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Argentiniens unbewältigte Vergangenheit

Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass der argentinische Diktator Galtieri die Inselgruppe der Malwinen im Südatlantik besetzte und damit Großbritannien herausforderte. Der Konflikt um die Falkland-Inseln endete mit einer militärischen Niederlage Argentiniens. Zurückblieben traumatisierte junge Menschen, die bis heute mit ihren Kriegserlebnissen nicht klarkommen und erst jetzt wagen, ihre Rechte geltend zu machen.

Von Peter B. Schumann | 01.04.2006
    Ein Spielfilm bewegt in diesen Tagen viele Argentinier: Iluminados por el fuego/ Vom Feuer erleuchtet heißt das mehrfach ausgezeichnete Werk von Tristán Bauer. Es beschreibt den Selbstmord eines Veteranen rund zwanzig Jahre nach dem Krieg, die Erinnerungen seines Freundes an die 52 schrecklichsten Tage seines Lebens und dessen Rückkehr an die Schauplätze auf den Malwinen-Inseln.

    Zugrunde liegt ihm das gleichnamige Buch von Edgardo Esteban: Zeugnisse eines Soldaten, der auf den Malwinen kämpfte – so der Untertitel.

    "Es hat mir geholfen, mich vom Inferno dieses Krieges, des Todes, des Blutes und des Schmerzes zu befreien" – berichtet der Autor. "Es hat viel Unmut erzeugt, denn es entlarvt die Unmenschlichkeit, die Erniedrigungen, die die argentinischen Offiziere an ihren Soldaten verübten. Die Armee hat es als eine heftige Attacke begriffen. Aber ich wollte nur meine eigene Geschichte erzählen: meine Sicht von dem Krieg, der so furchtbar ungerecht war gegenüber diesen jungen Menschen, die erst schießen und töten gelernt haben, als sie bereits kämpften."

    Die "chicos", die Jungen, die damals 18 oder 19 Jahre alt waren, sind heute Anfang 40 und nennen sich "Kriegsveteranen". Am vergangenen Montag haben sie sich getroffen und von der Regierung endlich energische Schritte zur Lösung ihrer Probleme verlangt. Denn im Januar und Februar haben wieder acht ihrer Kameraden aus Verzweiflung den Freitod gewählt. Insgesamt nahmen sich damit seit Kriegsende 454 Malwinen-Kämpfer das Leben. Ihre Zahl übersteigt bei weitem die der unmittelbar im Kampf Gefallenen.

    "Sie haben uns bis heute die vier grundsätzlichen Dinge vorenthalten, die 'Helden' erwarten dürfen, wie man uns anfangs nannte: medizinische Versorgung, psychologische Behandlung, denn wir kamen alle traumatisiert zurück; außerdem Arbeitsmöglichkeiten und schließlich einen Kredit, um wieder ins normale Leben zurückzufinden. Aber wir erhielten nichts von allem."
    Die Regierung Kirchner hat endlich als erste eine Kommission gebildet, um die Forderungen der Veteranen zu prüfen. Nur zu Ergebnissen ist sie bisher nicht gekommen. Deshalb haben die ehemaligen Malwinen-Kämpfer ihr nun bis zum morgigen Sonntag, dem 25. Jahrestag des Beginns der argentinischen Invasion, eine Frist gesetzt. Verstreicht sie, werden sie am Montag im Sternmarsch zur Casa Rosada, dem Regierungssitz, ziehen, denn die Selbstmorde müssen endlich verhindert werden.

    "Aber nicht nur die Regierung, auch die Gesellschaft hat sich nicht um uns gekümmert. Argentinien hat den Krieg wie eine Reality-Show erlebt, wie ein Fußballspiel im Fernsehen. Wenn wir gewonnen, das Ziel der Militärs erreicht hätten, dann wären wir wie Maradonas gefeiert worden. Doch wir wurden geschlagen, und seither behandelt man uns wie die großen Verlierer. Dabei waren die Militärs dafür verantwortlich."
    Edgardo Esteban hatte Glück. Er wurde von seiner Familie betreut und fand rasch bei einem Radiosender Arbeit als Journalist. Ganz anders ist es Miguel Angel ergangen. Er war so schwer traumatisiert, dass er ins Hospital Borda eingewiesen wurde, in die größte argentinische Nervenheilanstalt für Männer in Buenos Aires.

    "Ich kam von den Inseln mit einer heftigen Nervenkrise zurück, denn ich wurde in einen Krieg geschickt, ohne zu wissen, was das bedeutet" – so erzählt er. "Ich war 19 und hatte – wie wir alle – keine Ahnung von Waffen. Dann standen wir vor einem übermächtigen, bestens ausgerüsteten Feind mit unseren völlig veralteten Gewehren. Und dann kam es zur direkten Konfrontation mit den ausländischen Söldnern der Engländer, mit Berufskillern, die schon viele Schlachten hinter sich hatten."
    Im Hospital Borda verbrachte Miguel Angel 14 Jahre, bis er einigermaßen geheilt wieder ein normales Leben führen konnte. Inzwischen ist er verheiratet und stolz darauf, der "offizielle Moderator" von La Colifata zu sein, einem Radioprogramm von und für psychisch Kranke, das jeden Samstag aus dem Garten der Anstalt gesendet wird. Seine jahrelange Mitwirkung hat wesentlich zu seiner Genesung beigetragen.

    "Es ist ein therapeutisches Radio" – so Miguel Angel, der es mitbegründet hat. "Es hilft Personen mit psychischen Schwierigkeiten und besonders all jenen, die sich einsam fühlen, die sonst niemanden haben, der sich um sie kümmert… Es lenkt sie davon ab, an Dummheiten zu denken, es unterhält sie und heitert sie auf."
    Und trotzdem leidet er seit damals, seit 25 Jahren, an schweren Schlafstörungen – so wie drei Viertel der Kriegsveteranen. Ein Viertel von ihnen hat schon einmal an Selbstmord gedacht, und zehn Prozent haben sogar einen Suicide-Versuch hinter sich. Diese Zahlen hat das "Zentrum ehemaliger Malwinen-Kämpfer" ermittelt. Wie auch diese von den 60 Prozent, die keine regelmäßige Arbeit gefunden haben in einem Land, in dem es offiziell nur 15 Prozent Arbeitlose gibt.

    "Ich habe bereits als 18-Jähriger lernen müssen, mit dem Tod zu leben – eine Bürde, die ich mein ganzes Leben lang nicht loswerde" – so Edgardo Esteban. "Viele von uns hatten erst zwanzig Tage zuvor den Wehrdienst angetreten, und im Flugzeug zu den Malwinen erklärten uns die Offiziere, wie eine Waffe funktioniert. Sie sagten uns auch, wir würden bald zurück sein, denn die Engländer würden nicht eingreifen. Deshalb war auch nichts vorbereitet: wir hatten keinerlei feste Unterkünfte, sondern vegetierten 50 Tage lang in Erdlöchern, voller Wasser, bei furchtbarer Kälte. Wir waren besiegt, noch bevor der Kampf begann. Und dann bombardierten uns die Engländer von ihren Schiffen aus jede Nacht."
    Damals hatten die jungen Soldaten keine Ahnung. Heute wissen sie jedoch, worum es wirklich in diesem Krieg ging: um den Versuch der Militärjunta, ihre Macht zu sichern. Noch einmal war es General Galtieri gelungen, die Massen für ein altes nationalistisches Projekt zu mobilisieren: die Rückeroberung eines nahezu bedeutungslosen Archipels, auf dem ein paar Hundert Engländer damals von Schafzucht und Fischfang lebten. Doch was als glorreicher Sieg geplant war, geriet zum Ende der Diktatur.

    "Die gleichen Leute" – so Edgardo Esteban, "die am 2. April auf der Plaza de Mayo Galtieri noch applaudiert hatten…, wollten am 14. Juni, dem Kriegsende, die Casa Rosada stürmen. Die Niederlage auf den Malwinen-Inseln diente den Argentiniern schließlich dazu, die Demokratie wiederherzustellen… Wenn wir den Krieg auch nur teilweise gewonnen hätten, dann wäre Galtieri noch lange an der Macht geblieben."