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Architektur-Forschung
Jüdisches Kulturerbe bewahren

Hunderte Synagogen in Deutschland und Europa sind im Nationalsozialismus zerstört worden. Aber auch jüdische Gebäude, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch existierten, verfielen oft oder wurden umgenutzt und vergessen. Forscher in Braunschweig wollen verhindern, dass diese jüdische Architektur gänzlich verloren geht: Sie dokumentieren die Gebäude und bauen sie in Modellen nach.

Von Christian Röther | 01.06.2017
    Ulrich Knufinke, Katrin Keßler und Alexander von Kienlin von der Bet-Tfila-Forschungsstelle neben dem Modell einer Synagoge. (Bild: Christian Röther)
    Ulrich Knufinke, Katrin Keßler und Alexander von Kienlin wollen jüdische Architektur vor dem Vergessen bewahren (Christian Röther)
    "Die Bet-Tfila-Forschungsstelle kümmert sich seit über 20 Jahren um die Reste jüdischer Architektur in Europa. Und ich würde mal sagen, das dahinterstehende Interesse ist die Bewahrung des jüdischen Kulturerbes - soweit es heute überhaupt noch besteht."
    Alexander von Kienlin ist Professor für Baugeschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Er leitet dort auch die "Bet-Tfila-Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa". Sie kooperiert mit der Hebrew University in Jerusalem. Ihr Ziel ist es, jüdische Bauwerke vor dem Vergessen zu bewahren. Viele jüdische Bauwerke wurden im Nationalsozialismus zerstört. Aber auch Gebäude, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, verfielen danach oder wurden anderweitig genutzt. Von außen sind die Gebäude zumeist nicht als "jüdisch" zu erkennen.
    "Über lange Zeiträume tun wir uns schwer, ein jüdisches Gebäude als solches anhand seiner äußeren Erscheinung zu klassifizieren, weil in der Regel nur die Funktionen eigentlich auf das jüdische Leben darin Rückschlüsse geben. Das fängt schon in der römischen Zeit an.
    Wir können in den meisten Fällen - zumindest bis ins 19. Jahrhundert - nicht sagen, dass eine jüdische Architektursprache im eigentlichen Sinne entwickelt wurde."
    Früher Synagoge, heute Wohnhaus
    Oft sollten Gebäude von religiösen und ethnischen Minderheiten in Europa von außen nicht identifizierbar sein. Das gilt auch für das Judentum: Repräsentative Gebäude sind die Ausnahme. Die Braunschweiger Forscher beschäftigen sich deshalb vor allem mit kleinen Gebäuden für kleine Gemeinden - intakte Gebäude, zerstörte Gebäude, umgebaute oder umgenutzte. Wo früher gebetet wurde, ist heute vielleicht ein Geschäft oder eine Wohnung. Da müssen die Forscher also genau hinschauen, erklärt Ulrich Knufinke, Mitarbeiter der Forschungsstelle:
    "Weil viele dieser Bauwerke auf den ersten Blick eben nicht das ganz große architekturhistorische Interesse erregen - vor allem, wenn man sich eben ein Gebäude des 19. Jahrhunderts anschaut, das mehrfach umgebaut ist, heute überhaupt nichts mehr von seiner einstigen Funktion preisgibt erst mal. Da muss man eben wirklich sehr intensiv dokumentieren und untersuchen, bis man eben auf diesen Kern, auf diese Synagogenfunktion - die manchmal ja auch nur eine kurze Phase in der Geschichte des Bauwerks darstellt - auch wirklich kommt."
    "Sehr stolz auf dieses Gebäude"
    Etwa einhundert Gebäude haben die Forscher bislang dokumentiert. Der hebräische Name der Forschungsstelle, Bet Tfila, bedeutet zu Deutsch "Haus des Gebets". Die Forscher erfassen allerdings nicht nur Synagogen, sondern auch Ritualbäder und Friedhofsgebäude, erklärt Katrin Keßler, ebenfalls Mitarbeiterin der Forschungsstelle.
    "Studenten sind zu den Gebäuden gefahren, haben sie ausgemessen und in ihrem ursprünglichen Zustand rekonstruiert. In den meisten Fällen ist es so, dass die Bewohner schon um die Geschichte ihres Gebäudes wissen. Häufig sind sie dann auch sehr stolz auf dieses Gebäude - dass sie so ein besonderes Gebäude haben - und sind sehr interessiert an der Geschichte und fragen dann die Studenten, was sie aus diesem Gebäude jetzt lernen können."
    "Architektur ist nun mal etwas, das mit Raum zu tun hat"
    Die Gebäude sind in einem Zeitraum von vielen Jahrhunderten entstanden - von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Die meisten befinden sich in Deutschland, aber die Forscher suchen auch im europäischen Ausland. So wurden etwa 20 ehemalige Synagogen in Sibirien dokumentiert - die wohl bald verfallen sein werden, vermuten die Forscher. Studierende der Architektur bauen die Gebäude dann in Braunschweig nach - im Maßstab 1:50. So wird jüdische Architektur sichtbar und erlebbar, sagt Ulrich Knufinke.
    "Wir sehen das auch bei Ausstellungen immer wieder, dass die Leute sehr gerne die Modelle auch anfassen möchten. Was sie nicht sollen, aber eigentlich ist es das natürliche Bedürfnis, sich diese Dinge im Dreidimensionalen anzueignen. Architektur ist nun mal etwas, das mit Raum zu tun hat. Insofern ist das räumliche Modell auch die beste Variante, sie zu repräsentieren."
    Ein Synagogen-Modell im Städtischen Museum Seesen. (Bild: Christian Röther)
    Ein Synagogen-Modell im Städtischen Museum Seesen. (Christian Röther)
    Eine spezifische Synagogen-Architektur entwickelt sich in Deutschland vor rund 200 Jahren. Auf das Zeitalter der Aufklärung folgt die gesellschaftliche Emanzipation der Jüdinnen und Juden. Vielerorts können sie ihre Plätze an den Rändern der Gesellschaft verlassen, die ihnen über Jahrhunderte zugewiesen worden waren. Diese Entwicklung schlägt sich auch in der Architektur nieder.
    "Ein jüdisches Gebetshaus ist ein ganz selbstverständlicher Teil der Stadt"
    "Es wurde dann immer mehr danach gesucht, im Stadtbild repräsentativ vertreten zu sein und zu zeigen: Auch ein jüdisches Gebetshaus ist ein ganz selbstverständlicher Teil der Stadt - und der Stadtgesellschaft damit auch", sagt Ulrich Knufinke.
    Vor rund 200 Jahren entsteht in verschiedenen deutschen Städten auch das liberale Judentum - auch progressives Judentum genannt oder Reformjudentum. Es löst sich von den strengen Vorschriften des orthodoxen Judentums und führt beispielsweise Gottesdienste in der Landessprache ein. Die Neuerungen zeigen sich auch in der Architektur. Zwar nicht in der Außenansicht der Gebäude, erklärt Katrin Keßler, aber:
    "Man kann ganz deutliche Unterschiede zwischen orthodoxen und liberalen Synagogen im Innenraum des Gebäudes feststellen. Zum Beispiel war in der liberalen Synagoge häufig die Frauenempore unvergittert. Das Lesepult war nach Osten verschoben. Und in manchen Synagogen gab es dann sogar eine Orgel."
    "Darf denn eine Synagoge an dieser Stelle stehen?"
    So lässt sich, anhand von Architektur, die Geschichte des Judentums in Europa erzählen. Und erforschen. Die Forschungsstelle Bet Tfila liefert darüber hinaus gesellschaftliche Erkenntnisse, sagt Ulrich Knufinke. Der Umgang mit jüdischer Architektur sei exemplarisch für den Umgang mit Minderheiten in Europa:
    "Diskussionen, wie sie heute zum Beispiel um Moschee-Neubauten geführt werden, wurden - auf anderen medialen Ebenen - auch im 19. Jahrhundert um Synagogen geführt. Dass auch dort überlegt wurde: Darf denn eine Synagoge an dieser Stelle stehen? Darf sie überhaupt sichtbar sein? Muss sie nicht doch wieder hinter einem Vorderhaus verschwinden? Und ähnliche Diskussionen führen wir ja heute auch wieder. Und auch da die Frage: Muss eine Moschee einen europäischen Islam repräsentieren - oder muss sie einem traditionellen Bauwerk entsprechen?"