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Ariel Dorfman: Den Terror bezwingen. Der lange Schatten General Pinochets

Oh, mein Gott. Nicht er schon wieder. Nicht Pinochet. Niemals. Pinochet? Pinochet? Pinochet machte mich krank.

FRANZISKA GLATT | 20.10.2003
    25 Jahre Pinochet. 25 Jahre Schreckensnachrichten. 25 Jahre schreibt der chilenische Schriftsteller, Journalist und Menschenrechtler Ariel Dorfman gegen Diktatur, Terror, Folter und das Verschwinden. In Form von Essays, Theaterstücken, Gedichten, Zeitungsartikeln, Prosa. Am 16. Oktober 1998 dann die Sensation: Der spanische Richter Baltasar Garzón lässt Augusto Pinochet per internationalen Haftbefehl von Scotland Yard in London verhaften. Die Anklage lautet auf Völkermord. Das darauffolgende juristische Gezerre um den Ex-Diktator bildet den roten Faden in Dorfmans jüngstem Buch ''Den Terror bezwingen. Der lange Schatten General Pinochets''.

    Trotz meiner Ungeduld bin ich mir im Klaren darüber, dass dieser Prozess gegen Pinochet nicht einfach und schnell zu führen sein wird. Der Mann kann sich jeden nur möglichen Rechtsbeistand leisten, so wie er jedem zustehen sollte, einen Beistand, den er seinen Opfern verweigerte. Niemand wird seine Töchter vergewaltigen, um ein Geständnis von ihm zu erpressen, ihm die Augen ausstechen, um sicher zu gehen, dass er die Schergen nicht erkennt, ihn fünfzig Tage und Nächte lang an den Händen aufhängen, bis er um Gnade bettelt, ihm den Mund zukleben und ihm die Zähne ausschlagen, damit er sich nicht mit eigenen Worten verteidigen kann.

    Akribisch verfolgt der Autor die verschiedenen Schritte der jeweiligen Parteien. Eine Auslieferung wird erst möglich, wenn die Frage der diplomatischen Immunität geklärt ist. Ungewiss ist ebenfalls, welche Verbrechen dem berüchtigtsten Diktator Südamerikas überhaupt noch zur Last gelegt werden können. Auch politisch ist die Festnahme umstritten: Spaniens Regierung fürchtet finanzielle Einbußen durch ihren übereifrigen Richter Garzón. England pflegt traditionell über gute Rüstungskontakte zum chilenischen Militär. Drei Jahre später ist der Fall Pinochet entschieden, doch Ariel Dorfman nimmt trotz des bekannten Ausgangs nichts vorweg, sondern führt mitten hinein.

    Eher ein Experte der Fiktion als des Rechts sitze ich hier oben in diesem Sitzungssaal, den ich bislang nur aus Filmen kenne: dieser samtrote Plüschvorhang vor den dunklen Holzbänken, diese weiß gepuderten Perücken und wallenden Roben. All dies trägt zu der unwirklichen Atmosphäre bei. Als nächster spricht Lord Goff, der deutlich Stellung bezieht. Dann kommt Lord Hope of Craighead. Worüber redet der eigentlich? Die Dinge werden noch unübersichtlicher durch Lord Hutton, der nächste, der sich erhebt. Lord Saville of Newgate stimmt mit Lord Browne-Wilkinson überein. Halt. Was hatte Lord Browne-Wilkinson noch gesagt?

    Dorfman schreibt plastisch und nimmt den Leser an die Hand. Er liest sich durch Verhandlungsprotokolle und Anklageschriften, ohne dabei ins juristisch Trockene zu gleiten. Kapitel gibt es nicht. Das Buch wirkt vielmehr wie ein 180 Seiten starkes Essay. Betont subjektiv die Perspektive. Fakten stehen neben autobiographischen Passagen, historischen Erklärungen, theoretischen Betrachtungen, reportagehaften Schilderungen oder kleinen Dialogen. Schriftbildlich abgesetzt sind Erzählungen von Begegnungen mit dem Diktator. Schicksalsberichte chilenischer Opfer und direkte Ansprachen an den Feind.

    Glauben Sie mir, General: Ihre Verhaftung in London ist das Beste, was Ihnen passieren konnte. Sie glauben an Gott, General, ein Trost, den ich mir selbst nicht gestattet habe, aber Sie könnten deshalb in der Lage sein zu erkennen, was Ihr weiser und mitfühlender und strenger Herrgott Ihnen am Ende Ihres Lebens angeboten hat: Die Chance zu bereuen. In den blutigen Kreis ihrer Verbrechen einzudringen und um Vergebung zu bitten.

    Persönlich ist der Schriftsteller dem Diktator nie begegnet. Allerdings prägen besonders zwei Erlebnisse seine Sichtweise auf ihn. Das flüchtige Winken einer weißbehandschuhten Hand aus einem schnell vorbeifahrenden Auto und eine kurze telephonische Verbindung im August 1973. Wirtschaftliche Probleme verbreiten Unruhe im Land. Die Stimmung gegen den demokratisch gewählten, amtierenden sozialistischen Salvador Allende wächst. Ariel Dorfman arbeitet in der Zeit als inoffizieller Berater für dessen Kabinettschef häufig im Regierungssitz La Moneda.

    Hier läutete an einem Nachmittag im August 1973 das Telefon. Am anderen Ende hörte ich das laute Knurren des General Augusto Pinochet Ugarte, wie er sich selbst ungeduldig vorstellte. Während der letzten angespannten Wochen des chilenischen Experiments des sozialistischen Weges mit friedlichen Mitteln galt Pinochet als loyalster Militär gegenüber der demokratischen Regierung. Ich gab den Telefonhörer weiter – taub gegenüber dem, was die Stimme Pinochets verbarg, den Putsch, der bereits in seinen Gedanken stattgefunden hatte. Das war’s: Nicht mehr als ein kurzes Telefonat. Aber ich brachte Jahre damit, darüber nachzudenken, welche anderen Telefonate der General während dieser Tage geführt haben musste.

    Der chilenische Massenmörder lässt den Literaten nicht mehr los. Er verfolgt ihn in Zeitungsartikeln, Archiven, Erzählungen und Diskussionen. Ständig präsent, aber nie fassbar.

    Der ferne, alte und kranke General hat sich mehr denn je in unsere Träume und Wünsche eingeschlichen, er durchdringt unsere Gedanken, spaltet uns in einer Weise, die wir für überwunden hielten, als die Rechte und die Linke sich für die Koexistenz entschieden, damit die Demokratie nach Chile zurückkehren konnte.

    Erst die Verhaftung und die Hoffnung auf Gerechtigkeit lässt eine Vermenschlichung zu. Doch Pinochet entzieht sich der ihm zugedachten Verantwortung. Per Gutachten lassen ihn seine Anwälte für gesundheitlich nicht verhandlungsfähig erklären aufgrund seiner altersbedingten begrenzten geistigen Fähigkeiten. Der britische Innenminister bejaht und verhindert so eine Auslieferung nach Spanien. Am dritten März 2000 landet Augusto Pinochet wieder in Chile. Und noch einmal scheinen sich die Ereignisse von London zu wiederholen. Aberkennung der Immunität, Hoffnung auf Verurteilung und im Juli 2001 dann die Ablehnung eines Verfahrens wegen Beeinträchtigung geistiger Fähigkeiten.

    Bin ich deshalb so optimistisch, als ich die Nachrichten höre? Weil ich nie erwartet hatte, dass der Diktator auch nur eine einzige Nacht unter Arrest verbringen würde? Nein, es ist etwas Tieferes, was meinen Sinn für Vollendung befriedigt, mein Bedürfnis, dieses Ergebnis zu feiern, selbst wenn es nicht so perfekt ist, wie ich es mir ursprünglich vorgestellt habe. Während der Monate bin ich allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass das, was mit Pinochets hinfälligem Körper geschieht, letztendlich nicht so wichtig ist wie das, was dieser endlose Prozess bereits im Bewusstsein der Menschheit weltweit verändert hat.

    Und natürlich auch bei Ariel Dorfman. Beinah gelockert klingen die letzten Seiten. Wieviel Veränderung letztlich stattgefunden hat, bleibt abzuwarten. Trotzdem: Das Buch dokumentiert noch einmal eindringlich anhand der fast in der Versenkung verschwundenen Geschichte Chiles, wie viel möglich ist, wenn sich einige wenige dahinterklemmen. Und dass die Menschenrechte, so unpopulär sie heutzutage erscheinen, immer noch eine Chance haben.

    Der Fall Pinochet wird ein grundlegender Schritt zur Verwirklichung der Menschenrechte bleiben. Und er wird klare praktische Konsequenzen haben: Es gibt in der heutigen Welt Tausende Schurken, die das Leben ihrer Mitbürger zerstört haben, sie vergewaltigt und gefoltert haben, allein aufgrund des Auslieferungsprozesses gegen Pinochet, nicht mehr so unbeschwert ins Ausland reisen können, wie sie es in der Vergangenheit taten. Diese Verbrecher sind von jetzt an innerhalb der Grenzen ihrer Heimatländer gefangen. In diesem neuen Jahrhundert werden sie nachts nie mehr ruhig schlafen können. Jetzt sind sie an der Reihe, Angst zu haben. Das ist General Pinochets unwiderrufliches Geschenk an die Menschheit. Danke, General.

    Franziska Glatt über Ariel Dorfman: Den Terror bezwingen. Der lange Schatten General Pinochets. Aus dem Englischen von Ulrike Borchardt. Konkret Literatur Verlag Hamburg, das Paperback umfasst 191 Seiten und kostet 15 Euro.