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Architektur als Politikum

Der japanische Architekt Kenzo Tange wurde 1946 als Städteplaner nach Tokio berufen. Die traditionelle Baukunst seines Heimatlandes kombinierte er mit den Einflüssen der Moderne, etwa mit den rationalistischen Elementen von Le Corbusier. Diese architektonische Handschrift machte ihn zum gefragten Lehrmeister.

Von Jochen Stöckmann | 04.09.2013
    "Raum ist der Bereich, in dem der Mensch geformt wird."

    Für Räume hatte der Japaner Kenzo Tange, geboren am 4. September 1913 in der Präfektur Osaka, ein Gespür. Über ihre konkrete Gestaltung hat er als Architekt und Stadtplaner immer wieder reflektiert, unter anderem mit Rückgriff auf den Philosophen Martin Heidegger. Auf den ersten Blick sieht man Tanges monumentalen Gebäuden aus zumeist rohen Betonmodulen diese Gedankenarbeit nicht an. Auf Dauer aber, im täglichen Gebrauch, zeigt sich, dass Tange, der in Singapur einen 280 Meter hohen Wolkenkratzer realisierte, auch Hochhäuser stets in Abhängigkeit zur städtischen Umgebung, zum öffentlichen Raum dachte.

    Tritt dann auch noch die zeitgeschichtliche Dimension hinzu, wie 1949 beim Friedenszentrum für das von der Atombombe zerstörte Hiroshima, dann muss Architektur zur politischen Angelegenheit werden. Insbesondere bei einem Mann wie Kenzo Tange, der 1941 für das mit den Nazis verbündete Regime des Tenno ein "Denkmal für die Großasiatische Wohlstandssphäre" entworfen hatte. Nach der Niederlage Japans schien der Architekt sich mit dem streng symmetrischen Skelettbau für Hiroshima in die sachlich-neutrale Ästhetik des "International Style" geflüchtet zu haben. Nur Eingeweihte werden in den industriell vorgefertigten Strukturen eine Anspielungen auf handwerkliche Formen der japanischen Bautradition erkennen. Am Ende aber spürt jeder Besucher durch die Spannung zwischen den Freiflächen - dem Nichts, der Leere – und der schlichten Monumentalität des auf sechs Meter hohen Stützen ruhenden Betonriegels eine ungeahnte Symbolkraft.

    "Ich wage zu behaupten, dass die Architektur und der städtische Raum eine symbolische Denkweise verlangen, um die Menschlichkeit, den Wert des Menschen in der Architektur und im städtischen Raum zu gewährleisten. Es scheint mir, dass einige Bereiche der modernen Architektur und einige Städte heute symbolarm geworden sind."

    Um die Wiedererweckung alter, möglicherweise nationaler Mythen ging es dem international gefragten Kenzo Tange dabei keineswegs: Mit seinem Projekt der Erweiterung Tokios in die Meeresbucht hinaus reagierte er 1960 auf Infrastrukturprobleme einer aus allen Nähten platzenden Millionenmetropole. Riesige, im Meer verankerte Betonplatten waren die Grundlage dieser Planung, die der Architekt mit der Metapher einer "Brücken-Stadt" für jedermann anschaulich machen wollte. Architekturtheoretiker sehen darin Tanges Nähe zu den sogenannten "Metabolisten": In dieser Gruppe hatten sich Architekten zusammengefunden, die meinten, die Entwicklung der Städte durch technisch aufwendige Großstrukturen einfangen und steuern zu können. Fünf Millionen Bewohner sollten die weit ins Meer hineinragenden Beton-Tragwerke von Kenzo Tange aufnehmen, sie benötigten ein gigantisches Fundament. Für die erforderlichen Erdmassen, so ein Vorschlag der Baubehörde, würde die Sprengung eines nahegelegenen Berges durch eine Atombombe sorgen. Solche Planspiele stimmten den Architekten skeptisch gegenüber der eigenen Technikeuphorie. Er entwickelte einen differenzierten Fortschrittsbegriff, etwa mit einem Vergleich, den der 2005 im Alter von 91 Jahren in Tokio gestorbene Träger des renommierten Pritzker-Preises mit abgeklärter Altersweisheit anstellte:

    "Die Stadtbürger gleichen Elektronen, die durch ein elektrisches Gehirn strömen. Ohne diese Beweglichkeit stirbt die Stadt. Andererseits wird in Zehnmillionenstädten, die den Kern der heutigen Zivilisation bilden, die Raumordnung durch Geschwindigkeit zerstört."

    Dass moderne Stadtplanung Beweglichkeit braucht, vor allem geistige Beweglichkeit, die man nicht mit einförmiger Geschwindigkeit verwechseln darf, das stellte Kenzo Tange nach dem großen Erdbeben von 1963 im jugoslawischen Skopje unter Beweis: Im Auftrag der UNO plante er den Wiederaufbau einer modernen Stadt, deren Wohnviertel von einer historischen "Stadtmauer" umschlossen sein sollten, in der "Stadttore" die Orientierung erleichtern würden. Aber dieses Projekt einer pragmatischen Konfrontation, einer kompromisslosen Versöhnung von Tradition und Moderne blieb Stückwerk – und ist heute vergessen.