uns bekannt zu machen.

    Das wäre hochverdient, weil ihre "Sechzig Lichter” ein sinnliches Lesevergnügen sind, wie man es - in seiner vollkommenen Balance von Intelligenz und erzählerischer Vergegenwärtigungskunst - selten derzeit geboten bekommt. Um geistige und literarische Verwandtschaften anzudeuten, wird man John Berger und Michael Ondaatje erwähnen müssen, obwohl Gail Jones ihre ganz eigenen Wege geht - wie ja auch bei uns Daniel Kehlmann "his own way” einschlug und danach zu seiner eigenen Verwunderung mit seiner "Vermessung der Welt” zu einem Weltbestsellerautor wurde.

    Dieses Glück hatte Gail Jones mit ihren "Sechzig Lichtern” nicht, obwohl es auch ein Historischer Roman ist, der dreiteilig und weltumtriebig in Australien, in Indien und im London des späten Charles Dickens sich aufhält, und seinen essayistischen Charakter unter der Mimikry eines erotisch unterfütterten viktorianischen Melodramas ebenso versteckt wie aufscheinen lässt - und geschrieben ist in einer luziden und metaphernsicheren Prosa, deren sensuelle Leuchtkraft jeden sentimentalen Anflug vermeidet. Und das, obwohl Gail Jones´ Heldin Lucy Strange - mit einem sprechenden Namen wie ihr vorübergehender Gönner in Indien, Isaac Newton - nur 22jährig an Schwindsucht stirbt.

    Ihr früher Tod wird einem schon auf der zweiten Seite des Romans annonciert, als Lucy nachts neben Isaac aus einem schrecklichen Traum erwacht, der ein Tagesereignis reflektiert: Den tödlichen Unfall eines Inders, der von einem Baugerüst stürzte, das er mit einem Spiegel erstiegen hatte, dessen Splitter beim Aufschlagen sich in seine Brust bohrten.

    ”Die Mengen an Blut waren erstaunlich. Es spritzte überall hin. Doch Lucy”, heißt es in der ersten von 60 Einstellungen des Romans, "fiel vor allem auf - als sie dorthin eilte, um wie alle anderen Hilfe anzubieten -, dass der Spiegel das Funkeln nicht einstellte. Seine zerklüftenen Formen fingen noch immer die Welt ein, und einzelne Teile eines fragmentierten Indiens wurden auf seiner Oberfläche sichtbar.(...) Sie konnte nicht anders: Sie musste an einen Fotografie denken”.

    Denn Lucys seltsame Eigenart und die solitäre Passion ihres kurzen, aber erfüllten Lebens war die Fotografie, jene neue Kunst des 19. Jahrhunderts, mit Hilfe von Licht und chemischen Prozessen, die "Schrift des Lebens” in einem blitzhaften Augenblick festzuhalten. Und es ist die erzählerische und essayistische Leidenschaft der australischen Autorin, diesen historischen Moment mit allen Sinnen sprachmagisch aufleuchten zu lassen.

    Indem die "Magie des Realen” (Susan Sontag) ebenso wie die Realität des Magischen durch die Fotografie und die "Laterna Magica” in die Welt kam, hat sie eine kollektive Revolution des menschlichen Bewusstseins, unseres Erinnerungsvermögens wie unserer erweiterten Vorstellungskraft bewirkt, ohne deren allgegenwärtige visuelle und virtuelle Präsenz unser gegenwärtiges Leben uns gar nicht mehr vorstellbar ist.

    In der Form eines Fotoalbums blättert Gail Jones die Archäologie der fotografischen Weltwahrnehmung literarisch auf. Die sechzig Lichter, die ihr erlebnispraller Roman mit sprachlicher Delikatesse und sensueller Empfindlichkeit für Details entzündet, werden um "Schnappschüsse” erweitert, mit denen Lucy ihr Tagebuch füllt, wenn sie "Besondere Gesehene Dinge” oder "Nicht entstandene Fotografien” notiert.

    Dabei handelt es sich bei Gail Jones´ "Sechzig Lichtern” nicht um einen Thesenroman wie Kehlmanns "Vermessung der Welt” oder Thomas Manns "Zauberberg”. Sondern um eine ebenso realistische wie fantastische Geisterbeschwörung des britischen Empire aus dessen literarischen Manifestationen in den Werken von Charles Dickens, Wilkie Collins oder Charlotte Brontes "Jane Eyre”. In dieser abenteuerlichen Welt der Waisenkinder, der kinderlosen Ammen, der "gefallenen” Frauen und der dubiosen Gentlemen versetzt die australische Erzählerin ihre Lucy Strange - "eine Frau der Zukunft, ihrer Zeit gefährlich voraus, doch ohne Angst zu straucheln”, wie Lucys letzter Liebhaber bewundernd erkennt, als sie sich auf ihre ultimative Reise in einen "Abgrund von Licht" macht.