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Argentinischer Buchmarkt

Die Alphabetisierungsrate liegt bei 97 Prozent und die Dichte der Buchhandlungen ist enorm. Auch deswegen verfügt Argentinien über die am weitesten entwickelte und spezialisierte Verlagsindustrie Lateinamerikas.

Von Victoria Eglau | 04.10.2010
    Buenos Aires ist nicht nur die Stadt des Tango, sondern auch die Stadt der Buchhandlungen: In der quirligen Avenida Corrientes in der Altstadt reiht sich ein Buchladen an den nächsten, in ganz Argentinien kommt eine Buchhandlung auf 20.000 Einwohner. Diese enorme Dichte und nicht zuletzt eine Alphabetisierungsrate von über 97 Prozent verschafft Argentinien die am weitesten entwickelte und spezialisierte Verlagsindustrie im südlichen Lateinamerika: Bevor die weltweite Finanzkrise auch über Argentinien hereinbrach, brachten es die dortigen Verlage auf einen Umsatz von beeindruckenden 600 Millionen Dollar pro Jahr. Neben Belletristik behauptet sich auch politische Literatur auf den Büchertischen.

    Eine Buchhandlung im Zentrum der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires: Gut sichtbar in den Regalen stehen einige Bücher, auf deren Einbänden Fotos von Politikern prangen. El Dueno ist in fetten, reißerischen Lettern auf einem Cover zu lesen, Der Besitzer. Darunter, kleiner gedruckt: Die geheime Geschichte von Nestor Kirchner: dem Mann, der die öffentlichen und privaten Geschäfte Argentiniens lenkt.

    Hernán Moreno: ""Über den umstrittenen Ex-Präsidenten Kirchner ist am meisten geschrieben worden. Es gibt auch ein neues Buch über Mauricio Macri, den Bürgermeister von Buenos Aires. Und eine Biografie unserer Präsidentin Cristina Kirchner, die sich gut verkauft. Sie heißt "Cristina - von der kämpferischen Parlamentarierin zur modischen Präsidentin". All diese politischen Bücher gehen sehr gut.""

    Berichtet Hernán Moreno, Filialleiter der Buchladen-Kette Cuspide. Die meisten der Druckerzeugnisse über Politiker sind mit kritischem, oft auch anprangerndem Unterton verfasst - und versprechen, bisher Unbekanntes zu enthüllen. Das tun sie meist nicht, urteilt Carlos de Santos, Präsident der Argentinischen Kammer des Buches. Er bestätigt, dass politische und soziologische Literatur einen großen Markt in seinem Land hat - viel größer etwa als in Spanien, wo die Belletristik wichtiger sei. Begonnen habe der Boom der politischen Bücher in Argentinien nach dem Ende der Militärdiktatur 1983, sagt Verleger de Santos:

    "Besonders viele Veröffentlichungen gibt es über historische Themen, und sie finden reißenden Absatz. Jüngere Geschichte, entferntere Geschichte, Neu-Interpretationen der Geschichte. Diese Bücher haben politischen Charakter. Im Unterschied zu Europa, wo historische Bücher vor allem Akademiker interessieren, werden sie hier als Ersatz für politische Bücher gelesen. Denn die Geschichte wird als politisches Kampfinstrument missbraucht. Es werden Schuldige gesucht statt Ursachen, und es gibt sehr wenige strukturelle Analysen. Die Geschichte wird ideologisiert."

    Sowohl das Schreiben als auch das Lesen gewisser Bücher werde somit zu einer politischen Handlung, meint de Santos. Bei einem Rundgang durch die Buchhandlung Cuspide in Buenos Aires fällt die große Zahl von Neuerscheinungen über die Zeit der siebziger Jahre auf, in denen Argentinien von Gewaltaktionen linker Gruppen und der Gegengewalt des Staates erschüttert wurde. Auf Platz Eins der Bestsellerliste steht zur Zeit das Buch Operación Primicia von Ceferino Reato - über den bewaffneten Überfall der Guerilla-Organisation Montoneros auf eine Kaserne im Jahr 1975. Ein weiteres Beispiel: eine Untersuchung über Montoneros und den Katholizismus, die Buch-Kammer-Präsident Carlos de Santos kürzlich in seinem Verlag Editorial Manantial herausgebracht hat:

    "Die Barbarei der Diktatur, die mit dem Putsch 1976 begann, verdeckte lange Zeit vorangegangene Aktionen, die nicht hätten verübt werden dürfen, und schwerwiegende politische Irrtümer. Denn die Verbrechen der Militärs ließen ein Täter-Opfer-Schema entstehen. Ohne Zweifel haben die Opfer und das ganze Land sehr unter der Diktatur gelitten. Doch jetzt wird angefangen, über die Zeit vor dem Putsch zu diskutieren. Das ist eine wichtige Phase der Analyse unserer jüngsten Vergangenheit."

    Traditionell steht in den Regalen der Buchläden eine Vielzahl von Abhandlungen über den Peronismus - die in Argentinien wichtigste politische Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts. Bis heute prägt der Peronismus, ein Sammelbecken unterschiedlicher Strömungen, die argentinische Politik. Er kann als eine Spielart lateinamerikanischen Populismus’ betrachtet werden. Verleger Carlos de Santos macht in der aktuellen politischen Literatur Argentiniens den Beginn einer Populismus-Debatte aus:

    "Die politische Theorie hat den Populismus immer kritisiert, und auch, dass diese Region sehr zum Populismus neigt. Aber zur Zeit verschaffen sich Stimmen Gehör, die den Populismus als einen möglichen oder sogar notwendigen Weg zur Entwicklung verteidigen. Darüber wird jetzt debattiert."