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Argentinien
Keine Gerechtigkeit für die Terroropfer von 1994

Es war der schwerste Bombenanschlag in der argentinischen Geschichte. Am 18. Juli 1994 wurden vor dem jüdischen Gemeinschaftszentrum AMIA in Buenos Aires 85 Menschen getötet. Bis heute sind die Hintergründe nicht vollständig aufgeklärt. Das belastet die Angehörigen, die vergeblich Gerechtigkeit fordern.

Von Victoria Eglau | 18.07.2019
Die Vornamen der 85 Anschlagsopfer vor dem neuen AMIA-Gebäude
85 Menschen starben als am 18. Juli 1994 eine Bombe explodierte. Ihre Vornamen sind vor dem neuen AMIA-Gebäude auf Tafeln aufgehängt. (Deutschlandradio/V. Eglau)
Buenos Aires, 18. Juli 1994, ein Montag. Als um 9:53 Uhr vor dem jüdischen Gemeinschaftszentrum AMIA mindestens 300 Kilo Sprengstoff explodieren, verwandelt sich die Pasteur-Straße im Stadtviertel Once in ein Inferno. Zwischen den Trümmern des Gebäudes liegen Tote und Verletzte. Geschockte Rettungskräfte machen sich an die Arbeit, und Angehörige von Menschen, die an jenem Morgen in der jüdischen Einrichtung waren, versuchen verzweifelt, sie anzurufen.
"Meine Schwester Noemí Reisfeld war Sozialarbeiterin, sie arbeitete in der AMIA. Am Tag des Attentats hätte sie eigentlich freigehabt, aber war für eine Kollegin eingesprungen. Erst nach sechs Tagen wurde ihre Leiche gefunden."
... erinnert sich die Argentinierin Adriana Reisfeld an die Ungewissheit jener entsetzlichen Tage vor 25 Jahren, die ihr Leben komplett veränderten. Gemeinsam mit anderen Angehörigen von Attentats-Opfern begann sie, für die Aufklärung zu kämpfen. Es entstand die Gruppe "Memoria Activa", "Aktive Erinnerung", der auch Unterstützer und Freunde angehören.
Adriana Reisfeld
Adriana Reisfeld verlor ihre Schwester bei dem Anschlag (Deutschlandradio/V. Eglau)
"Immer montags haben wir uns vor dem Justizpalast versammelt. Zehn Jahre haben wir dort jeden Montag gestanden – zuerst schweigend und dann protestierend – und Gerechtigkeit gefordert."
Bis heute wurde keiner der Verantwortlichen bestraft
Wenn heute, wie jedes Jahr am 18. Juli, ein durchdringender Sirenenton die Bewohner von Buenos Aires an das Attentat erinnern wird, wird ein Teil der Familien der Opfer am offiziellen Gedenkakt vor dem neuerbauten AMIA-Gebäude teilnehmen. Aber "Memoria Activa" wird dort stehen, wo die Gruppe immer stand, vor dem Justizpalast, und die Straflosigkeit anprangern. Denn der Angriff auf das jüdische Zentrum ist bis heute nicht aufgeklärt, keiner der Verantwortlichen wurde bestraft. Zwar haben sich die Angehörigen wegen politischer Differenzen in verschiedene Gruppen gespalten, doch die Empörung über die Justiz teilen fast alle.
"Damals, in den Monaten nach dem Attentat, merkten wir, dass die Ermittlungen nicht vorankamen. Und dass es Unregelmäßigkeiten von Seiten des Richters gab."
… blickt Adriana Reisfeld zurück. Was anfangs nur wenige zu kritisieren wagten, ist längst bewiesen: Bei den Ermittlungen nach dem Anschlag gab es ein großangelegtes Vertuschungsmanöver. Justiz und Geheimdienst verschleierten den wahren Hergang und konstruierten eine falsche Fährte. Ein argentinisches Bundesgericht hat deshalb im vergangenen Februar den damaligen Richter und den Ex-Geheimdienstchef zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Horacio Lutzky ist Jurist und Journalist, er arbeitete in den 90er-Jahren für jüdische Medien und war einer der ersten, der über die skandalösen Vorgänge berichtete.
"Auf Anweisung ihres Chefs zahlten Geheimdienstagenten einem Angeklagten fast eine halbe Million Dollar dafür, zu lügen und Personen zu beschuldigen, die mit dem Anschlag nichts zu tun hatten. Der Richter nahm an dem Deal teil. Dadurch gingen zehn Jahre Ermittlungszeit verloren."
Wichtiges Beweismaterial wurde vernichtet
In dem Prozess, der kürzlich mit der Verurteilung von Richter und Geheimdienstchef endete, war auch Argentiniens Ex-Präsident Carlos Menem angeklagt, wurde aber freigesprochen. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war er mitverantwortlich für die Verschleierung. Davon ist auch Journalist Horacio Lutzky überzeugt:
"Die sogenannte syrische Fährte war in den Tagen nach dem Attentat die stärkste, und sie führte direkt zu Personen aus Menems Umfeld."
Die syrische Fährte gibt es nicht mehr, wichtiges Beweismaterial wurde vernichtet und die Ermittler machen seit Jahren ausschließlich iranische Funktionäre und die Hisbollah-Miliz für das Attentat verantwortlich. Gegen die Iraner laufen Interpol-Haftbefehle, denen Teheran nicht nachkommt.
"Sicher hatte Iran etwas mit dem Anschlag zu tun. Iran hatte ein klares Interesse daran, dass die Massaker in der AMIA und der israelischen Botschaft in Buenos Aires stattfanden. Ich denke, Iraner, Syrer und lokale Komplizen haben zusammengearbeitet."
Horacio Lutzky weist auf die geopolitischen Umstände der 90er-Jahre hin, die nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern Argentinien als Land zum Terrorziel gemacht hätten: Vor allem die Verstrickung der Regierung Menem in den internationalen Waffenhandel. Hart geht Lutzky mit der politischen Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien ins Gericht: Nach dem Attentat habe ihr damaliger Vorsitzender die Vertuschung gebilligt. Obwohl ihm das auch die Staatsanwaltschaft vorwarf, wurde Rubén Beraja in diesem Jahr freigesprochen. Adriana Reisfeld, Schwester der getöteten Noemí, fühlt sich von den jüdischen Institutionen nicht mehr vertreten und vom argentinischen Staat verraten:
"Alle Regierungen hatten die Verantwortung, zur Aufklärung beizutragen, und keine hat es getan: Weder Menem, noch die Kirchners, noch Macri. Aber wir wollen wissen, was passiert ist. Diese Beharrlichkeit bin ich meiner Schwester schuldig."